Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahre 1920 veröffentlichte der deutsche Lyriker und Dramatiker Bertolt Brecht (1898- 1956) das expressionistische Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“, welches eine mit der Zeit in Vergessenheit geratene Liebe thematisiert, die mit Erscheinungen in der Natur verbunden wird und anscheinend ebenso vergänglich wie diese ist.
Äußerlich gliedert sich das hier vorliegende Werk in drei Strophen mit jeweils acht Versen, wobei ein regelmäßiges Reimschema vorliegt, bei dem sich lediglich der jeweils zweite mit dem vierten und der jeweils sechste mit dem achten Vers einer jeden Strophe reimen. Es entsteht somit eine gewisse Ordnung und natürliche Harmonisierung, die jedoch erst bei genauerem Hinsehen deutlich wird, nicht zuletzt aufgrund der hypotaktischen Schreibweise und der Verwendung von Enjambements1. Der rhythmische Klang eines fünftaktigen Jambus runden diesen Gesamteindruck ab.
Der Einstieg in die Handlung des Gedichtes ähnelt dem einer Geschichte mit der Angabe von Ort, Zeit und Personen (vgl. V. 1ff. „An jenem Tag im blauen Mond September/ Still unter einem jungen Pflaumenbaum/ Da hielt ich sie (...)“ ). Als Person neben dem lyrischen Ich lässt sich die im Titel des Werkes genannte Marie A. als die „stille bleiche Liebe“ (V. 3) näher definieren, deren Beziehung durch zahlreiche ausschmückende Attribute durch die gesamte erste Strophe hinweg sehr liebevoll dargestellt wird. Erst im letzten Vers dieser Strophe zeichnet sich das Motiv der Vergänglichkeit in Bezug auf ihre Liebe ab, denn schon beinahe nach einem Wimpernschlag gerät sie in Vergessenheit. Zwar ist hier die Rede von einer „Wolke“ (V. 6), doch kann diese im weiteren Verlauf fast schon als Synonym zu ihrer Liebe gedeutet werden. Sie wird hier durch das Adjektiv „weiß“ (V. 7) in Bezug auf die Geliebte des lyrischen Ichs näher beschrieben als rein und unschuldig, wobei der Begriff „weiß“ an sich in dem Werk von Bertolt Brecht des Öfteren in Erscheinung tritt, und zwar als konjugierte Form des Verbs „wissen“ (vgl. V. 14ff., 19). Im siebten Vers wird dabei zum die Wolke näher beschreibende Wort „weiß“ (V. 7) durch das Adjektiv „ungeheuer“ (V. 7) ein Gegensatz zu der weißen Farbe hergestellt, wodurch sich die These aufwirft, dass es sich um die erste große Liebe des lyrischen Ichs handeln könnte, welche es daher auch nicht vollends in der Vergangenheit zurücklassen kann.
Insgesamt verwendet Brecht in diesem hier vorliegenden Werk zahlreiche verborgene Analogien zur Natur. Allein durch diese Tatsache erscheint das Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ eher ein unscheinbares Werk der expressionistischen Literatur zu sein, da weder Berührungen mit der Großstadtlyrik noch mit einem düsteren Zerfall der Menschlichkeit existieren. Das Leitmotiv der Liebe wird hingegen als bloße Erinnerung aufgegriffen, welche oftmals nicht von ständiger Dauer ist. Damit wendet sich Brecht ab von etwas Idealisiertem wie der unendlichen Liebe, welche insbesondere durch romantische Merkmale in der Literatur die Leserinnen und Leser von ihrer Schönheit und Einzigartigkeit zu beeindrucken versucht. Es zeigt sich also recht eindeutig, dass hier eben kein klassisches Liebesgedicht vorliegt.
Auffällig sind zunächst die recht ähnlich formulierten Anaphern2 zu Beginn der ersten beiden Strophen (vgl. V. 1 u. 9), in denen jeweils wieder die Wolke als Erinnerung an die Liebe aufgegriffen wird.
