Drama: Emilia Galotti (1772)
Autor/in: Gotthold Ephraim LessingEpoche: Aufklärung
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das bürgerliche Trauerspiel „Emilia Galotti“ von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1772 handelt von den bürgerlichen Mädchen Emilia Galotti, die einer Intrige des Prinzen zum Opfer fällt. Der hier vorliegende Auszug aus dem siebten Auftritt des fünften Aktes ist der vorletzte des Dramas und thematisiert die Katastrophe des Stücks. Emilia, die in den vorangegangenen Auftritten infolge der geglückten Intrige auf dem Lustschloss des Prinzen weilt, trifft in dieser Szene auf ihren Vater, der auf Rache am Prinzen aus ist. Zuvor, im vierten Akt, wurde die Möglichkeit, Emilias dauerhaft habhaft zu werden, vom Prinzen und Marinelli diskutiert. Zum Schluss war es der Plan, die Eltern und Emilia zu trennen, um sie besser manipulieren zu können. Der vorliegende Auszug lässt sich in zwei große Gesprächsphasen aufteilen.
Die erste Gesprächsphase (Z. 1-54) beginnt mit dem Zusammentreffen Emilias und Odoardos.
Durch ihre hastigen Fragen: „Wie? Sie hier, mein Vater? – Und nur Sie“ – Und meine Mutter? […]“ (Z. 2-4). Wird Emilias innere Unruhe sehr deutlich. Die zahlreichen Ellipsen1 zeigen, dass sie innerlich zerrissen ist und die Erlebnisse des Tages noch nicht verarbeitet hat, vor allen Dingen dadurch, dass durch das wenig einfühlsame Verhalten des Prinzen und die vorausgegangenen negativen Erlebnisse mit diesem keinerlei geordnete Gedanken bei ihr möglich sind. Dennoch fällt der selbst aufgebrachten Emilia die Unruhe ihres Vaters sofort auf:
„Und Sie so unruhig, mein Vater?“ (Z. 4). Emilia sieht die Gefühle ihres Vaters, obwohl dieser versucht, diese nicht zu zeigen. Odoardo ist nämlich immer noch aufgewühlt infolge des Gesprächs mit Orsina, die ihm einerseits die Wahrheit über den Tod des Grafen offenlegt und ihn andererseits, aus sehr eigennützigen Gründen, zur Rache am Prinzen anstachelt. Die
Gegenfrage Odoardos: „Und du so ruhig, meine Tochter?“ (Z. 5) scheint dem Leser bzw. Zuschauer zunächst als unberechtigt, da Emilia augenscheinlich ebenfalls aufgewühlt ist, doch bei näherem Betrachten wird deutlich, dass er versucht, seine Tochter zu testen. Odoardo ist als
„pater familias“ und den damit verbundenen Aufgaben und denen eines Untertans hin- und hergerissen. Er stellt sich die Fragen, wie und ob er Emilia helfen kann und auch, ob diese Hilfe überhaupt will (vgl. S 68, Z. 8ff.). Nach eigener Auffassung ist der Prinz ein Verbrecher ohnegleichen, der seiner Tochter mit allen Mittel habhaft werden will, dennoch kommt in ihm die Sorge auf, dass Emilia dies nicht genauso sieht und sich womöglich mit der Situation arrangiert. Nun jedoch scheinen sich Emilias Gedanken zu ordnen: „Entweder ist nichts verloren: oder alles. Ruhig sein können, und ruhig sein müssen: kommt es nicht auf eines?