Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In seinem Gedicht „Lover's Seat“ beschreibt Ernst Stadler eine Liebessituation vor der Kulisse eines Kreidefelsens, um den sich die Legende des Selbstmordes zweier Liebenden rankt. Auf diesem Hintergrund thematisiert Stadler die ambivalente Nähe von gegenwärtigem Liebesglück und dem traurigen Bewusstsein der Vergänglichkeit.
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen zu je vier Zeilen. Die erste Strophe setzt sich aus zwei voneinander abgesetzten Zweizeilern zusammen. Formale Gesichtspunkte legen die Zusammenfassung zur Strophe nahe: Zum Strukturprinzip wird damit der umarmende Reim (abba), der die Zweizeiler zur Einheit verbindet. Die zweite Strophe weist dasselbe Reimschema auf (cddc).
In den ersten zwei Zeilen der ersten Strophe steht die Naturlandschaft im Vordergrund, in der sich die Liebessituation abspielt. Das lyrische „Ich“ beschreibt sowohl den Weg auf den Kreidefelsen, den das Paar hinter sich hat, als auch die Kreideklippe selbst, die den gemeinsamen Ziel- und Ruheort darstellt („Du ruhst an mich gedrängt“). Die Beschreibung der Landschaft erweckt den Eindruck von Harmonie und korrespondiert so mit dem Bild des einträchtigen, friedlichen und ungetrübten Zusammenseins der Liebenden. Die Kreideklippe wird als Ort von faszinierender Schönheit beschrieben. Die Metapher „schimmerndes Gefieder“ lässt sowohl das prächtige Farbspiel im Sonnenuntergang („Im Abend“ - „schimmernd“) erahnen, als auch ein Bild der ästhetisch-geschwungenen Form der Klippe entstehen. Die durch den Begriff „Gefieder“ hervorgerufene Assoziation mit einem Vogel führt den Leser zu der Begleitvorstellung von schwebender Leichtigkeit: Das poetische Bild betont die Höhe („über tiefem Meere“) der Klippe und vermeidet gleichzeitig bewusst, dass beim Leser die Negativ-Vorstellung des Abgrunds entsteht. Durch die lautliche Gestaltung wird die harmonische Stimmung unterstützt. So überwiegen in dem Satz „Die Kreideklippe schwingt ihr schimmerndes Gefieder“ helle Vokale.
Ein Absatz zwischen der zweiten und dritten Zeile sorgt für eine sichtbare Zäsur1.
In den Zeilen drei und vier wird nun die Klippe in Bezug zu einer Legende gesetzt, nach der sich „einst zwei Liebende“ an dieser Stelle ins Meer stürzten.
Formal abgesetzt, nehmen die zwei Zeilen inhaltlich Bezug auf die in der letzten Zeile entworfene Szenerie. Die Anknüpfung findet durch die Adverbiale „Hier“ statt. Der folgende attributive Relativsatz greift das Bild des Kreidefelsens in variierter Form auf. Das in der zweiten Zeile entworfene stimmungsvolle beinahe malerisch-impressionistische Naturbild, das den Eindruck von Harmonie vermittelt und die Vorstellung einer romantischen Liebessituation unterstützt, wird nun durch eine Beschreibung kontrastiert, die Bedrohlichkeit suggeriert. Die Negativität des heraufbeschworenen Bildes liegt in der Umschreibung „Jähe Todesgier“ begründet, mit der der Abgrunds als gefährlich-destruktives Element des Kreidefelsens in den Vordergrund gestellt wird und der konnotativ bereits auf den Inhalt der Legende verweist, die die nächste Zeile thematisiert. Der Suizid des Liebespaares wird zum romantischen Liebestod stilisiert. Die Verklärung beruht auf der sprachlichen Gestaltung durch die Metapher „ weiches blaues Bett“, mit der das Meer als letzte Ruhestätte umschrieben wird. Mit Diesem Bild scheint Stadler assoziativ an die euphemistische Periphrase2 des „ewigen Schlafes“ für den Tod anzuknüpfen. Das Meer wird so zum ewigen Frieden und Ruhe versprechenden Refugium der des Lebens müden Liebenden verklärt. Das Farbadjektiv „blau“ ist weniger auf seine deskriptive Funktion hin – die Farbe des Meeres angebend – zu betrachten, als auf seine affektive Wirkung innerhalb des Bildes. Die Farbe Blau suggeriert Ruhe und Geborgenheit. Diese symbolische Bedeutungskomponente trägt zu der Harmonisierung und Beschönigung des Selbstmord-Motivs bei. In der Lyrik weist das Farbadjektiv „blau“ Tradition als Sehnsuchtschiffre3 auf. Auf unterschwellige Weise wird so das Moment der Todessehnsucht in die Metapher eingewoben.
