Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
VOM ICH ZUM IHR – DER „LEBENSLAUF“ FRIEDRICH HÖLDERLINS
Schon zu Lebzeiten stellte Johann Christian Friedrich Hölderlin seine Mitmenschen vor gewisse Herausforderungen. Der Umgang mit ihm und seinen Werken galt aufgrund fortschreitender Erkankung als schwierig. Die Reaktionen seines Umfeldes gipfelten in einer Zwangsbehandlung, bei der ihm Ärzte
„die Poesie u. die Narrheit zugleich“
austreiben wollten. So jedenfalls beschrieb Zeitgenosse Gustav Schoder die bei Hölderlin angewandten Maßnahmen. Die damals als fortschrittlich geltende Therapie wirkte bis zum Tod des Dichters nach; diente aber keinesfalls der Besserung.
In einem späteren Bemühen um die richtige Diagnose kamen Literaturwissenschaftler und Psychiater zu dem Schluss, Hölderlin müsse an Schizophrenie gelitten haben. Beweise dafür sollen u.a. durch seine Arbeiten geliefert worden sein, von denen einige typische Ich-Lyrik sind; andere eine fortschreitende Ich-Auflösung verdeutlichen.
DAS ZWEIGETEILTE LEBEN
Will man diesem Ansatz folgen, ist der hier vorgestellte „Lebenslauf“ wohl der beste Beleg. Obwohl die Schizophrenie-These überwiegend auf danach entstandenen Werken fußt, lässt die
„epigrammatische Ode“
die Zwiespältigkeit ihres Verfassers bereits erahnen. Das Gedicht liegt in zwei Fassungen vor, die sich hinsichtlich Aufbau und Inhalt stark unterscheiden – aber doch eine Einheit bilden. Während die 1798-er Version nur eine Strophe umfasst und Hölderlins eigene Biografie in den Mittelpunkt stellt, besteht die zwei Jahre später entstandene Fassung aus vier Strophen und beleuchtet die allgemeine menschliche Existenz.
Beiden gemeinsam ist das Spiel mit dem Doppelsinn des griechischen Wortes „bios“. Je nach Betonung steht es für „Leben“ oder für „Bogen“ und bietet sich förmlich an, es in beiden Bedeutungen zu verwenden. Allerdings griff Hölderlin diesen Spaß nur auf, denn vor ihm hatte bereits Heraklit von Ephesos den bildhaften Vergleich zwischen dem einen und dem anderen gezogen.
ERSTE FASSUNG – EINER GEGEN DEN REST DER WELT
In der ersten Fassung seines „Lebenslaufs“ fing Hölderlin jene Situation ein, in der er sich seit 1796 befand: Als Lehrer im Hause des Frankfurter Bankiers Jakob Gontards angestellt, hatte der Dichter nicht nur die Kinder seines Brotgebers, sondern auch dessen Frau Susette kennengelernt. Die Liebe zu ihr
„zog schön ihn nieder“ (V. 2, 1. Fassung)
und bedingte, dass er die gut bezahlte Hauslehrer-Stelle aufgeben und in sein Elternhaus zurückkehren musste – also dahin
„woher ich kam“. (V. 4, 1. Fassung)
Dass Hölderlin die letzten Zeilen dieses kurzen „Lebenslaufes“ in den Präsens setzte, zeigt, wie sehr er unter dem Umstand litt. Er begriff die damit einhergehenden Emotionen als dauerhaft und glaubte, für immer in diesem Zustand verharren zu müssen. Der Kontakt zu Susette blieb auf Briefe und seltene geheime Treffen beschränkt. Nach ihrem krankheitsbedingten Tod verfasste der Dichter ein Sehnsuchtsfragment, das die schmerzschreiende Zeile
„Ach! wehe mir! Es waren schöne Tage (...)“
enthält.
ZWEITE FASSUNG – EINER FÜR ALLE
In der zweiten Fassung übertrug Hölderlin die selbst gemachte Erfahrung auf alle anderen. Dem Gedicht folgend leidet nicht mehr nur er allein, sondern die ganze Menschheit unter der Last der Liebe. Unter ihnen aber gibt es ein paar Unbeugsame, die selbst aus dieser Situation noch Positives ziehen – verdeutlicht durch das trotzig-aufbegehrende
„Doch (...) umsonst nicht“. (V. 3)
Auch Hölderlin schien den Verlust Susettes soweit verwunden zu haben, dass er sich zu ihnen zählt:
„Diß erfuhr ich“ (V. 9)
Er hatte gelernt, das Auf und Ab nichts ausschließlich Gutes und Schlechtes sind, sondern einander bereichern. In Folge befand er, dass ein jeder durch Erfahrungen
„kräftig genährt“ (V. 14)
wird, um neue Ziele in Angriff zu nehmen. Niemand solle es im Verlaufe des Lebens übel nehmen, dass die
„Himmlischen“ (V. 10, V. 13)
ihn in beiderlei Hinsicht aus dem Übervollen schöpfen lassen – denn nur so ließe sich ein Nutzen aus Höhen UND Tiefen ziehen. Für Hölderlin war dies der eigentliche Sinn des auf und ab führenden Lebenspfades bzw. -laufes.
ZEITVERSETZTE VERÖFFENTLICHUNG
Nachdem die erste Fassung des Gedichtes bereits 1799 veröffentlicht worden war, folgte die zweite erst 1826 – zu einer Zeit, als Hölderlin bereits in „Behandlung“ gewesen war und sich im Turmgemach des Tübinger Tischlers Ernst Zimmer einquartiert hatte. Initiator der Publikation war demnach nicht er selbst, sondern das Literaten-Duo Gustav Schwab und Ludwig Uhland. Sie hatten sämtliche bisher verfassten Hölderlin-Werke zusammengetragen und in Buchform drucken lassen.
Dem Verfasser war das relativ egal. Er zog sich mehr und mehr von seiner Familie und der Öffentlichkeit zurück und ließ nur noch ausgewählte Freunde an sich heran. Form und Inhalt seiner Werke wurden immer strenger bzw. allgemeiner. Darüber hinaus verfiel Hölderlin in die Gewohnheit, neu entstandene Arbeiten um Jahrzehnte vor- oder zurückzudatieren. Eine recht eigenwillige Art, den eigenen Lebenslauf zu beeinflussen – die spätere Herausgeber vor eine schier unlösbare Aufgabe stellte.
WIRKUNG DES „LEBENSLAUFES“ UND ANDERER WERKE
Doch schließlich hatte die gleichnamige Arbeit Hölderlins sie sowohl Positives als auch Negatives schätzen gelehrt. Bis heute gilt dieses Anliegen als eigentliche Aussage des Gedichtes und macht es damit zum beliebten Medium für „Kopf hoch“- und „Alles wird gut“-Grüße. Auch in anderen, kurz danach folgenden Werken vermittelte Hölderlin seinen LeserInnen genau diese Botschaft.
Dem breiten Publikum erschloss sich sein Stil nicht. Vielen galt er als bloßer Nachahmer des von ihm verehrten Schiller bzw. als Poet mit unverständlichem Ausdruck. Unter Kollegen aber genoss der zwiegespaltene Dichter durchaus Ansehen. Zu seinen größten Fans zählte Friedrich Nietzsche, dessen später einsetzender Wahn verblüffende Parallelen zu Hölderlins tatsächlichem Lebenslauf aufweist. Mit dem lyrischen hat er Kollegen wie Stefan George, Georg Trakl und Paul Celan beeinflusst. Sein Gesamtwerk genießt nach umfassender Aufarbeitung einen hohen Stellenwert innerhalb der abendländischen Literatur.