“ (Z. 6-8). An dieser Aussage wird deutlich, dass Emilia begriffen hat, dass sie sich nun in der Hand des Prinzen befindet. Aus Claudias Schilderung vom Tod des Grafen und der Intrige, die sie ihrer Tochter kurz zuvor sicherlich mitgeteilt hat, hat Emilia anscheinend die Schlüsse gezogen, nicht mehr viel ausrichten zu können und dennoch ruhig bleiben zu müssen. Emilia, durch die Erziehung der Eltern zu einem durchaus klugen jungen Mädchen herangewachsen, zeigt hier dennoch ihre Angst vor dem Adel und dessen Einfluss. Schon vorher hat sie sich den Prinzen sofort untergeordnet (vgl. S. 39 ff.), was ihre Ängstlichkeit und, auch durch die Erziehung hervorgerufene, Unmündigkeit aufzeigt. Zu diesem Zeitpunkt scheint es, als sähe Emilia keinen Ausweg aus ihrer Lage, denn „alles [ist] verloren“ (Z. 10 f.). Diese Aussage beruhigt Odoardo noch nicht, denn er fragt sie sofort, ob sie einfach ruhig wäre, wenn sie es müsse und hakt nach, was sie denn genau meine (vgl. Z. 12-16). Seine erste Frage impliziert den Vorwurf, sie ordne sich ohne Widerstand einem Schurken wie dem Prinzen unter, was seine Sorge bestätigt, Emilia könne an ihrer neuen Situation Gefallen finden. Doch ihre Erwiderung zeigt deutlich das Gegenteil: „Und warum er tot ist! Warum! (Z. 17). Die energischen Ausrufe Emilias drücken sowohl ihre Empörung und Abscheu als auch Verzweiflung und Angst aus, denn sie zeigen, dass sie verstanden hat, dass es sich bei dem Tod Appianis um die Eroberung ihrer Person ging und sie selbst Gegenstand einer Intrige geworden ist. Auf die Aussage ihres Vaters, ihre Mutter sei schon weg und sie sollten folgen, reagiert Emilia weiterhin aufgebracht: „Doch wenn der Graf tot ist; wenn er darum tot ist- darum! Was verweilen wir noch hier? Lassen Sie uns fliehen, mein Vater!“ (Z. 24-26). Noch immer spricht sie nicht aus, weshalb genau Appiani sterben musste und zeigt somit, sodass diese Art von Verbrechen aus Lust heraus einfach nicht in ihr Weltbild passt. Der Mord an ihrem Verlobten, nur um selbst als ein Lustobjekt des Prinzen zu enden, spricht komplett gegen ihre Vorstellungen und Erziehung und löst deshalb große Angst bei ihr aus. Schon spricht Emilia von Flucht, denn sie glaubt zu wissen, dass der Prinz sie nicht gehen lassen würde. Alles andere als optimistisch sieht Odoardo diesen Vorschlag: „Was hätt‘ es denn für Not? Du bist, du bleibst in den Händen dieses Räubers“ (Z. 27-28). Durch das Gespräch mit dem Prinzen ist Odoardo klar geworden, dass dieser über Leichen geht, um Emilia, seine Beute, besitzen zu können. Als er ihr eröffnet, sie würde nach dem Plan des
Prinzen von ihren Eltern getrennt werden, reagiert Emilia geschockt: „Nimmermehr – Oder sie sind nicht mein Vater. […] Gut, lassen sie mich nur; […] Ich will doch sehn, wer mich hält, - wer mich zwingt“ (Z. 31-35). Diese Reaktion verdeutlicht, dass Emilia fest davon ausging, bei ihrem Vater Unterstützung zu finden. Auch aus ihrer Sicht ist es die Aufgabe des Vaters, seine Tochter zu schützen und in ihrem Fall zu retten. Emilia hat zu diesem Zeitpunkt verstanden, was der Prinz von ihr will, nämlich sie selbst als zeitweilige Geliebte, als Lustobjekt. Dies steht im diametralen2 Gegensatz zu der Erziehung, die sie seitens Odoardos geprägt hat und löst bei ihr regelrechte Verzweiflung aus. Sie bezeichnet das, was ihr bevorsteht, als Leid (vgl. Z. 39) und als Unrecht (vgl. Z. 40). Dieser Umstand jedoch erfreut Odoardo ungemein, denn er zeigt, dass seine Erziehung bei Emilia gefruchtet hat. „Ha! Wenn du so denkst! – Laß dich umarmen, meine Tochter!