Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Kontextualisierung
Friedrich Hölderlin lebte von 1770 bis 1843 im heutigen Deutschland und erlebte u.a. die französische Revolution 1789 mit, die nicht nur ihn, sondern Gelehrte in ganz Deutschland nachhaltig prägte. Erwähnenswert ist, dass der Dichter Hölderlin die letzten 37 Jahre seines Lebens in Tübingen in dem berühmten Hölderlinturm verbracht hat, da der noch relativ junge Mann unter Nervenzusammenbrüchen litt und ab dann als wahnsinnig galt.
Der noch junge Hölderlin gehörte zum Bekanntenkreis von Schelling und Hegel (Tübinger Stift) und wird deswegen oft mit dem Deutschen Idealismus in Verbindung gebracht. Trotzdem gehört die Dichtung Hölderlins nicht zu einer bestimmten Gattung der um die Jahrhundertwende verbreiteten literarischen Strömungen (Klassik oder Romantik). Sein Werk muss eine eigenständige Stellung einnehmen, die durch seine persönlichen Erfahrungen und den in ihm immer wieder auftauchenden Gottesglauben geprägt wurden.
Wichtig zum Verständnis von Gedichten Hölderlins ist eine Differenzierung des Gottesbegriff. Der Gott Hölderlins ist kein persönlicher, vermenschlichter Gott, sondern ein alles umfassender, sinnstiftender Wirker.
Der oftmalige thematische Bezug auf die griechische Mythologie und wie in diesem Fall auf die römische Mythologie und deren Gottheiten ist als mehr oder weniger als programmatischer Zug innerhalb der Dichtung Hölderlins zu verstehen. Es existieren für Hölderlin weder der christliche Gottvater, noch glaubte er an einen enthobenen Olymp mit griechischen Gottheiten, die verschiedenartig Macht ausüben konnten. Die Namensnennung eines Gottes innerhalb eines Gedichtes darf deswegen nie als ein bloß inhaltliches Hinzufügen einer Handlungsstruktur gesehen werden, sondern der Gott steht als Metapher1 für das Unaussprechliche, für das Unnennbare, für das Göttliche.
Inhaltsangabe
Genauso muss deswegen der Titel des Gedichtes "An die Parzen", welches Hölderlin in Alter von 29 Jahren im Jahre 1799 veröffentlichte, verstanden werden. Neben der bloß inhaltlichen Ebene, in der ein Dichter eine Hymne an die Schicksalsgöttinnen der römichen Mythologie schreibt, entsteht eine übergeordnete Dimension. Das offentsichtliche und deswegen selbst-verständliche des Gedichtes ist, dass ein Dichter in der Ich-Perspektive eine Bitte an die Parzen richtet. Die Parzen sind verantwortlich für die Lebensdauer jedes einzelnen Menschen, da sie über den "Schicksalsfaden" des Menschen verfügen, und in gemeinsamer Arbeit (meist zu dritt: Nona, Decima und Morta), ihn spinnen, messen und abschneiden können.
Der Dichter bittet in der ersten von drei vier-versigen Strophen um eine Verlängerung seines Lebens um ein halbes Jahr, beziehungsweise konkreter: um einen Sommer und einen Herbst zu "reifem Gesange" (Z.2). In der zweiten und dritten Strophe geht es im groben um die Erklärung und Ausformulierung der Bitte oder um das "Warum". Der Dichter beschreibt das Leben nach dem Tod und verbindet seine Bitte um Lebensdauer mit einer Konkretisierung des Lebensinhaltes. Erfüllt ist das Leben dann, wenn dem Dichter das "Heilge" (Z. 7) gelingt: das Gedicht. Dann kann der Mensch befriedigt in das Reich der Toten übergehen, denn er lebte wenigstens einmal "wie Götter" (Z.12).
