Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Vor dem Gesetz sind wir alle gleich, doch was nützt dies, ist es doch verschlossen?“, so oder ähnlich lässt sich die Grundstimmung des Kurztextes „Vor dem Gesetz“ paraphrasieren, welcher grundsätzlich in die literarische Gattung der Parabel einzuordnen ist, von Kafka selbst aber als „Legende“ bezeichnet wurde.
Ein Unbekannter Mann vom Lande, wohl ein Alter Ego Kafkas, versucht in dieser Parabel Eingang in das „Gesetz“, symbolisiert durch einen Gerichtssaal, zu finden, doch sein Vorhaben scheitert bereits am Türhüter, welcher ihn mit den Worten „Es ist möglich, jetzt aber nicht“ abweist. Tage und Jahre vergehen, wieder und wieder widerholt der Mann seinen Wunsch, doch der Torhüter bleibt trotz aller Bestechungsversuche unbeirrt.
Eines Tages schließlich, nach jahrzehntelangen vergeblichen Eintrittsgesuchen, fragt der Mann vom Lande kurz vor seinem Tod, warum außer ihm niemand Eintritt verlangt hatte. Der Torhüter antwortet darauf: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Der Text ist, typisch für Kafka, in einer sehr neutralen, auktorialen Erzählform verfasst. Beschreibungen der zwei einzigen handelnden Figuren, des Mannes vom Lande sowie des Torhüters, sind auf ihren äußeren Handlungen, sowie auf ihre Aussagen beschränkt. Das Seelenleben des Mannes vom Lande lässt sich zwar anhand seiner Handlungen erahnen (die Tatsache, dass er niemals versuchte den Torhüter zu überwinden lässt z. B. auf Feigheit oder auch auf Respekt schließen), wird aber nirgendwo explizit beschrieben. Das Innenleben des Torhüters bleibt dem Leser noch verschlossener, der Text erzeugt die Wirkung, als dass es sich bei diesem weniger um eine konkrete Person, als um ein Symbol der Macht handele.
Zur Deutung des Textes empfiehlt es sich die drei für Kafka typischen Interpretationsansätze anzuwenden: Der autobiografische, religiöse sowie der gesellschaftlich/politische Ansatz. Jeder dieser Ansätze bietet nicht nur verschiedene Schlussfolgerungen hinsichtlich des Aussagegehalts, sondern beantwortet auch die Fragen: „Um wen handelt es sich beim Türsteher/ beim Mann vom Lande/ beim Gesetz?“ unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Interpretationsansätzen aber, dass sie die Grundintention des Textes, nämlich die Suche nach dem „Sinn“ in all seinen Facetten, widerzuspiegeln versuchen.
Autobiographisch betrachtet handelt es sich bei „Vor dem Gesetz“ um eine für Kafka typische Verarbeitung seines Ödipus-Komplexes. Der erhabene, mächtige und gewisser Hinsicht „um das Gesetz wissende“ Torhüter (Symbol für Kafkas autoritären Vater) erweist sich hierbei als krasser Gegenspieler zum Mann vom Lande (Kafka selbst), welcher zunächst genauso schüchtern und respektvoll, wie im späteren Verlauf der Geschichte verzweifelt und krank dargestellt wird.
Kafka versuchte Zeit seines Lebens aus seiner in Routine und Einsamkeit gefangenen Lebenssituation auszubrechen, er wollte seinen langweiligen Job als Versicherungsjurist kündigen, wollte heiraten, eine Familie gründen, doch Kafkas Vater, welchem vor allem die Karriere seines Sohnes wichtig war, erwies sich stets als entscheidendes Hindernis. Genauso wie der Mann vom Lande zum Gesetz wollte Kafka Einlass zum „tieferen Sinn“, wohl zum Sinn des Lebens haben, doch genauso wie jener wurde er von der Autoritätsperson grundlos, ohne jeglichen kausalen Zusammenhang, jahrelang hingehalten, bis dieser (eine eigentlich düstere Prophezeiung) einsam und verbittert, in Kafkas Worten sogar „kindisch geworden“, verstirbt.
Der Vater-Sohn Konflikt löst sich nirgendwo auf, kein retardierendes Moment sorgt für einen Abfall der Spannung, nirgendwo öffnet sich wortwörtlich eine „Tür“, durch welche Kafka zu jenem höheren Sinn gelangen könnte, welchen er jenseits des Vaters in seiner eigenen Glückseligkeit zu finden sucht.
Etwas weniger klar in der Rollenverteilung erweist sich die religiöse Deutung des Textes: Das Subjekt (der Mann vom Lande), welcher wohl symbolisch für „den Suchenden Mensch“ (oder Kafka selbst) steht, versucht hierbei Einlass in das Gesetz zu finden, welches wohl eine „göttliche Offenbarung“ oder eine „tiefere Erkenntnis“ ist. Der Torhüter, vielleicht ein Rabbiner (Kafka war nämlich Jude) oder symbolisch für die gesamte organisierte Religion, verwehrt dem Subjekt den Einlass, damit argumentierend, dass die Zeit für tiefere Erkenntnis noch nicht reif sei. Bis zum Ende seines Lebens wartet der Mensch auf die Erleuchtung seitens der Religion, doch bleibt diese, vor allem aufgrund der Hinhaltetaktik religiöser Autoritätspersonen, aus. Das versprochene Himmelreich (auch eine mögliche Interpretation für das „Gesetz“) bleibt schlussendlich bloß ein matter Schein durch den Torschlitz, erweist sich möglicherweise sogar nur als leeres Versprechen des Torhüters, welcher den Suchenden hiermit zu unterdrücken bzw. devot zu machen versuchte.
