Gedicht: Besuch vom Lande (1929)
Autor/in: Erich KästnerEpoche: Neue Sachlichkeit
Strophen: 4, Verse: 20
Verse pro Strophe: 1-5, 2-5, 3-5, 4-5
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Besuch vom Lande“ wurde 1929 von Erich Kästner (1899 - 1974) veröffentlicht und thematisiert die Wirkung der deutschen Hauptstadt auf Besucher aus ländlichen Regionen. Der deutsche Autor Erich Kästner bezieht sich dabei womöglich auf seine eigenen Eindrücke, die er ab 1927 nach seinem Umzug über Berlin sammeln konnte. Einige Jahre zuvor beteiligte er sich 1917 als Soldat am Ersten Weltkrieg und litt seitdem an einem schweren Herzleiden. Nach seinem erlangtem Abitur 1919 in Dresden begann er sein Studium in Leipzig mit den Fächern Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte und arbeitete später neben dem Studium bei der „Neuen Leipziger Zeitung“, bei der er allerdings 1927 nach fünfjähriger Anstellung entlassen wurde aufgrund der Veröffentlichung erotischer Gedichte. Daher entschied Kästner sich für einen Umzug nach Berlin, wo er 1933 erstmals von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet wurde und viele seiner Werke von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt wurden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zog er schließlich aufgrund seiner Mitarbeit bei einem dortigen Kabarett nach München, wo er 1974 im Alter von 75 Jahren verstarb.
Sein von ihm hier geschaffenes Gedicht wurde also zwei Jahre nach seinem Umzug nach Berlin veröffentlicht, sodass eigene Erfahrungen und biografische Einflüsse bei der Entstehung mitgewirkt haben können.
Aufgrund der Entstehungszeit und der hier thematisierten Wirkung einer Großstadt auf Bewohner von außerhalb lässt sich dieses Werk von Erich Kästner der Neuen Sachlichkeit (ca. 1918- 1933) zuordnen, der vorherrschenden Strömung in der Literatur zur Zeit der Weimarer Republik. Sie ist gekennzeichnet durch eine sachliche, objektive und distanzierte Wiedergabe der Realität, bei der auf eine Darstellung der Gefühle verzichtet wird. Da oftmals die Gesellschaft sowie dessen historische und politische Veränderungen beschrieben werden, wurde eine einfache und leicht verständliche Alltagssprache verwendet, damit auch weniger gebildete Menschen angesprochen werden konnten. So wurde die Literatur zu einem Massenmedium und schaffte damit den Sprung in die Moderne, doch gerade diese häufig politischen Inhalte wurden von den Nationalsozialisten nicht akzeptiert. Es folgten Verbote für viele Bücher, und zudem gingen einige Autoren in das Exil, wodurch die „Neue Sachlichkeit“ schließlich aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ihr Ende fand.
Das Gedicht teilt sich in vier Strophen mit jeweils fünf Versen auf und zeigt kein eindeutiges Metrum1. Gleiches könnte man bei der ersten Betrachtung auch zu dem Reimschema sagen, welches jedoch bei genauerem Hinsehen eine etwas unauffällige Reimstruktur („abaab“- Reime) aufweist. Auch der Satzbau unterstützt diese Diversität der äußeren Form: So formuliert Kästner manchmal zwei getrennte Sätze in einem Vers, manchmal sind die Sätze hingegen zeilenübergreifend. Diese gesamten Auffälligkeiten stehen für die vielen dort herrschenden Kontraste und heben die Unruhe und Hektik in der Großstadt hervor, ganz im Gegensatz zu der Gelassenheit und Idylle ländlicher Regionen. Trotz dieser vielfältigen Darstellungsweisen zieht sich eine Auffälligkeit durch das gesamte Gedicht hindurch, nämlich eine parataktische Schreibweise und die Tatsache, dass in dem gesamten Werk nur die dritte Person Plural als Personalpronomen2 verwendet wird.