Makrostruktur
Die einzelnen Verse reimen sich nicht, was u. a. auf die formale Gestaltung der Hymne zurückzuführen ist. Der Lobgesang ist trotzdem von sehr feierlichem Ton und der Redefluss wird in keiner Weise gestört. Der Rhythmus wird verstärkt durch die häufige Verwendung von Nebensätzen hergestellt, wodurch gleichzeitig ein Spannungsbogen aufgebaut wird.
Die Silbenanzahl der einzelnen Verse ist innerhalb jeder Strophe die selbe. Der oben genannte Bogen nimmt durch die Anzahl der Silben folgende Form an: die ersten zwei Verse jeder Strophe sind 11 Silben lang, die dritte besitzt nur 9 Silben, während die jeweils letzte Strophe die Bewegung wieder aufnimmt mit einem Mittelwert von 10 Silben. Mit dieser Symmetrie zwischen den Strophen, aber auch durch inhaltliche Bezüge sowie Wiederholung von zentralen Wörtern entsteht eine natürliche Verbindung der verschiedenen Abschnitte und das Gedicht wirkt wie zusammengewachsen. Wer in Gedichten Hölderlins nach Sinnabschnitten sucht, der kann sich gleich in die Reihe eines Bertolt Brechts stellen, der die Rose zerpflückt, um sie besser zu verstehen.
Mikrostruktur
Die im Titel angesprochenen Schicksalsgöttinnen tauchen innerhalb des Gedichtes namentlich nicht noch einmal auf. Umschrieben werden sie gleich im ersten Vers des Lobgesanges mit "Ihr Gewaltigen!". Auffällig hierbei die Verwendung des Ausrufezeichens, welches wie in der Anrede eines förmlichen Briefes den Adressaten der Hymne bestimmen und in besonderer Form herausheben soll. Um bei dem römischen Götterbild zu bleiben, sei hier schon auf die zweite Strophe verwiesen, in der es um den "Orkus" (Z. 6) geht, um die römische Unterwelt. Dahinter steht die Vorstellung, dass die Seele des Menschen nach dem Tode weiterlebt, jedoch nicht mehr unter den Menschen wandeln darf, sondern mit anderen Verstorbenen im Totenreich verharren muss. Auch am Anfang der dritten Strophe wird dieses Bild der Unterwelt aufgegriffen in der bildlichen Umschreibung der "Schattenwelt" (Z. 9).
Es geht hierbei um die Verdeutlichung einer Vor- und Nachwelt oder um die Beschreibung einer Zweiteilung. Das lyrische Ich, welches sich in der zweiten Strophe als Dichter herausstellt, bittet um eine Verlängerung seines Lebens, damit es, und das ist ein zentraler Punkt, nicht ohne der Seele ihr "göttlich Recht" (Z.5) vermacht zu haben, in den Abgrund hinunter muss. Es geht demnach nicht in erster Linie um die Angst vor dem bevorstehenden Tod und die damit verbundene Sorge um die verbliebene Lebenszeit, die womöglich jeder Mensch nachvollziehen kann, sondern um eine Tat, die noch bevor die Götter (die Parzen) den Dichter in den Orkus schicken, vollbracht werden muss. Es ist diese Tat die Vollendung des Gedichtes, welches ihn zu den Göttern emporhebt und ihn wenigstens für einen Moment den Göttern gleich machen kann. Auch hier sei schon angemerkt, dass es nicht um die Erleuchtung und die endgültige Gottwerdung des Menschen geht. Dem im Gedicht beschriebenen Dichter ist bewusst, dass ihn sein Saitenspiel nicht hinunter begleiten wird (Z. 10-11), trotzdem will er, wenn die Parzen ihm den Sommer und den Herbst gönnen, "zufrieden" sein (Z. 10).
