Kunstlied: Erlkönig / Opus 1, Deutsch-Verzeichnis 328 (1815)
Autor/in: Franz SchubertEpoche: Romantik
Entstanden: 1815
Publiziert: 1821
Uraufgeführt: 1821
Entstanden: 1815
Publiziert: 1821
Uraufgeführt: 1821
Musik-Analyse und Interpretation
Die Musikanalyse ähnelt der Interpretation eines Gedichts: Ziel ist es immerhin, den kompositorischen Aufbau eines musikalischen Werkes nachvollziehen zu können und zu verstehen. Wie deutet man Musik? Wie ist ein Stück zu interpretieren? Eine Analyse des formalen Aufbaus, der musikalischen Mittel und der Rhythmik gibt (teilweise) Aufschluss über die Absichten des Komponisten. Die Analyse lässt außerdem die Entscheidungen von Interpreten nachvollziehen, ein Stück so oder anders zu spielen. Dabei stehen dem Komponisten andere Mittel zur Verfügung als dem Dichter. Bei der Analyse von Musik muss man sich deshalb eines größeren Werkzeugkoffers bedienen. Die Struktur der Analyse selbst ähnelt sehr der einer Gedichtinterpretation. Man geht vom Groben ins Kleine: Man versucht eine kontextuelle Einordnung des Musikstückes. Man sucht nach größeren Sinnabschnitten, bevor man ins Detail geht und die eingesetzten musikalischen Stilmittel analysiert. Zu Überschneidungen zwischen der Gedicht- und der Musikanalyse kommt es, wenn man sich an eine Vertonung eines Gedichtes wagt. Die Vertonung kann erst verständlich gemacht werden, wenn der Sinn des Gedichts gedeutet wurde. Im Folgenden versuchen wir eine Analyse von Franz Schuberts sehr berühmten Vertonung von Johann Wolfgang Goethes Erlkönig.
Franz Schubert hat Goethes Ballade „Erlkönig“ im Jahr 1815 vertont. Es handelt sich bei der Vertonung um ein durchkomponiertes Kunstlied, d. h. ein solistisches Lied mit Instrumentalbegleitung. Im engeren Sinne verbindet man dem Begriff des durchkomponierten Kunstliedes eine Gattung für Lieder, die in Notenform tradiert werden und die anders als Arien, Oratorien oder Theaterstücke auch im Rahmen eines Liederabends aufgeführt wurden. Mit der musikalischen Gattung des durchkomponierten Kunstlieds verbindet man vor allem den Namen Franz Schuberts, der neben Goethes „Erlkönig“ zahlreiche berühmte Gedichte vertont hatte. Die Gattung ist in dieser Form nicht besonders alt. Man spricht entstehungsgeschichtlich oft vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Besonderheit des Kunstliedes ist außerdem, dass die Instrumentalbegleitung Note für Note auskomponiert ist. Oft ist das den Gesang begleitende Instrument nicht mehr nur Begleitung. Es übernimmt einen gleichgestellten Part in der Aufführung des Liedes. Jede Strophe des zu vertonenden Gedichts wird Takt für Takt durchkomponiert. Im 19. und im 20. Jahrhundert übernimmt oft das Klavier die Begleitung des Gesanges. Nicht selten hat der Pianist dabei einen sehr virtuosen Part zu übernehmen. Das Kunstlied entsteht als Gattung zeitgleich mit dem Aufkommen des modernen und heute üblichen Aufführungsrahmens für Musik: dem Konzert. Die Musik verlässt nach und nach die kirchliche Sphäre. Sie ist auch nicht mehr vornehmlich an den Höfen beheimatet. Sie wird einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Konzertsäle werden gebaut. Und auch die Entwicklung der Instrumente geht rasend voran. Die Orchester werden größer. Die Möglichkeiten der Klangdarstellung, Lautstärke und Farbe betreffend, werden um ein Vielfaches erweitert. Durch Europa touren unzählige Virtuosen und werden in den Hauptstädten gefeiert und vergöttert. Das durchkomponierte Kunstlied entsteht im Kontext dieser vielschichtigen Entwicklungen.