“ (Z. 41-42). Diese ersten Ausrufe Odoardos zeigen seine Freude darüber, dass seine anfänglichen Sorgen über Emilias Einstellung unbegründet waren. Folgende Aussage verdeutlicht Odoardos Erleichterung darüber: „Ha, wenn das deine Ruhe ist: so habe ich meine in ihr wiedergefunden! Laß dich umarmen, Tochter“ (Z. 49-47). Diese Wiederholung verdeutlicht den Umstand, dass Odoardo nun überzeugt ist, seine Tochter nicht an den Prinzen verloren zu haben und zum ersten Mal nach der ausgeführten Intrige offen zeigen kann, wie erleichtert er ist, Emilia, seine einzige Tochter, unversehrt zu sehen. Hätte sich seine Sorge bestätigt, wäre Emilia seiner Meinung nach nicht mehr zu retten, da seine Erziehung bezüglich ihrer Vorstellung von Sexualität und Ehre nicht gefruchtet hätten. Nun ist Odoardo offener und erzählt ihr von dem Plan des Prinzen, sie von ihren Eltern zu trennen (vgl. Z. 48-51). Die
Wortwahl wie „Vorwand“, „höllisches Gaukelspiel“ zeigt seine Verachtung für den Prinzen und seinen Plan. Die Vorstellung Odoardos vom Hofe als Bild für Verderbtheit, Sittenlosigkeit und Ehrenlosigkeit scheint sich gänzlich bestätigt zu haben. Emilia hat jetzt Mut gefasst und ist energischer als zu Anfang: „Will mich reißen; will mich bringen; will! Will! – Als ob wir, wir keinen Willen hätten“ (Z. 52-54). Das ganz Stück über war Emilia ein Zeichen für die Unmündigkeit der Bürger, da sie nie eigenen Willen äußerte, an dieser Stelle jedoch ist es anders. Odoardo hat sie strikt nach Religion und Tugend hin erzogen, aber auch zu einer gewissen Unselbstständigkeit, hier jedoch ist ihr Ehrgefühl und ihre Angst vor dem Prinzen größer und treibt sie zu eigener Entscheidung. Damit endet die erste Gesprächsphase. Die Zweite (Z. 55-115) thematisiert mögliche Auswege oder Lösungen auf der Grundlage des väterlichen Erziehungsideals.
Odoardos Rachegedanken, die Orsina erst angeregt hatte, dann aber durch eigene Sorgen abgeschwächt wurden, kommen wieder zum Vorschein: „Ich ward auch so wütend, daß ich schon nach diesem Dolch griff, um einen von beiden – beiden! – das Herz zu durchstoßen (Z. 55-58). Die Möglichkeit, den Prinzen zu ermorden, kommt für Emilia jedoch nicht in Frage: „Dies Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. – Mir, mein Vater, mit geben Sie den Dolch“
(Z. 60-61). Mit der Bezeichnung „Lasterhafte“ stimmt Emilia ihrem Vater zu, der ebenfalls nur Negatives, Ehrloses und Sittenloses beim Prinzen und Marinelli erkennt und verurteilt mit diesem einen Wort die Welt, i der sie gelandet ist. Auch grenzt sie sich klar ab, denn sagt indirekt, dass sie, im Gegensatz zum Prinzen, mehr hat als das irdische Leben. Da Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt, ist klar, dass sie meint, durch ihre Verbindung zu Gott auch ein Leben nach dem Tod zu haben. Ihr Plan, sich umzubringen und so ihrem Schicksal zu entfliehen, wird hier zum ersten Mal ausgesprochen. Von diesem Vorhaben ist Odoardo aber alles andere als angetan: „Besinne dich. – Auch du hast nur ein Leben zu verlieren“ (Z. 66-67).