Die zeitliche Komponente ist das wohl entscheidene Faktum für das Verständnis des Gedichtes. Obwohl der Dichter darum bittet, dass ihm mehr Zeit auf Erden gegönnt wird, wird in der zweiten Strophe beschrieben, dass ihm "einst" (Z. 7) das Gedicht gelungen sei. Im vorläufigen Widerspruch dazu steht der Ausspruch der dritten Strophe, dass der Dichter nach der gelungenen Tat zufrieden sei mit seinem Schicksal, da er einmal wie Götter lebte: "mehr bedarfs nicht" (Z. 12). Warum um Zeit bitten, wenn man schon zufrieden sein könnte? Hier entsteht ein Widerspruch zur zweiten Strophe, in der ein negatives Bild beschrieben wird, um den Grund der Bitte den Adressaten der Hymne, den Parzen, darzustellen. Die Seele, "sie ruht auch drunten im Orkus nicht;" (Z. 6). Zum einen wird hier gesagt, dass die Seele ohne ihr göttliches Recht im Leben genutzt zu haben, im Orkus nicht (in Frieden) ruhen kann. Gleichzeitig wird durch das "auch" suggeriert, dass die Seele im Leben selbst ohne das "Heilge" (Z. 7) nicht ruhen kann.
Der Widerspruch ist deswegen vorläufig, weil im heutigen Sprachgebrauch das Wort "doch", welches im siebten Vers die Bedingung des gelungenen Lebens beschreibt, viel an seiner alten Bedeutung verloren hat.
Früher wurde das Wort häufig noch als ein Konditionalsatz einleitendes Wort benutzt (ähnlich dem 'wenn' oder 'falls'). Deutlich wird das durch die Verbindung des Verses mit dem Anfang der dritten Strophe: "Willkommen dann" (Z. 9).
Wie ist dies nun mit dem die Vergangenheit verkündenden Zeitwort "einst" (Z. 7) zu verstehen? Wenn das Gedicht dem Dichter einst gelungen ist, müsste er nicht um noch mehr Zeit auf Erden bitten. Er könnte zufrieden, auch ohne das Geleit des "Saitenspiels" (Z. 11), in den Orkus hinabgehen.
Entscheidend wird hier die genauere Betrachtung der ersten Strophe. Wie oben in der kurzen Inhaltsangabe beschrieben, geht es in der ersten Strophe um die Bitte um einen weiteren Sommer und einen weiteren Herbst. Nicht die Jahreszeiten selber, sondern die Jahreszeiten "zu reifem Gesange" (Z. 2) sollen dem lyrischen Ich gegönnt werden. Neben der Nennung der lebendigen (Sommer) und späten (Herbst), aber nicht der sterbenden (Winter) oder wiederbelebenden (Frühling) Phasen der Natur in den Jahreszeiten, welche in Zusammenhang mit dem Adjektiv "reif" das Bild eines gewachsenen und schon geformten (nicht im Entstehen [Frühling] oder Vergehen [Winter] begriffenen) Etwas heraufbeschwören, wird der Fokus auf das Objekt gelenkt.
Anders gesagt, der Dichter bittet nicht um eine besondere Jahres-zeit, welches in obiger Beschreibung schon angeklungen ist. Sondern er bittet um Zeit in Verbindung mit einer besonderen Tat; Zeit für die Ausübung des göttlichen Rechts der Seele und für die Schaffung des Heiligen: des Gedichts.
Als Nebenbemerkung sei hier angemerkt, dass mit dem Gesang und auch mit dem Saitenspiel (Z. 10) nicht weniger als das Gedicht selbst gemeint ist, welches vorerst durch den Hinweis auf die formale Gestaltung des Gedichtes bewiesen werden soll (Hymne).
Einen Hinweis zur oben angesprochenen Problematik der Zeitlichkeit entdecken wir in den Versen 3 und 4 der ersten Strophe:
"Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe."