Bereits der erste Vers fasst die gesamte Wirkung des Gedichtes kurz zusammen: Eine Gruppe von Menschen, die normalerweise nur das Landleben kennen, sind völlig überwältigt von dem „Potsdamer Platz“ (V. 1), einem zentralen Punkt der Stadt. Beschrieben werden sie dabei von einem Betrachter, welcher in den ersten drei Strophen seine Beobachtungen relativ sachlich darstellt, in der letzten Strophe hingegen eher zur Subjektivität neigt. Somit findet sich de facto auch kein lyrisches Ich wieder.
Wie oftmals in einer großen Stadt findet auch in Berlin öffentliche Prostitution statt (vgl. V. 4f.), nicht zuletzt aufgrund eines lauten Nachtlebens mit vielen grellen und bunten Lichtern (vgl. V. 3). Hinzu kommt eine laute, die Nachtruhe störende Musik, welche natürlich ungewöhnlich bedrückend auf Personen wirkt, die normalerweise in einem ruhigen Dorf außerhalb von großen Ballungszentren wohnen. Die Formulierung „Und finden Berlin zu laut“ (V. 2) stellt dabei einen Klimax3 dar, welcher in einen Parallelismus eingebunden ist. Diese Struktur zeigt sich im weiteren Verlauf zudem in den Versen zehn, fünfzehn und neunzehn.
Die ersten beiden Verse der zweiten Strophe heben sehr deutlich die Passivität der Landbewohner dar, welche wegen der überwältigenden Wirkung der Großstadt wie gelämt am Potsdamer Platz stehen, während in ihrer Umgebung die Menschen hektisch mit der Bahn oder den Autos fahren (vgl. V. 8: „Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein“; Personifikation4). Dabei fällen sie ziemlich schnell die Entscheidung, wieder zurück nach Hause kehren zu wollen, da sie Berlin „zu groß“ (V. 10) finden. Dies zeigt zudem, dass sich die Landbewohner überhaupt nicht auf eine solch große Stadt einlassen und direkt in ihrem Sinne negativ bewerten. Als Erläuterung dafür lässt sich die dritte Strophe heranziehen, in der Erich Kästner schreibt: „Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt.“ Im Gegensatz zu den Dörfern auf dem Land ist Berlin nunmal eine sehr große Stadt, welche ziemlich hektisch, hell und laut sein kann, und das auch in den nächtlichen Stunden. Ein Grund hierfür ist sicherlich der technische Fortschritt wie zum Beispiel das grelle Licht der Laternen auf den Straßen oder die lauten Geräusche der U-Bahnen (V. 13: „Die U-Bahn dröhnt“; Personifikation), welche den Landbewohnern völlig fremd zu sein scheinen. Doch auch für die Personen, die schon eine lange Zeit in Berlin wohnen, schritt beziehungsweise schreitet die Industrialisierung mit einer enormen Geschwindigkeit voran, wodurch eine gewisse Aktualität der hier von dem Autor beschriebenen Veränderungen immer noch besteht, zumindest in abgeschwächter Weise. Außerdem greift Kästner zu Beginn der dritten Strophe durch eine Personifikation erneut das Thema der Prostitution auf, wenn er schreibt: „Es klingt als ob die Großstadt stöhnt (..)“.
In der letzten Strophe endet schließlich der Besuch der Landbewohner in Berlin damit, dass sie auf dem Potsdamer Platz solange inaktiv herumstehen, bis sie letztlich überfahren werden. Die wilde und laute Art von Berlin hat sie so verängstigt, dass sie „(...) die Beine krumm“ (V. 16) machen und anscheinend so lange warten wollen, bis ihre Umgebung daran etwas ändert.
Somit lässt sich aus den obrigen Interpretationsansätzen zusammenfassend feststellen, dass Erich Kästner mit seinem Gedicht „Besuch vom Lande“ die Unterschiede zwischen einer Großstadt und ländlicheren Regionen näher erläutert, indem er die Wirkung der deutschen Hauptstadt auf Personen beschreibt, welche in abgelegenen Regionen außerhalb von Ballungszentren wohnen. Und da sich auch heutige Großstädte im ständigen Wandel befinden, besitzt dieses aus dem letzten Jahrhundert stammende Gedicht auch heute noch aktuelle Bezugspunkte und Thematiken.