Gedicht: Der Spruch (1945)
Autor/in: Erich FriedEpoche: Nachkriegsliteratur / Trümmerliteratur
Strophen: 1, Verse: 4
Verse pro Strophe: 1-4
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ ist uns von Heraklit von Ephesus (ca. 500 v. Chr.) überliefert. Und auch Erich Fried bezeichnet in seinem „Spruch“ aus dem Jahre 1945 den Krieg als den Vater des Sieges, verkörpert durch das lyrische Ich, und als den Großvater des Friedens.
Während Heraklits Sentenz auf den ersten Blick und ohne Kenntnis seiner Philosophie schwierig zu erschließen ist, schafft Fried in seinem Vierzeiler ein sofortiges Verständnis beim Leser, indem er Heraklits Familien-Analogie weiterführt und ein ausgeprägtes Porträt der Familie Menschlicher Lauf der Dinge liefert. Denn nicht weniger beschreibt der Spruch als den Gang der Welt seit Menschengedenken.
Zum Neujahrswechsel 1945/46 versandt Fried den Spruch auf einer Postkarte an seine Freunde. Ein pessimistischer Neujahrgruß, ein halbes Jahr nach Ende des blutigsten aller jemals gefochtenen Kriege. Der geborene Jude Fried verfolgte das Kriegsende von London aus, nachdem er 1938, auf den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland hin, aus Wien geflohen war.
Großbritannien gehörte zu den Siegermächten des zweiten Weltkrieges, doch die Menschen litten Not. Vor allem für überlebende Juden war der Untergang der Nazis kaum als Sieg über jene zu bezeichnen, in Anbetracht der grausamen Vergehen an Familienmitgliedern und Freunden. Schon die erste Zeile entpuppt sich demnach im historischen Kontext als ambivalent. Ein Sieg ist nicht immer glücklich, ein Sieg macht nicht immer glücklich.
Ein Sieg folgt immer auf einen Krieg bzw. Konflikt – auch Heraklits „Krieg“ ist in diesem allgemeinen Sinne zu verstehen: Das altgriechische Wort polemos kann auch Kampf, Konflikt bedeuten; und auf einen Sieg folgt immer eine kurze oder lange Periode des Friedens.
Krieg und Frieden wechseln sich also immer ab, denn nach dem Frieden steht irgendwann wieder der Krieg vor der Tür, der dem Frieden nach Fried sogar „gleicht“.
Diese Periodizität zweier Zustände finden wir nicht nur in Krieg und Frieden, Vater und Sohn, sondern in vielfältiger Weise im natürlichen Lauf der Dinge. Tag und Nacht wechseln sich ab, Sommer und Winter, Warmzeit und Eiszeit. Abstrakt lässt sich von einem Dualismus der Prinzipien Konstruktion und Destruktion sprechen, und vor allem am zweiten Weltkrieg ist dies sehr anschaulich. Fried prophezeite also eine Periode des Friedens, und diese war eine Phase des Wiederaufbaus, der Konstruktion. Nachdem die Kriegsmächte ihre Städte im zweiten Weltkrieg gegenseitig zerbombt, also destruiert hatten, bauten sie sie nach 1945 wieder auf.
Die verheerende Zerstörung Deutschlands war überhaupt die Voraussetzung für einen Neuanfang zur Stunde Null und somit für das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre.
Frieds Spruch ist also sehr realistisch; gleichzeitig aber auch pessimistisch, weil er pünktlich zum ersten Friedensjahr einen neuen Krieg prophezeit, indem er die Ereignisse in einen unentrinnbaren, weil natürlichen Kreislauf stellt.
Das lapidare Auslassen von Satzzeichen verstärkt den fatalistischen Charakter des Gedichts. Denn was nützt (deutsche) Korrektheit schon, wenn es um Leben und Tod geht.
Frieds Erkenntnis scheint banal, was unterstützt wird durch den pauschalen Titel und den einfachen Paarreim, doch sie ist eminent zum Verständnis der Welt.
Dazu lohnt es, das Gedicht aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ein Sohn erfordert Vater und Großvater, ohne Großvater kein Enkel. Stellen wir uns eine Welt vor ohne Krieg, ohne Streit, ohne Konflikt. Wer wüsste in einer solchen Welt den Wert von Frieden und Harmonie zu schätzen?
Sobald etwas selbstverständlich ist, schätzen wir es nicht mehr. Gäbe es keine Krankheiten auf der Welt, so gäbe es auch keine Gesundheit, weil Gesundheit nur aus ihrem Kontrastpartner ihre Existenzberechtigung schöpft.
Darf ich meinen (Groß)Vater überhaupt verurteilen? Verdanke ich ihm doch meine Existenz!
Diese dialektische Weltsicht lohnt es sich, gerade in Friedenszeiten wie unserer, immer wieder vor Augen zu führen. Das Gute ist nicht selbstverständlich, und es ist nur gut, weil es auch Schlechtes gibt.