Vollendet wird das Bild des harmonischen Aufgenommenwerdens von der Natur durch das Verb „geglitten“. Die sanfte Bewegung des Eintauchens ins Wasser vertreibt die furchterregende Vorstellung vom Sturz in die Tiefe. Auf vielschichtige Weise werden negative Begleitvorstellungen, die dem Thema Selbstmord und Tod innewohnen, unterbunden.
Stellt man die kontrastreichen Bilder des Kreidefelsens, die in den zwei Abschnitten der ersten Strophe entworfen werden, einander gegenüber, so fällt die Subjektivität auf, die der Wahrnehmung der äußeren Dinge zugrundeliegt und die die Relativität der Darstellung evident werden lässt. Der Charakter der örtlichen Begebenheit wird individuell im Kontext der jeweils hierzu visualisierten Situation ausgestaltet. In der zweiten Zeile lässt Stadler ein Bild von beeindruckender Schönheit und Harmonie entstehen, das mit der Liebessituation korrespondiert. Als Schauplatz des Liebestodes wird der Fels jedoch zur bedrohlichen Kulisse.
Lautmalerisch wird dieser Bruch deutlich gemacht. Während in der Darstellung des landschaftlichen Idylls helle e- und i- Laute dominieren, tragen in der 3. Zeile dunklere Vokale dazu bei ein düsteres Bild zu zeichnen. Gerade auf dem Hintergrund der als erschreckend und bedrohlich gestalteten Szenerie gelingt Stadler die romantische- poetische Überhöhung des Selbstmords durch die „Bett-Metapher“.
Auch auf inhaltlicher Ebene lässt sich nun nachvollziehen, dass die ersten vier Zeilen gemeinsam als eine Strophe betrachtet werden können: In ihnen wird der gleiche Gegenstand – der Kreidefelsen- lyrisch ausgestaltet - in den ersten zwei Zeilen als „Lover's Seat“ der Gegenwart, in den folgenden als „Lover's Seat“ der Vergangenheit („einst“). Die räumliche Trennung der Zweizeiler markiert den Perspektivwechsel, beziehungsweise den zeitlichen Sprung.
Die zweite Strophe wendet sich nun den Liebenden als Besucher des legendenumwobenen Ortes zu. In den ersten zwei Zeilen steht das akustische Erleben im Vordergrund. Nur noch das ferne Tönen der Brandung verweist auf die Klippe und den tiefen Abgrund. Das lyrische Ich erzählt die Legende der Liebenden, die hier den Freitod wählten, dem lyrischen „Du“. Die Angabe „zwischen Küssen“ macht die Situation als Liebessituation erkennbar. Die Stimmung scheint ausgelassen und heiter. Der Sonnenuntergang („erglühten Sommerabend“) verleiht dem glücklichen Zusammensein eine romantische Färbung.
Der nun erfolgende Stimmungsumschwung, der das lyrische „Du“ betrifft, wird in den folgenden zwei Zeilen geschildert, in denen die Wahrnehmungen eines einzigen Augenblicks verdichtet sind. Auslösendes Moment für den abrupten Stimmungswandel ist das Hinüberbeugen des lyrischen „Ich“ über den Abgrund. Durch das adversative „Doch“ wird der Bruch eingeleitet. Obwohl hierdurch der Grund für die weitere Entwicklung der Liebessituation genannt wird, wird sprachlich auf eine explizit kausale Verknüpfung verzichtet, statt dessen die Simultaneität hervorgehoben. Die Partizipialkonstruktion „tief mich beugend“ nimmt in ihrer Funktion als modale Bestimmung nur eine marginale Stellung im Satz ein, der Fokus liegt auf der Wahrnehmung des lyrischen „Ich“.