Die Entstehung des Kunstliedes in dieser Form ist notwendig auch mit der Epoche der Romantik verknüpft: Eine große Rolle für dessen Entstehung spielt die Möglichkeit, Musik in den Städten rentabel aufführen zu können, da vor allem auch das Virtuosentum die Begeisterung für solistische Stücke entfacht und für einen rasanten Anstieg in der Komposition und Produktion eben dieser Solostücke sorgt.
Es ist aber auch der philosophische Geist der Romantik, der die Eigenständigkeit der Kunst und des Künstlers fördert und der die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstformen aufzubrechen hilft: Es gibt keine einzige Kunstform, in der sich Musik und Sprache einander so angenähert haben wie im durchkomponierten Kunstlied. Letztlich ist es ja das erklärte Ziel der Komponisten von Gedicht-Vertonungen, für jedes Wort einen eigenen, passenden Klang zu finden. Für diese Sonderstellung des Kunstliedes spricht auch das erst im 19. Jahrhundert erreichte Möglichkeitsspektrum in der musikalischen Darstellung, das einerseits mit der Entwicklung der Instrumente selbst, andererseits aber eben auch durch neue Ausbildungsmöglichkeiten der Musiker etabliert werden konnte.
Von Franz Schuberts Vertonung des „Erlkönigs“ gibt es vier Fassungen. Neben dem Original in der Tonart g-Moll für mittlere Stimme gibt es eine erleichterte Fassung und zwei Transpositionen für tiefe und hohe Stimme. Uraufgeführt wurde die Vertonung von „Erlkönig“ erst sechs Jahre nach ihrer Entstehung im Jahr 1821 in Wien. Trotz des teilweise sehr modern anmutenden und gewagten Einsatzes von Klangmitteln, auf die wir im Einzelnen noch zu sprechen kommen, wurde Schuberts Kunstlied vom Publikum gefeiert. Auch heute gehört Schuberts Lied zum Standardrepertoire professioneller Sänger/innen. Es ist immer noch sehr berühmt und wird immer wieder in den Konzertsälen der ganzen Welt aufgeführt.
Die Tempobezeichnung für Schuberts Lied lautet: ‚Schnell’. Für die letzten zwei Akkorde des 148 Takte langen Stückes gilt die Bezeichnung: ‚Andante’. Das Stück steht im Vier-Viertel-Takt.
Für die folgende Analyse ist es hilfreich, sich zunächst eine Gedichtinterpretation von Goethes Ballade „Erlkönig“ durchzulesen.
Das Lied beginnt mit einem 15 Takte langen Klaviervorspiel. In der rechten Hand beginnt der Pianist mit Oktaven als Achtel-Triolen über den Grundton des in g-Moll geschriebenen Stückes. Die schnelle und meist in forte gehaltene Wiederholung dieser Oktaven treibt das Stück an: Sie stehen für den Ritt des Vaters, der mit seinem Sohn im Arm durch Nacht und Wind hetzt. Dieses Muster wird als Verdeutlichung der Hast des Vaters nahezu durchgängig im gesamten Stück beibehalten. Immer wieder taucht in diesem Begleitmuster eine aufsteigende (g-Moll) Tonleiter auf. Sie blitzt aus der Regelmäßigkeit der repetierenden Akkorde auf. Die aufsteigende Tonleiter-Bewegung in der linken Hand verstärkt das Unruhegefühl und trägt dadurch zum Aufbau einer spannungsgeladenen Atmosphäre bei.
Auch nach dem Klaviervorspiel bleibt Schubert bei dieser Struktur und ändert dabei lediglich die durchschrittenen Tonarten.
Das Klaviervorspiel ebbt ab: nicht in der Geschwindigkeit, es bleibt rasend schnell, der Klavierpart wird leise. Schubert schreibt vor: pianissimo. In dieses pianissimo setzt der Sänger (1 Solist) am Ende des 15 auf die letzte Viertel ein.
Es beginnt der nächste Sinnabschnitt: die Vertonung der ersten Strophe (Takt 16-32). Schubert behält für diese erste Strophe das bereits im Klaviervorspiel vorgestellte Muster bei: repetierende Akkorde in der rechten Hand des Pianisten, die regelmäßig in Abständen von vier Takten durch eine aufsteigende Tonleiter-Bewegung durchsetzt sind.
Man erinnert sich: Goethes Ballade ist aus der Sicht verschiedener Personen geschrieben. Es spricht ein Erzähler, der besorgte Vater, das Kind und der Erlkönig. Die Frage ist, ob und wie Schubert in seiner Vertonung die unterschiedlichen Parts kenntlich gemacht hat.