Eine solche Religionskritik Kafkas ist nicht unwahrscheinlich, ist der Text doch deutlich von der jüdischen Erzählung „Als Moscheh auf den Berg Sinai stieg“ inspiriert. In dieser will Moses, wie auch der Mann vom Lande, Eingang zum Gesetz, zur Thora finden, wird aber zunächst von den Engeln abgewiesen. Im Gegensatz zum kafkaschen Protagonisten gelangt er jedoch nach einiger Komplikation zu seinem Ziel und nimmt die Thora freudig in Empfang. Die Verdrehung dieser Geschichte kann als Kritik Kafkas am Autoritätsdenken der judaischen Religion verstanden werden: Die Priester, welche eigentlich den Menschen die Offenbarung näher bringen sollten, nützen ihren Status als Autoritätspersonen lediglich zu eigenen Zwecken und entfremden den Menschen sogar von der Religion. Dem „Suchenden“ wird nicht geholfen, im Gegenteil: Seine Notlage wird schamlos ausgenutzt.
Der dritte Interpretationsansatz beschäftigt sich mit dem gesellschaftlich/politischen Aussagen des Textes und erweist sich aufgrund der inhaltlichen und motivischen Parallelen zu Kafkas Hauptwerk „Der Prozess“ als der am besten belegte.
In diesem Ansatz steht der Mann vom Lande schlicht für den Jedermann, für jeden Bürger des Staates, welcher Einblick ins Gesetz (wörtlich genommen oder auch als Symbol für den „Sinn“) verlangt, aber von der wuchernden Bürokratie (dem Torhüter) abgewiesen wird. Wie Josef K. aus dem „Prozess“ findet sich der Mann vom Lande dabei in die ihm unbekannte Welt der Justiz ein, in welcher Autoritäten und irrationale Regeln über das Schicksal der Einzelpersonen bestimmen, nicht aber die Personen selbst. Diese „kafkaeske“ Situation wird durch Motive unterstrichen, welche später die Romane „Das Schloss“ und „Der Prozess“ kennzeichnen: Die gesamte Handlung spielt sich in Räumen ab, Wände, auch wenn sie nicht beschrieben sind, engen das Blickfeld des Protagonisten ein, es entsteht ein Gefühl der Hilfslosigkeit, des Gefangenseins. Türen sind der einzige Weg in die Freiheit, doch sind sie stets verschlossen und sorgen nur umso mehr für Bedrängnis, bieten sie doch einen kleinen sehnsuchtshaschenden Blick auf jenes Unbekannte, das sie verbergen müssen. Auch die Aussage des Torhüters „Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ spielt auf die Motivik des „Prozesses“ an: In einer ewigen Odyssee durch die Abgründe der Justiz gefangen, kann das Subjekt sich nicht auf ein erreichbares Ziel fokussieren und muss irgendwann resigniert feststellen, dass es ein solches niemals gab.
Das Justizwesen als Leitmotiv zahlreicher Texte ist typisch für Kafka und hat den Ursprung sowohl in seinem ungeliebten Beruf als Versicherungsjurist als auch in Kafkas jahrelanger Beschäftigung mit der für ihn als lebensfeindlich empfundenen Bürokratie der zerfallenden Österreich-Ungarischen Monarchie. Wie bei der religiösen Interpretation kann der Text hierbei als Kritik aufgenommen werden: Kafka kritisiert die Unzugänglichkeiten, die unnötige Verkomplizierung des Lebens und den starren Autoritätswahn seines Heimatlandes, wünscht sich Einfachheit und Klarheit, ist sich aber bewusst, dass diese Forderungen eine reine Utopie bleiben werden.
Fasst man die Interpretationsversuche zusammen, gelangt man zum Schluss, dass „Vor dem Gesetz“ eine vom typisch kafkaesken Motiv des „Suchens und Nicht-Findens“ durchzogene Parabel ist, welche als Schlussfolgerung den „Sinn“ einzig in der Sinnlosigkeit zu finden scheint. Der Sinn des kryptischen Textes selbst ist bewusst offen gehalten, keine der genannten Interpretationen allein kann den Text in seiner ganzen Tiefe umfassen, der Text darf weder als reine Kritik an Religion und Gesellschaft noch als reine autobiographische Verarbeitung verstanden werden. Ordnet man die Parabel in Kafkas Gesamtwerk ein, so findet man beinahe alle Motive und Handlungsstränge wieder, welche später seine Romane charakterisieren werden. Der Text kann somit als ein für Kafka typisches Werk bezeichnet werden.