Drei Aspekte werden hierbei Spannung erzeugend polysyndetisch durch die Konjunktion „und“ verbunden. Die Wahrnehmungen des lyrischen „Ich“ am lyrischen „Du“ spielen sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen ab, dabei findet sich eine Steigerung vom Konkret-äußerlichen zum Abstrakten. Als erstes zeigt sich der Umbruch in der Mimik des lyrischen „Du“: Das Gesicht des lyrischen „Du“ erstarrt und indiziert Schock und Angst. Dass diese Reaktion noch „Im Glück“ geschieht, zeigt ihre Unmittelbarkeit an. Auf diese konkret-körperliche Wahrnehmung erfolgt das Erfassen der Gemütslage („dumpfe Schwermut“) bis schließlich der Bereich des tatsächlich Wahrnehmbaren verlassen wird ( „nahe Ende“).Während das Erstarren des Gesichtes als durch die konkrete Situation bedingte Angst um den geliebten Partner gesehen werden kann, weisen diese nicht sinnlich und nur in mittelbarer Form wahrnehmbaren Entdeckungen über die Situation hinaus. Die „Schwermut“ wird nicht als gegenwärtig präsente Stimmung beschrieben. Das lyrische „Du“ sieht sie lediglich hinter „den Wimpern warten“. Das Verb warten suggeriert die Dependenz der schwermütigen Stimmung von einem noch nicht eingetretenen Ereignis – dem „nahen Ende“. Das lyrische „Du“ scheint beim lyrischen „Ich“ das Vorgefühl einer noch nicht konkret gewordenen Stimmung wahrzunehmen, deren Latenz jedoch im Augenblick des Schocks offenbar wird. Die Reihung findet ihren Höhepunkt durch das „nahe Ende“. Ob der Erwähnung des „nahen Ende“ nun der Status einer visionären Vorwegnahme, einer unheilvollen unbestimmten Ahnung, eines konkreten Wissens zukommt oder schlichtweg als Zukunftsangst gesehen werden darf, bleibt offen.
Ebenso unbestimmt bleibt der Charakter dieses Endes. Der Gedichtkontext gibt keinen Aufschluss darauf, ob damit das Ende der Beziehung oder - auf existenzieller Ebene - der Tod gemeint ist.
Seiner semantischen Bedeutung entsprechend erhält das Wort „Ende“ eine finale Stellung. Durch eine Epiphrase wird ihm diese pointierte Stellung zuteil: Der nach „warten“ syntaktisch beendete Satz erhält den das Gedicht beschließenden Nachsatz „und das nahe Ende“.
Das dem Expressionismus verpflichtete Gedicht lässt sich nicht sofort dem Genre der Liebeslyrik zuordnen. Es entbehrt der für Liebesgedichte typischen inhaltlichen Akzentuierung auf eines der Themen des traditionellen Motivkanons, wie Sehnsucht, Erfüllung, Leidenschaft etc. Der Leser erfährt über die Liebenden kaum etwas. Eine eindeutige Geschlechterzuordnung von lyrischem „Ich“ und lyrischem „Du“ ist unmöglich. Liebe – als seelisch, körperliche oder geistige Ich-Du-Beziehung stellt zunächst kein zentrales Thema dar. Auf die Verbindung zwischen den Liebenden wird nur am Rande durch die im Gedicht dargestellten Momente der körperlichen Nähe („Du ruhst an mich gelehnt“) verwiesen. „Zwischen Küssen“ ist der einzige Hinweis, der auf eine Liebesbeziehung schließen lässt. Über die emotionale Beziehung lässt sich keine Aussage machen. Die Gefühlswelt des lyrischen „Ich“ wird ausgeblendet. Zwar erscheint die Beschreibung des Kreidefelsens als emotionalisiertes Naturbild, doch der Stimmung und den Gefühlsregungen des lyrischen „Ich“ wird explizit kein Ausdruck verliehen. Eine Innenschau oder Preisgabe des Empfindens bleibt aus, der Fokus richtet sich auf die Stimmung und Innenwelt des Lyrischen „Du“ aus der Perspektive des lyrischen „Ich“, was aber ebenso als Projektion der eigenen inneren Vorgänge auf das lyrische „Du“ aufgefasst werden kann. Spezifisch mit Liebe assoziierte Emotionen lassen sich jedoch auch hier nicht finden.