Die erste Strophe ist aus der Sicht eines Erzählers geschrieben. Die zweite Strophe hingegen beginnt im 36. Takt mit einem Vers aus der Perspektive des Vaters. Es antwortet dessen Sohn (T. 41). Der Sänger setzt jeweils auftaktig ein auf die vierte Viertel des Taktes. Die Melodie bleibt durch diesen Auftakt als Wechsel zwischen Viertel- (Auftakt) und punktierten halben Noten bestimmt. Es unterscheidet sich davon nur die Melodielinie des Erlkönigs.
Die Vertonung der zweiten Strophe endet in Takt 54. Bereits hier ist ein Unterschied zwischen den verschiedenen Erzählfiguren deutlich: sie unterscheiden sich in der Klanghöhe und in den zu singenden Intervallen. Der Erzähler bewegt sich in der Singstimme der ersten Strophe zwischen dem eingestrichenen Fis und dem zweigestrichenen G (insgesamt umfasst der Abstand eine kleine None). Der Part des Erzählers beginnt und endet in der Tonart g-Moll.
Der Part des Vaters unterscheidet sich sehr deutlich vom Part des Erzählers sowie vom Part des Sohnes. Schubert entscheidet sich dafür, die Verse des Vaters deutlich tiefer beginnen zu lassen. Der Vater setzt in Takt 36 auf einem eingestrichenen D eine Quinte tiefer als der Erzähler ein. Der Sohn wiederum beginnt auf dem zweigestrichenen C, fast eine Oktave höher als der Vater. Der Part des Sohnes unterscheidet sich wiederum in der Klangfarbe: Die Not des Sohnes macht Schubert deutlich, indem er den Sänger kleine Sekunden singen lässt in Takt 47 und 49. Die Dissonanz der kleinen Sekunde wird verstärkt durch verminderte g-Moll Akkorde im Klavierpart.
Die erste Antwort des Vaters auf den fiebrigen und leidenden Sohn ist betont ruhig: Schubert lässt den Pianisten Oktaven spielen, reduziert den Klavierpart und lässt die Gesangsstimme sehr tief auf dem eingestrichenen C beginnen. Der Sänger in der Rolle des Vaters singt keine großen Intervalle: eine kleine Terz markiert den größten Tonabstand. Auch hier reduziert Schubert bewusst alle klanglichen Mittel, um den Versuch des Vaters zu verdeutlichen, seinen Sohn zu beruhigen. Doch Schubert lässt den Hörern keinen Zweifel daran, dass sich der Vater über den Ernst der Lage bewusst ist. Die erste Frage des Vaters ist komponiert als aufsteigende, an einer Stelle sogar kurzzeitig chromatische (T. 39) Melodielinie, immerhin vom eingestrichenen D eine kleine Septime aufwärts. Die sorgevolle Frage wird dabei unterstützt durch ein Crescendo im Klavierpart und einem damals sehr unüblichen Sept-Non-Akkord im Takt mit der Chromatik im Gesangspart (T. 39), der das bevorstehende Übel schon erahnen lässt. In der Antwort des Vaters, die beruhigend auf den Sohn wirken soll, lässt Schubert im reduzierten Klavierpart die Tonart in der Schwebe. Es dauert immerhin vier Takte bis eine Dur-Tonart (B-Dur) erreicht ist (T. 54). Kein fröhliches und überzeugendes Dur, sondern ein eher zaghaftes und zurückhaltendes.
In der dritten Strophe (in der Vertonung Takt 57-72) tritt der Erlenkönig höchstpersönlich auf. Tritt er als Schreckensgestalt gegenüber? Schubert wählt einen Einsatz in B-Dur und im Pianissimo. Es ändert für den Part des Erlenkönigs ebenfalls das vorher durchgehaltene Begleitmuster. Statt repetierenden Achteltriolen in der rechten Hand spielt der Pianist nun auf beide Hände verteilte Akkorde: die linke Hand spielt jeweils die erste Achtel der Triole, die rechte Hand setzt fort.