Hier benutzt das lyrische Ich die Komparativform des Adjektivs "willig" und holt damit die Entwicklung und die Beruhigung der Seele in Vor- und Nachwelt mit der Dichtung in die zeitliche Ebene zurück ("willig" wäre ein abgeschlossenes Prädikat oder ein in sich geschlossener Zustand, während sich "williger" in Relation befindet und dadurch ein Vorher-Nachher suggeriert). Es geht eben nicht um die endgültige Gottwerdung des Menschen durch die Schaffung eines einzigen Gedichtes. Der Mensch muss immer wieder erneut versuchen, durch das geschriebene Wort den Göttern näher zu kommen. Der Dichter ist eben auch Mensch, was durch den Hinweis auf das Herz auch in der zweiten Strophe betont wird (Z. 8). Aber am stärksten durch das Verb "gesättiget" (Z. 4). Satt sein ist nichts Endgültiges, sondern ein Zustand, der durch wiederholten Aufwand erreicht werden muss.
Das Herz selber kann "dann" sterben. In der römischen Mythologie besitzt der Mensch nach dem Tod nur noch einen Schatten seiner Selbst, er ist nur noch Seele. Aber gerade darum wird gedichtet, damit die Seele drunten im Orkus, aber auch noch im Leben ruhen kann. Die Ruhe wird hier gleichgesetzt mit Frieden.
Wo das Wort "Herz" ein zweites Mal auftaucht, wird durch einen eingefügten Nebensatz eine Verbindung zwischen Dichten, was, wenn es gelingt, heilig ist, und dem Herz des Menschen hergestellt:
"Doch ist mir einst das Heilge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,"
Das Gedicht liegt dem lyrischen Ich am Herzen. Hiermit wird verdeutlicht, dass es das Heilige nur als ein "süßes Spiel" geben kann, gerade weil es in der Zeit stattfindet und mit ihr "durchmischt" ist.
Damit wird das Heilige nicht herabgestuft, sondern es wird als das Mächtigste, so wie es Hölderlin verstanden hat, in seinem innersten Wesen begriffen und parallel zum Inhalt des Gedichtes als Aussage dem Leser mitgeteilt. Mit anderen Worten: Hölderlin erzählt nicht nur die Geschichte von einem Dichter, der von den Schicksalsgöttinnen um Zeit bittet, um sein Herz mit dem Heiligen, was an dem Herzen liegt, zu nähren, um dann williger in das Schattenreich treten zu können. Darüberhinaus schafft Hölderlin eine Metapher des Göttlichen an sich, die in einem oberflächlichen Widerspruch zur Handlung steht, doch wie in der Philosophie seines Studienfreundes Hegels einen vorläufigen Widerspruch offenbart, der gerade zeigt, dass Zeitlichkeit und Göttlichkeit eben auch in ihrer Widersprüchlichkeit zusammenfallen können: im Gedicht.
Vermutlich kann diese These auch durch den Anfang der letzten Strophe gestützt werden. Das lyrische Ich heißt, wenn das Gedicht gelungen ist, die "Stille der Schattenwelt" (Z. 9) willkommen. Die Stille entbehrt jeglichen Gesangs. Das "süße Spiel" kann in dem Totenreich nicht mehr sättigen (Z. 3-4). Welche Mächte drunten im Orkus wirken, bleibt offen und unbeantwortet. Es wird lediglich gesagt, dass "[s]ein Saitenspiel" den Dichter nicht hinab geleiten kann (Z. 10-11). Das Gedicht kann, wie es scheint, nur bei dem Herzen gelingen.
Zusammenfassung
Nicht umsonst gilt die Dichtung Hölderlins als die am schwierigsten zu verstehende. Viel geht verloren, wenn man die Gedichte nur in Hinblick auf eine Inhaltsangabe liest. Das Wesentliche und das Wichtige findet man dort nie. "An die Parzen" ist eine Lobgesang auf die Schicksalsgöttinnen, aber gleichzeitig eine Bitte um Linderung eines Herzschmerzes. Gerade weil Herz und Seele so eng miteinander verknüpft und verwebt sind, kann das Gedicht, welches aus der gottesähnlichen Seele entspringt, das Herz zwar sättigen, aber in diesem Verb "sättigen" offenbart sich das Dilemma: Das Herz übernimmt die Oberhand und wird hungrig. Wenn es soweit ist, bleibt einem nur der bittende Gesang an die Parzen...