Betrachtet man das Gedicht unter dem Aspekt der Liebesauffassung, so lassen sich zwei Tendenzen feststellen. Zum einen zeigt sich eine romantisierte Sicht der Liebe, die durch die Überlagerung subjektiver Naturerfahrung und gemeinschaftlicher Nähe auf dem Hintergrund des zur Legende gewordenen Liebestodes zustande kommt.
Die letzten zwei Zeilen implizieren eine weitaus pessimistischere Sichtweise.
Der Zustand des heiter-harmonischen Zusammenseins findet ein abruptes Ende. Melancholie löst die Heiterkeit ab, die sich in dieser Paarbeziehung als äußerst empfindliches erweist. Das Hinüberlehnen wird nicht nur mit Schreck mitangesehen, sondern wird gefolgt von Schwermut, deren tatsächliche Ursache nicht unmittelbar in der Situation begründet liegt. Die Spanne des „Glücks“ zeigt sich als eng begrenzt, das Miteinander endlich. Das resignative Bewusstsein des nahen Endes prägt das Bild der Liebe. Unheilschwanger scheint dieses Ende über den Liebenden zu schweben. Die Liebessituation, der Moment des Glücks, wird umrahmt von dem Liebestod der Legende in der Vergangenheit und dem Wissen um das Ende in der Zukunft, dessen gedankliche Vorwegnahme die Gegenwart überschattet.
Da das Thema „Liebe“ nicht als spezifisches Thema der Lyrik des Expressionismus angesehen werden kann, ergeben sich Schwierigkeiten auf inhaltlicher Ebene Parallelen zu dieser Epoche zu ziehen. Dennoch lässt sich anführen, dass die Stimmung, die durch die Schlusszeilen des Gedichtes erweckt wird, an das Lebensgefühl des Expressionismus gemahnt. Am Vorabend des ersten Weltkriegs, die Zeit des Expressionismus, bestimmten Pessimismus, Zukunftsangst und eine existenziell empfundene Verunsicherung das Weltbild der Dichter. Diese Bewusstseinslage war der Auflösung des alten Weltgefüges durch Technisierung und Industrialisierung als auch der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit des (Vor-)Kriegszustandes geschuldet. Lyrik wurde zum Spiegel dieses Zeitgeistes als auch zum künstlerischen Bewältigungsversuch. Zwar beschwört Stadler keine apokalyptischen Bilder herauf, die in vielen Gedichten dieser Zeit eine Untergangsstimmung evozieren und von dem Katastrophenbewusstsein dieser Zeit zeugen. Dennoch spricht auch aus Stadlers Gedicht Hoffnungslosigkeit und das Vorgefühl unheilvoller Entwicklungen und rückt es so in die Nähe der expressionistischen Weltauffassung.
Wenn wir aus heutiger Sicht die Dichter des Expressionismus – und so auch Stadler als Opfer des ersten Weltkrieges - mit Vorliebe in den Status von Visionären erheben, die den Schrecken des 1. Weltkrieges antizipieren und die pessimistisch-melancholische Färbung ihrer Gedichte diesem Bewusstsein in Rechnung stellen, so sollte in diesem Falle – ohne die Schlüssigkeit solcher Deutungsversuche im Allgemeinen von der Hand weisen zu wollen - im Hinblick auf das Gesamtwerk Stadlers Zurückhaltung mit derartigen Interpretationsansichten geübt werden. Dieses zeugt weniger von Resignation als von dem Bestreben den kritischen Weltzustand und den Zukunftspessimismus zu überwinden, worauf schon der Titel seiner Gedichtsammlung „Der Aufbruch“ hinweist.
Auf formaler Ebene überrascht die für den Expressionismus untypische Anlehnung an dichterische Konventionen. So knüpft Stadler an traditionelle Reimformen an. Der umarmende Reim bleibt strukturelles Ordnungsprinzip, so dass die Strophik auch trotz der zur Hervorhebung eingefügten Leerzeile erhalten bleibt. Auch in der Versgestaltung hebt sich das Gedicht von vielen Gedichten der Epoche ab, in der Zeilenstil4 und das Prinzip der Simultaneität zum Stilmerkmal wurden.