Die gleichbleibende Bewegung des Ritts ist unterbrochen. Man gerät ein wenig ins Stocken. Schubert behält zwar den Rhythmus der Achtel-Triolen bei. Durch die unterschiedliche Anordnung auf beide Hände wirkt die Begleitung aber ganz anders. Sie wirkt leichter, beweglicher, wie die Begleitung eines Tanzes. Immerhin beginnt und endet diese Strophe in Dur!
Der Gesangspart des Erlenkönigs, der natürlich immer noch vom selben und einzigen Sänger gesungen wird, ändert sich ebenfalls. Im Part des Erlenkönigs finden sich zum ersten Mal Koloraturen (T. 64, T. 71). Der Erlenkönig deckt außerdem einen größeren Tonumfang ab: Der Erlenkönig bewegt sich zwischen größeren Tonabständen hin und her, immerhin in einem Abstand von einer Dezime. Der Part des Erlenkönigs ist insgesamt sehr bewegt und tanzartig gehalten. Gesang- und Klavierpart sind spielerisch-leicht.
Während Schubert für den Wechsel der Strophen bisher immer mehrere Takte als Solo-Zwischenspiel des Klaviers vorgesehen hatte, bleibt für die verschreckte Antwort des Kindes auf den Erlkönig nicht mal ein einziger Takt. Im selben Takt, in welchem der Erlkönig seine verführerische Einladung beendet hatte, lässt Schubert den Part des Kindes beginnen (*Strophe vier*, Takt 72-86). Die zwei Verse aus der Sicht des Kindes sind nun von Chromatik beherrscht (T. 76-79): die Tonfolge der Melodie lautet: a’, b’, a’, b’, h’, h’, c’’, cis’’, cis’’, d. Die Chromatik verstärkt den Ausdruck der Angst und der Verzweiflung des Kindes um ein Vielfaches. Schubert wechselt von B-Dur sehr abrupt ohne Kadenz1 zunächst zu einem Schwebezustand von einem unbestimmten h-Moll. Erst nach der anstrengenden, aufsteigenden Chromatik der Melodielinie und den zwei gesungenen Versen des Kindes wird eine neue Tonart hörbar: Schubert wechselt (über fis-Moll) nach h-Moll. Der Vater versucht sein Kind zu beruhigen. Er singt erneut in einer tieferen Tonlage. Und auch hier ist hörbar, dass dem Vater die Beruhigung nicht leicht fällt. Er ist besorgt. Das Moll löst sich erst nach vier Takten nach G-Dur auf.
Vor dem nächsten Einsatz des Erlkönigs gibt es immerhin ein eintaktiges Zwischenspiel vom Pianisten. Schubert moduliert von G-Dur nach C-Dur. Es sei an die Grundtonart des Stückes erinnert: g-Moll. Über c-Moll (Subdominante) (erster Part des Kindes), nach B-Dur (Tonikaparallele) (Part des Vaters und in erster Linie der Part des Erlenkönigs), moduliert Schubert in noch weiter entferntere Tonarten: die verzweifelte Antwort des Kindes bleibt in einem nicht ganz bestimmten h-Moll (Dominantenparallele), der Vater bemüht sich um die Auflösung der Spannung nach G-Dur (nach dem Tonartenwechsel nach h-Moll ist G-Dur die Subdominante der Tonikaparallele, bzw. G-Dur ist die Subdominante der Dominante von g-Moll) und der Erlkönig beginnt und endet seinen Part, die Vertonung der fünften Strophe (Takt 86-96), in C-Dur (die Subdominante von G-Dur).
Wenn eine kleine Spitze gegen die moderne Liedkunst erlaubt ist, also in erster Linie gegen die Popmusik: 95% der Popmusik kommt mit drei Akkorden aus. Es ist klar, dass das, was Schubert hier komponiert hat, einen ganz anderen Anspruch hat. Aber es kann auch mal gesagt werden, dass man davon ausgehen kann, dass die heutigen Popmusik-Sänger und Sängerinnen maßlos überfordert wären mit der komplexen und brillanten Harmonik und Melodik dieses Kunstliedes.
Zurück zur fünften Strophe und zum Part des Erlkönigs: Die vier Verse stehen nun auf engerem Raum: die Melodie ist ‚schneller’: Schubert lässt kürzere Noten singen: statt Viertel und Halben Noten, welche die Melodie bis dahin dominiert hatten, singt der Erlkönig in Viertel und Achtel. Der Charakter dieser Strophe ähnelt dem letzten Gesangseinsatz des Erlkönigs: er ist leicht gehalten, beweglich, spielerisch und ähnelt einem Tanzstück. Als hätte Schubert sagen wollen, der Erlkönig macht was er will, er ist frei, er ist in diesem Sinne auch ohne Hindernisse, ohne Grenzen, lässt er den Sänger die Achtel ‚gegen’ oder ‚zwischen’ die Achteltriolen des Klavierparts singen.
