Autor/in: Franz Werfel Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Ich bin in eine große Stadt gekommen.
Vom Riesenbahnhof trat den Weg ich an,
Besah Museen und Plätze, habe dann
Behaglich eine Rundfahrt unternommen.
Den Straßenstrom bin ich herabgeschwommen
Und badete im Tag, der reizend rann.
Da! Schon so spät!? Ich fahre aus dem Bann.
Herrgott, mein Zug! Die Stadt ist grell erglommen.
Verwandelt alles! Tausend Auto jagen,
Und keines hält. Zweideutige Auskunft nur
Im Ohr durchkeuch´ ich das Verkehrs-Gewirre.
Der Bahnhof?! Wo?! Gespenstisch stummt mein Fragen.
Die Straßen blitzen endlos, Schnur um Schnur,
Und alle führen, alle, in die Irre.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Der rechte Weg“ wurde 1911 von dem deutschböhmischen Schriftsteller Franz Werfel veröffentlicht, welcher 1890 in Prag geboren wurde und schließlich am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 verstarb. Im Anschluss an seine 1909 mit dem Abitur abgeschlossene Schulbildung lernte er schnell einige andere Autoren wie Max Brod oder Franz Kafka kennen, da Werfel sich bereits während seiner Schulzeit ausgiebig mit der Literatur beschäftigte und auch schon zahlreiche eigene Gedichte schrieb, an welche sich später Romane, Erzählungen und Novellen anschlossen. Trotz seiner zahlreichen Werke fand Franz Werfel immer noch genügend Zeit um alleine verschiedene Reisen zu unternehmen, auch bedingt durch seine eher introvertierte Persönlichkeit, wodurch er Unternehmungen mit Freunden des öfteren mied.
Sein hier vorliegendes Werk thematisiert die ungewohnten Eindrücke eines Beobachters von einer fremden Großstadt, und so lässt sich das Werk der Epoche des Expressionismus zuordnen. Diese war geprägt von einem starken Gefühl der Orientierungslosigkeit, welche insbesondere durch die Industrialisierung in den Großstädten entstand und ihre Wirkung zeigt, wenn Bewohner von ländlichen Gegenden dorthin zu Besuch kamen. Für ein besseres Verständnis des Weltbildes zu der damaligen Zeit sind einige Erkenntnisse zum allgemeingeschichtlichen Hintergrund von großer Bedeutung: Hier sei zuallererst das Attentat 1914 auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und auf dessen Frau zu nennen. Für diese Tat machte Österreich Serbien verantwortlich, wodurch es zu einem Krieg kam, der sich wegen verschiedener Staatenbündnisse zum Ersten Weltkrieg ausweitete und schließlich 1918 mit der Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten endete.
Es besteht aus insgesamt vierzehn Versen, welche in vier Strophen mit jeweils zwei Quartetten und zwei Terzetten, de facto in dem Aufbau eines Sonetts, aufgeteilt sind. Als Reimschema lässt sich für die ersten beiden Strophen ein umarmender Reim („abba“) und für die letzten beiden Strophen ein strophenübergreifender Kreuzreim („cde“) feststellen. Für das Metrum2 wählte Franz Werfel einen fünfhebigen Jambus, welcher jedoch in einigen Versen (vgl. V. 1, 4, 5, 8, 9, 11, 12, 14) Unregelmäßigkeiten aufweist. Inhaltlich sowie im äußerlichen Aufbau ist zwischen dem achten und neunten Vers eine Zäsur3 zu erkennen: Wird zuvor noch von einem heiteren Tag berichtet, so wechselt diese Ansicht in eine Darstellung einer hektischen und unruhigen Nacht.
In dem Gedicht scheint das lyrische Ich eine Person zu sein, welche durch eine personale Perspektive sehr verblüfft von den Erlebnissen einer Großstadt zu sein scheint. Es zeigt eine erschrockene und überwältigte Haltung, die den Leserinnen und Lesern trotz eines erzählerisch beschreibenden Stils aber ziemlich nah gebracht wird, da der Dichter ausschließlich Personalpronomen4 wie z. B. „ich“ (V. 1) oder Possesivpronomen wie z. B. „mein“ (V. 8) in der ersten Person Singular verwendet.
Beginnend in der ersten Strophe erfährt die Leserschaft von den Unternehmungen des lyrischen Ichs: Es unternimmt eine „Rundfahrt“ (V. 4) durch eine große Stadt. Erste Bewunderungen über die Ausmaße des Ortes hebt Franz Werfel durch eine Inversion5 (vgl. V. 2) und durch die Hyperbel6 „Riesenbahnhof“ (V. 2) hervor. Diese Größe wirkt zu Beginn aber noch nicht bedrückend, da noch die Rede von einer „behaglich(en)“ (V. 4) Rundfahrt ist, wodurch ein insgesamt idyllisches Bild einer Großstadt porträtiert wird. Doch schon durch diese wenigen Verse wird inhaltlich deutlich, dass sich das lyrische Ich an einem ihm fremden Ort befindet, da es nach seiner Anreise am Bahnhof zunächst die bei Touristen bekannten Sehenswürdigkeiten wie Museen und berühmte Plätze aufsucht.