Stadlers Gedicht ist in Langzeilen verfasst, die der expressionistischen Forderung nach größtmöglicher Freiheit im Ausdruck gerecht werden und dennoch durch die Reimbindung der Formlosigkeit vorbeugen.
Diese Verbindung von lyrischen Formelementen mit der Freiheit der Prosa, zeigt sich auch Hinblick auf Metrik5 und Sprache. Den Langzeilen fehlt die Metrik, dennoch wird auf eine Rhythmisierung und Sprachdynamik nicht verzichtet, wie die Elision in der 7. Zeile zeigt („seh' ich“). Auch durch das Mittel des Zeilensprungs wird Dynamik erzeugt. Am Ende der dritten Zeile wird aus der Wortbedeutung des „Hinüberlehnens“ das Enjambement6 abgeleitet. Während die Langzeilen das Gedicht in die Nähe der Prosa rücken, ist der Sprachgestus lyrisch. Poetische Ausdrucksstärke wird durch unterschiedliche stilistische Mittel und eine bildhafte Sprache erreicht. Als Beispiel seien die Metaphern7 „schimmerndes Gefieder“ und das „weiche blaue Bett“ genannt. Durch Alliterationen8 findet eine gezielte Akzentuierung statt ( „blaues Bett“, „Kreideklippe schwingt ihr schimmerndes...“, „Wimpern warten“). Auch die lautliche Gestaltung ist sehr differenziert. Durch Assonanzen9 werden kunstvoll Sinneinheiten verknüpft und hervorgehoben („Grünbebuschte Dünenwege“), lautmalerisch werden Stimmungsbilder erzeugt durch Häufung heller oder dunkler Vokale („dumpfe Schwermut“) oder Gegenüberstellungen noch kontrastreicher gestaltet. So bildet zu dem Bild „die Kreideklippe schwingt ihr schimmerndes Gefieder über tiefem Meere“, in dem durch die Akkumulation von hellen e- und i-Lauten Harmonie und Helligkeit suggeriert wird, die Beschreibung des Ortes „wo der Fels in jäher Todesgier ins Leere hinüberlehnt“ mit seinem heterogenen, dunklere Laute beinhaltenden Vokalbestand auch einen lautmalerischen Kontrapunkt.
In der Tradition des Expressionismus steht die Vorliebe für eine starke Farbigkeit und das Ansprechen visueller Reize allgemein. Auffällig ist, dass sowohl in dem Komposita „grünbebuscht“ als auch in dem abstrakteren Bild des „ schimmernden Gefieders“ Farbe und Form als Einheit angesprochen werden, wodurch die Ausdrucksstärke intensiviert wird.
Stadler bricht mit den Regeln des Syntax und nutzt Inversionen10, um bestimmte Akzente zu setzen. So wird durch die Voranstellung der Adverbiale „Im Abend“, „Zwischen Küssen“ und „Tief mich beugend“ der reguläre Satzbau mit dem Verb in Zweitstellung verhindert. Die Initialstellung der lokalen, temporalen und modalen Bestimmungen weisen darauf hin, dass dem situativen Rahmen eine besondere Bedeutung zukommt.
In Anbetracht der formalen Gestaltung lässt sich erkennen, das Stadler einen Kompromiss zwischen
Tradition und expressionistischer Formaufhebung eingeht, der auf den Leser sehr reizvoll wirkt.
In der Darstellung der Situation verhält sich das Gedicht zeitlos. Auf den ersten Blick erscheint es als Komposition abgegriffener Liebeslyrik-Motive: eine von der Abendsonne beschienene Kreideklippe als idyllische Naturszenerie, Küsse und Lachen im Sonnenuntergang und die Legende um den Freitod zweier Liebenden. Was zunächst eine aus Klischees konstruierte Liebessituation befürchten lässt, entwickelt sich jedoch zu einem in seiner Gestaltung ungewöhnlichen Verweis auf die Endlichkeit des genossenen Augenblicks, der Liebe und des Lebens im Ganzen. Seine beunruhigende Wirkung bezieht das Gedicht im Allgemeinen aus der Ambivalenz zwischen Romantisierung und Unheilbeschwörung, im Speziellen aus der geheimnisvollen Vagheit, in der von dem Ende gesprochen wird bei gleichzeitiger Gewissheit, dass es nahe ist.