Der Klavierpart selbst wird zusätzlich aufgelockert: das Repetitionsmuster der Akkorde und Oktaven, welche den verzweifelten Ritt des Vaters und des Sohnes verkörpert hatten, wird jäh unterbrochen. Schubert lässt den Klavierpart in ‚ppp’ beginnen: in pianissimo possible: so leise wie möglich. Die Akkorde werden als Arpeggien gespielt. In der Vertonung hat sich Schubert womöglich an dem Vers orientiert „und wiegen und tanzen und singen dich ein“. Er lässt diesen Vers zweimal singen: die Melodie erinnert nicht nur an einen Tanz, sondern an dieser Stelle durch auch an ein einlullendes Wiegenlied (T. 93-96).
Die sechste Strophe (T. 97-112) beginnt mit dem verzweifelten Hilferuf des Kindes: „Mein Vater, mein Vater,“ (T. 97-99). Die Melodie ist chromatisch gehalten. Das Kind ist alarmiert. Die Chromatik gibt dieser Verzweiflung einen markanten und nicht zu überhörenden Ausdruck.
Auch die Antwort des Vaters ist bewegter: der Vater singt größere Tonabstände, er singt lauter, aber auch die Tonarten zeigen die wachsende Besorgnis des Vaters: zum ersten Mal gelingt dem Vater nicht die Auflösung des Molls in eine Dur-Tonart. Am Ende seines Parts, welches zusätzlich durch ein Crescendo bis zum fortissimo verstärkt ist, misslingt die Modulation nach Dur. Wir befinden uns in d-Moll.
Schubert bereitet nun auf das Finale vor: er baut ein viertaktiges Klavier-Zwischenspiel ein, in welchem er wie am Anfang repetierende Oktaven (in der rechten Hand) durch aufsteigende Tonleiter-Bewegungen ergänzt (in der linken Hand).
Das Finale, die berühmte siebte Strophe des „Erlkönigs“, beginnt in Takt 116 und geht bis Takt 131. Mit der Drohung des Erlkönigs ist der ‚dramaturgische’ Höhepunkt der Ballade erreicht. Auch musikalisch führt Schubert alles zu diesem höchsten Punkt.
Was passiert harmonisch in den ersten zwei Versen des Erlkönigs? Ein ungewöhnlicher, für den Hörer unbehaglicher, weil chromatischer Wechsel von d-Moll nach Es-Dur (T. 116-117). Schubert moduliert gleich chromatisch zurück nach d-Moll aber in einen noch ungewöhnlicheren d-Moll Sept-Non-Akkord. In der Basslinie des Klavierparts bleibt die Oktave über ‚Es’. Schubert lässt nicht locker: im nächsten Takt mutet er dem Hörer gleich wieder einen chromatischen Tonartwechsel nach Es-Dur zu. Wie vertont Schubert die so berühmte Drohung des Erlkönigs? „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“. Enggedrängte, dicht aufeinanderfolgende harmonische Wechsel: von Es-Dur nach g-Moll zu einem verminderten g-Moll-Akkord (mit Sexte statt Quinte). Es spitzt sich immer weiter zu. Schubert baut immer weitere Dissonanzen in die Akkorde und entfernt sich weiter vom tonalen Zentrum des Stückes. Viel stärker als das kann man als Komponist Spannung kaum aufbauen. Es folgt auf den verminderten g-Moll-Akkord ein E-Dur-Sept-Non-Akkord ohne Grundton! Die Basslinie geht chromatisch von G über Gis zum A. Doch für die explizite Androhung von Gewalt braucht der Erlkönig keine ausgefallenen stilistischen Mittel: harmonisch beruhigt es sich: ein Wechsel zurück nach d-Moll, über die Dominate A-Dur zurück nach d-Moll. Aber dynamisch macht Schubert klar, dass es dem Erlkönig todernst ist: die lauteste Stelle des Stückes: ‚fff’, so laut wie möglich!
