
Gedicht: Große Zeiten (1931)
Autor/in: Erich KästnerEpoche: Neue Sachlichkeit
Strophen: 4, Verse: 16
Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4, 4-4
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In dem 1931 erstmals veröffentlichten Gedicht Erich Kästners Große Zeiten geht es um die Zeit in personifizierter Form. Es handelt sich um eine Gesellschaftskritik, die er sprachlich versteckt und gleichzeitig versucht aufzudecken.
In vier Abschnitten mit je vier Zeilen ist das Wachsen der Zeit und dessen Auswirkungen Hauptthema. Dazu passt der dynamisch voranpreschende Rhythmus: in jedem Vers wird fünfmal abwechselnd ein Wort betont, beginnend mit einem Auftakt (Jambus). Dabei ist anzumerken, dass sich zum einen die Abschnitte eins und drei sowie zwei und vier rhythmisch gleichen. Demnach liegen nur Abschnitte vor da nicht alle “Strophen” gleich aufgebaut sind. Dieses weder Fisch noch Fleisch Sein kann eine literarische Übersetzung der Historie sein, in der die neue Demokratie noch bestand, das nationalsozialistische Denken jedoch immer noch vorhanden war. Zum anderen spürt der Leser durch den rhythmischen Gleichklang, durch die Monotonie, das Dumpfe, Dumme, das Kästner in seinem Werk verdeutlichen will. Jedoch versteckt er seine Kritik sprachlich. Besonders auffällig ist dabei der Dreiwortsatz „Er ist gut.“ (V. 6), der den ansonsten nahezu durchgängigen Zeilenstil1 durchbricht und Antwort auf die Frage gibt, was der Mensch dagegen mache, dass die Zeit wachse (vgl. ebd.).
Die Problematisierung dieses Wachsens erfolgt bereits im ersten Abschnitt. Eine Assonanz2 („so groß“ V. 1.4.15) hebt sie ebenso hervor, um die wichtige und einschneidende Veränderungen zu unterstreichen, wie die beständige Wiederholung des Wachsens und der Größe (vgl. V. 1.2.5.15). Dabei kommt man nicht umhin den Zeitaspekt in den Blick zu nehmen. Schon bei dem anderen Aussetzen des Zeilenstils in Zeile drei wird ausgestellt, wie schlecht es der Zeit in der Folge ihres „rasch[en]“ (ebd.) Wachsens ergehen werde. Durch die Personifikation3, die sich in den folgenden Zeilen fortsetzt, wird das Mitgefühl des Lesers in diesem Kontext befördert.
Offenbar liegt der Ursprung des Übels bereits in der Vergangenheit, setzt sich heute fort und wird in der Zukunft (mit der sich die Zeit über die Verse zwei und vierzehn anaphorisch verbindet) gravierende Auswirkungen haben (vgl. V. 7). Schon jetzt scheint ehemals Beständiges gesprengt zu werden („Schon geht sie aus den Fugen“ (V. 5)). Grundfeste, oder als grundlegend fest Geglaubtes, wird überschritten. Und Hilfe ist nicht in Sicht. Mit einem antithetischen Chiasmus wird die Dramatik der Lage verdeutlicht: während es um die (Geistes-?) Kranken immer schlimmer bestellt ist („in den Wasserköpfen steigt die Flut“ (V. 7)), sind die Gehirne der Klugen leer, was in der Tat dramatisch ist, wenn man sich darauf verlassen möchte, dass in der Not die Geistesgegenwärtigen Abhilfe zu verschaffen wissen.
Ob die Klugen jedoch im Angesicht der braunen Flut (Nationalsozialisten) einfach nur hilflos sind oder – ähnlich wie die Wasserköpfe – zu den Dummen gezählt werden müssen, bleibt des Lesers Interpretation überlassen, wenn in Vers neun schlicht konstatiert4 wird, wie in einer Vielzahl von Zeitungen verschiedener Richtung „[d]er Optimistfink schlägt“. In diesem Neologismus5 steckt sowohl das Wort Optimist als auch der Mistfink, der gemeinhin abwertend einen niederträchtigen Menschen bezeichnet. Durch diese Kombination wird die herabwürdigende Haltung des lyrischen Ichs denjenigen gegenüber deutlich, die – vielleicht ein wenig naiv – in die Zukunft schauen.
In den folgenden zwei Versen entsteht eine Verbindung zu Abschnitt zwei. Der gute Mensch, die Menschheit oder zumindest ein guter Teil davon (vgl. V. 6.10), hat den blinden Optimismus befördert. Ob es nun die Wasserköpfe, die Klugen, oder irgendjemand anders war bleibt offen. Hier zeigt sich, wie gut Kästner seine Kritik zu verhüllen vermag. Wenngleich er in beißendem Spott der Hohn des lyrischen Ichs in Vers zwölf zum Ausdruck bringt, wenn davon die Rede ist, wie angenehm es den Menschen sei dumm zu sein (vgl. V. 12).
Dem gegenüber steht die Zukunft, der man heute bereits ansehen kann, wie es ihr angst und bange wird. An dieser Stelle kommen Personifikation und Metapher6 zusammen um die Dramatik abermals zu unterstreichen. Dabei fällt auf, dass der Prozess der Ausdehnung ein schleichender zu sein scheint. Denn nur langsam, „sacht“ (V. 12), spürt die Zeit wie eisig es ist oder wird.
Es enttäuscht den Leser in Abschnitt vier schließlich zu vernehmen, dass es zwar Menschen zu geben scheint, welche die Gefahr der Lage erkannt haben, diese aber nicht Gehör finden (vgl. V. 13). Dabei scheint es 1931 durchaus nicht ungefährlich zu sein, klar formulierte Kritik zu äußern. Die in Vers 13 verwendete Alliteration7 lenkt den Fokus einerseits auf die Menschen, die warnen wollen, andererseits lässt der Autor an dieser Stelle eine Leerstelle. Somit sagt der Text nicht vor was gewarnt werden soll. Es scheint bereits zu spät zu sein: die Ausbreitung der Dummheit hat die Ausmaße einer Epidemie ausgenommen (vgl. V. 14). Damit gibt es eine inhaltliche Parallele, durch die man darauf schließen kann, dass es ausschließlich die Ausbreitung der Dummheit in der – vergangenen, gegenwärtigen, künftigen - Zeit ist, welche selbige gefährdet. Man könnte sogar sagen, die Menschen würden sich selbst gefährden. Die Menschheit, bzw. das „Volk“ (V. 16), wie sie in national gesinnten Zeiten gerne genannt wird, ertrinkt, stirbt schließlich, durch den Wahnsinn, der am Ende des Gedichts durch einen Euphemismus8 an markanter Stelle abermals ausgestellt wird.
Zusammenfassend kann man sagen der Text, wie schon am Anfang erwähnt, sich um eine Gesellschaftskritik, die der Dichter sprachlich versteckt und gleichzeitig aufzudecken weiß handelt.
Auch Kazimierz Bartoszewicz, ein Zeitgenosse Kästners, sagte, die Dummheit sei ansteckend. Der Verstand wachse sich selten zur Epidemie aus. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen nationale Kräfte wieder erstarken, ist es an der Zeit Texte wie Kästners nicht nur zu rezipieren9, sondern sich von ihnen anrühren und aufrütteln zu lassen. Denn Geschichte muss sich nicht wiederholen.