In der mittleren Strophe zeigen sich vermehrt Anzeichen einer entfremdeten Liebesbeziehung. Die Personifikation3 „Seit jenem Tag sind viele, viele Monde geschwommen“(V. 9f.) unterstreicht den zeitlichen Abstand zwischen der geschilderten Handlung und der Gegenwart und zeigt, dass mit der Zeit aufregende Momente in der Vergangenheit langsam von dem Alltag verdrängt werden, bis schließlich selbst die Erinnerung an das Erlebnis in Vergessenheit geraten ist.
Die direkte Ansprache an die Leserschaft, eingebunden in eine rhetorische Frage (vgl. V. 12f.), regt im Weiteren die Leserinnen und Leser zum Nachdenken an, wie man denn solche Geschehnisse einfach vergessen könne. Es entsteht eine Art Dialog zwischen dem lyrischen Ich und den Rezipientinnen und Rezipienten (vgl. V. 14), in dem das lyrische Ich zwar das Vergessen der äußeren Erscheinung seiner ehemaligen Liebe bekundigt, nicht aber ihr gemeinsamer Kuss beziehungsweise ihre gesamten geteilten Momente an diesem damaligen Sommertag.
Eben dieser Kuss wird zu Beginn der dritten und somit letzten Strophe erneut aufgegriffen. Nur durch Berührungspunkte der Natur („Wolke“, V. 18) kann sich das lyrische Ich noch indirekt an seine ehemalige Geliebte Marie erinnern, nicht zuletzt deswegen, weil ihre geteilte Zweisamkeit „(...) nur Minuten (blühte)“ (V. 23). Hier wird nicht nur die Schnelllebigkeit von als besonders schön empfundenen Momenten fokussiert, sondern zugleich auch eine unausweichliche Vergänglichkeit. Jede „Erinnerung an die Marie A.“ (Titel) ist lediglich ein Abbild aus dem Gedächtnis des lyrischen Ichs, welche mit der Zeit an Gefühlsempfindungen verlieren kann. Diese Vergänglichkeit durch den Verweis auf eine Wolke setzt Brecht der Beständigkeit eines „Pflaumenbaum(s)“ (V. 21) gegenüber, welcher auch über die gesamte vergangene Zeit möglicherweise noch immer blüht. Durch die schwärmerischen Gedanken seitens des lyrischen Ichs könnte man Gleiches auch für seine ehemalige Liebe meinen, an der es auf einer gewissen Art und Weise auch noch nach so vielen Jahren hängt. Der kurzzeitig aufgeblühten Stimmung wird jedoch mit Blick auf die möglichen, gegenwärtigen Lebensverhältnisse der Marie A. schnell ein Ende gemacht, denn das lyrische Ich weiß, sie „(...) hat jetzt vielleicht das siebte Kind“ (V. 22). Die wiederholte Verwendung des Begriffs „vielleicht“ (V. 21f.) unterstreicht hier die Ungewissheit des lyrischen Ichs bezüglich der Marie A. und zeigt, wie lange die Beiden vermutlich schon keinen Kontakt mehr miteinander hatten.
Die Metapher4 „(..) jene Wolke blühte nur Minuten“ (V. 23) unterstreicht die Bedeutung dieses einzigen Moments, den das lyrische Ich auch so lange Zeit später nicht vollends vergessen konnte, was auch als stiller Appell an die Leserschaft gedeutet werden kann, den Augenblick bewusster zu erleben und wertzuschätzen. In einer solchen Geschwindigkeit, mit der ihm seine Gedanken jetzt die Sinne erwecken und ihn in Erinnerungen alten Tagen schwelgen lassen, verschwindet auch die Wolke im Wind, und mit ihr die Erinnerungen an die Marie A..
Die allgegenwärtige Thematik der „Zeit“ besitzt schlussfolgernd in dem von Bertolt Brecht erschaffenem Werk „Erinnerung an die Marie A.“ einen ganz besonderen Stellenwert. Kennzeichen hierfür sind nicht zuletzt die beiden gegenüber gestellten Bereiche „Vergänglichkeit“ und „Beständigkeit“, wobei er die Liebe als vergänglich darstellt, wodurch es sich hier eben auch nicht um ein klassisches Liebesgedicht handelt. Romantische Züge sind lediglich durch die Verbindung zur Natur ersichtlich, durch welche das lyrische Ich erst überhaupt an seine ehemalige Geliebte erinnert wird (durch die Wolke), diese jedoch ebenso rasant wieder verschwinden lässt.