Auch die darauf folgende Strophe bestätigt diese Eindrücke: Das lyrische Ich lässt sich von dem „Straßenstrom“ (V. 5) leiten und gibt sich somit den Menschenmassen hin, da es alleine sicherlich orientierungslos wäre. Diese Metapher7 hebt die Überfüllung der Straßen hervor, welche charakteristisch für eine Großstadt ist, auf Bewohner von ländlicheren Regionen aber fremd wirken kann. Doch es kommt zu einer völligen Hingabe seitens des lyrischen Ichs, ausgelöst durch eine hektische Stimmung im Gedränge der Menschen, was wiederum von der Alliteration8 „(...)reizend, rann“ (V. 6) unterstrichen wird. Es wird deutlich, dass sich das lyrische Ich vollends wohl fühlt, denn es „badete (glücklich) im Tag“ (V. 6). Erst ab dem siebten Vers schwankt die Stimmung, da das lyrische Ich während seiner scheinbaren Träumerei die Uhrzeit vergessen hat und nun seinen Zug zu verpassen droht. Diese aufkommende Panik wird zudem insbesondere durch Ausrufe und eine rhetorische Frage (vgl. V. 7f.) kenntlich gemacht.
Untersucht man das Gedicht außerdem hinsichtlich seiner verwendeten Wortfelder, so fallen zwei größere Bereiche auf. Allgegenwärtig in allen Strophen dominiert das Thema Stadt (Riesenbahnhof, Museen, Plätze, Zug, Straßen, Verkehr). In der zweiten Strophe finden sich des Weiteren Attribute des Wassers (herabgeschwommen, baden, Strom) wieder.
Neben diesem Stimmungswandel kommt es inhaltlich außerdem plötzlich zu einem Übergang: Dabei weicht in der dritten Strophe die Schönheit der Stadt am Tag einem dunklen Albtraum in der Nacht. Ein derartiger Umschwung ist typisch für die Zäsur eines Sonetts zwischen dem Ende des zweiten Quartetts und dem Anfang des ersten Terzetts. Dieser Umschwung ist auch im Hinblick auf die verwendeten Adjektive zu erkennen: Verwendet Werfel noch zu Beginn des Gedichtes in den beiden Quartetten zahlreiche harmonische und positive Adjektive wie zum Beispiel „groß“ (V. 1), „behaglich“ (V. 4) und „reizend“ (V. 6), so werden die beiden Terzette bestimmt von eher Negativen wie zum Beispiel „gespenstisch“ (V. 12) und „endlos“ (V. 13).
Somit beginnt die Strophe drei mit einer hektischen und chaotischen Beschreibung des Straßenverkehrs, in dessen Mitte sich das lyrische Ich zu befinden scheint, um das „tausend Auto(s) jagen“ (Hyperbel, V. 9) und es mit akustischen Eindrücken (vgl. V. 11) überhäufen. Statt von dem „Straßenstrom“, welcher zuvor noch „herabgeschwommen“ wurde, ist nun die Rede von einem „Verkehrs- Gewirre“ (V. 11). Die Hektik wird zudem durch zahlreiche Ausrufe und Interpunktionen (vgl. V. 9ff.) hervorgehoben.
Der Höhepunkt dieser gesteigerten Verwirrung endet schließlich mit der letzten Strophe, in der die verzweifelte Suche des lyrischen Ichs nach dem Bahnhof geschildert wird, wobei sich die Suche als sehr schwierig erweist, da „die Straßen (endlos) blitzen (…), Schnur an Schnur“ (V. 13). Diese Personifikation9 in Verbindung mit einer Wortwiederholung verdeutlicht den Leserinnen und Lesern umso stärker, wie schnell eine Person seine Orientierung in einer für sie fremden Umgebung verlieren kann. Und so kommt dem lyrischen Ich nicht nur sein Ziel, der Bahnhof, sondern vielmehr auch seine eigene Person abhanden.
Es „zerfällt“ gewissermaßen durch den eigenen Wahnsinn („Ich-Zerfall“), da es sich als Opfer einer übermächtigen Umwelt erlebt, welche ihn erdrückt und ihm keine Wege zur Orientierung bietet. Um es abschließend mit den Worten des hier vorliegenden Gedichtes zu sagen, welche die Straßen der Stadt näher beschreiben: „Und alle führen, alle, in die Irre“ (V. 14).
So lässt sich als Zusammenfassung abschließend sagen, dass Franz Werfel ein für seine Lebenszeit typisches, expressionistisches Gedicht verfasste, welches sich mit der damalig sehr aktuellen Thematik der Stadtlyrik beschäftigt und inhaltlich deutlich zeigt, wie überwältigend und erdrückend, aber zugleich auch erstaunlich ein urbaner Raum auf fremde Personen wirken kann. Diese Wirkung kann sich dabei soweit steigern, dass schließlich die eigene Wahrnehmung und das Wesen einer Person zerfällt.
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