Die Klavierbegleitung hat auch nicht wie vorher seinen Charakter geändert. Sie ist diesmal nicht spielerisch-tänzerisch-leicht. Man hört das sich stets wiederholende Begleitmuster, das bisher nur die anderen Parts dominierte: repetierende Akkorde in der rechten Hand. Ansatzweise findet sich auch eine chromatische Melodieführung im Part des Erlkönigs, die die Bedrohlichkeit der Lage verdeutlichen kann.
Das Kind selbst kann verzweifelter nicht sein und stärker kann der Komponist dieser Verzweiflung auch nicht Ausdruck geben. Erneut setzt Schubert Chromatik im Gesangspart ein. Außerdem lässt er das Kind mit dem bisher höchsten Gesangseinsatz auf dem zweigestrichenen F beginnen. Der Vers: „Erlkönig hat mir ein Leids getan“ kann alarmierender, bedrohlicher, erschütternder nicht vertont sein (T. 128-131). Chromatik im Gesangspart. Chromatik im Klavierpart. Das alles in größter Lautstärke mit sforzando Betonungen auf der ersten und dritten Viertel im Klavierpart.
Nach einem eintaktigen Zwischenspiel im Klavierpart in ‚forte’ tritt der Erzähler ein zweites Mal auf. Die letzte Strophe der Ballade geht in Schuberts Vertonung von Takt 132-148. Repetierende Oktaven und Akkorde in der rechten Hand des Klavierparts. Aufsteigende und alarmierende Tonleitern in der linken Hand. Ein accelerando, das das Stück zu einem Ende treibt (Agogik). Der Klavierpart ist immer noch in forte geschrieben. Viele dynamische Veränderungen finden sich im Klavierpart: Viele Crescendi und Decrescendi, erneut die starke Betonung mit dem Sforzandi. Zwischendurch Ansätze von Chromatik in der Basslinie des Klavierparts. Die erschütternde Nachricht vom Tod des Kindes wird dramaturgisch vorbereitet: laut, schnellerwerdend, viel Dynamik. Schubert treibt alles auf diesen letzten Vers der Ballade zu. Für die traurige Nachricht selbst unterbricht Schubert den Klavierpart. Die Begleitung hört auf. Schubert denkt sich den letzten Vers als Recitativ. Rhythmik und Tempo treten in den Hintergrund. Hier tritt das Wort in den Vordergrund: „In seinen Armen das Kind war tot.“ Schubert fügt eine Zäsur3 ein, in der der Sänger schweigt: Eine Fermate über einem A-Dur-Sept-Non-Akkord ohne Grundton (dissonant-schwebend) nach „das Kind“ (T. 147). Das Klavier schweigt bevor der Sänger die letzten Worte nicht singt, eher spricht: „war tot.“ (T. 147). Das Klavier antwortet ein letztes Mal. Schubert ändert die Tempobezeichnung. Die letzten zwei Akkorde des Klavierparts stehen in Andante. Das Stück endet über einen D-Dur-Septakkord wieder in der Grundtonart: g-Moll. Ungewöhnlich aber das Recitativ am Ende des Liedes. Schubert rückt die erschütternden Worte des letzten Vers in den Mittelpunkt. Wenig Musik ist für diese letzten Verse vorgesehen. Nur dieser damals so ungewöhnliche Sept-Non-Akkord, der die Hörer damals verschreckt haben musste. Schuberts Lehrer Wenzel Ruzicka immerhin sah diese Dissonanzen als Notwendigkeit.
Schuberts Vertonung wurde trotzdem oder gerade deshalb gefeiert. Die Vertonung war gewagt, virtuos, schwierig zu singen und zu begleiten. Aber sie war vor allem auch: textnah. Sie war unglaublich ausdrucksstark und gefühlsbetont. Ein Meisterwerk der Romantik und dieser Gattung des durchkomponierten Kunstliedes, die nicht ohne Grund mit Franz Schubert ihren Anfang nimmt. Es gibt diese seltenen Begebenheiten, bei denen berühmte Texte eine passende künstlerische Darstellung finden, die ab dann nicht mehr von dem Original wegzudenken ist. Ein synergetisches Verhältnis der gegenseitigen Befruchtung. Schuberts Vertonung von Goethes Ballade „Erlkönig“ ist ein Beispiel dafür.