Hier wird deutlich, dass Odoardo, obwohl er seine Tochter am Ende tötet, nur schützen und ihre Ehre bewahren will, denn noch versucht er einen anderen Ausweg zu finden und duldet es nicht, dass seine Tochter ihre Ehre mit einem Selbstmord beschmutzt. Emilia jedoch ist davon nicht überzeugt: „Was Gewalt heißt, ist nichts. Verführung ist die wahre Gewalt“ (Z. 70-71). Durch die starren Erziehungsprinzipien ihres Vaters geformt, kann Emilia nicht mit ihren Gefühlen umgehen. Ihre Angst, ebendiesen natürlichen Gefühlen zu erliegen ist bei ihr größer als die Angst, vom Prinzen genötigt zu werden. Die Sittsamkeit und Strenge Odoardos Erziehung läuft hier ins Gegenteil der wahren Absicht. Emilia verurteilt sich für ihre Gefühle und ahnt, dass sie dem Prinzen mit all seinem Charme nicht wird wiederstehen können und sieht dies als Frevel: „Auch meine Sinne sind Sinne. […] Ich bin für nichts gut“ (Z. 74-75). Auch wird deutlich, dass nun die beiden unterschiedlichen Erziehungskonzepte ihrer Eltern gegeneinanderlaufen und zusätzliche Angst in ihr auslösen. Der Versuch ihrer Mutter, sie bei Hofe einzuführen, haben bei Emilia neue Gefühle ausgelöst, mit denen sie dank Odoardo nie gelernt ha umzugehen. Der Trubel und das ausgelassene Leben bei Hofe haben ihr gefallen, was jedoch nicht in ihre Vorstellungen von Sittsamkeit passt (vgl. Z. 76 ff.). Nur der Tod erscheint ihr in dieser Lage als Lösung. Sie bittet ihren Vater wiederholt um den Dolch (vgl. Z. 64, 83, 88), auch als dieser sich versichert, ob sie auch wisse, was sie täte (vgl. Z. 85). An dieser Stelle wird Odoardo nun auch vollends bewusst, dass er, egal wie der sich entscheidet, auf eine
Katastrophe zusteuert: „Wenn ich ihn dir nun gebe – da! (Gibt ihr ihn) […] sieh, wie rasch! – Nein, das ist nicht für deine Hand (Z. 89-94). Odoardo begreift die Tragik der Situation; einerseits kann er nicht zulassen, dass sich seine Tochter selbst das Leben nimmt, denn das wäre vollkommen gegen sein und Emilias Vorstellung von Ehre, doch andererseits bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, als die Ehre seiner Tochter zu bewahren und sie selbst zu töten. Alle anderen Möglichkeiten, wie ein Attentat auf den Prinzen, oder die Flucht aus der Reichweite von diesem, würden dazu führen, dass die Familienehre geschädigt, das Familienleben sogar gänzlich zerstört wird. In jedem Falle wären die Verluste größer als die Gewinne. Dennoch ist
Emilia von der Richtigkeit ihres Planes überzeugt: „Du noch hier? – Herunter mit dir! Du gehörst nicht in das Haar einer, - wie mein Vater will, daß ich werden soll!“ (Z. 97-100). An dieser Stelle meint sie die Rose, die sie sich morgens als Schmuck für ihre Hochzeit ins Haar gesteckt hat. Diese Blume steht als Symbol für ihre Hochzeit mit Appiani, die nie wird stattfinden können. Letztlich zwingt sie ihren Vater, sie zu töten: „(In einem bittern Tone, während daß sie die Rose zerpflückt:) Ehedem wohl gab es einen Vater der seine Tochter von der Schande zu retten […] – ihr zum zweiten Leben gab. […] Solcher Väter gibt es keinen mehr!“ (Z. 102-109). Mit bitterem Tonfall wirft sie ihrem Vater vor, sie nicht retten zu wollen.
Damit appelliert sie an seine Moralvorstellungen und Aufgaben als Familienoberhaupt, um zu verdeutlichen, dass ihr Tod durch die Hand Odoardos kein Verbrechen, sondern eine Rettung sei. Zudem betont sie noch einmal, dass ihr Leben danach zwar vorbei, ein Weiterleben im Jenseits dennoch möglich sei. Die feste Verankerung von Glauben in ihrem Leben wird dadurch unterstützt. Odoardo, der seine Tochter liebt und selbst schon mit dem Gedanken gespielt hat,
Emilia durch eine Tötung zu befreien, ist nun bereit, dies auch zu tun: „Doch, meine Tochter, doch! (Indem er sie durchsticht:) Gott, was hab‘ ich getan!“ (Z. 110-111). Zwar kann er sich nicht vorwerfen, Emilia ihrem Schicksal überlassen zu haben, dennoch zeigt sein verzweifelter Ausruf, dass ei seine Tochter liebt und nur sehr schwer mit ihrem Verlust wird umgehen können, obwohl seine Beweggründe durchaus edel waren. Bevor sie stirbt, macht Emilia nochmals deutlich, dass der Tod ihr Wunsch war: „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand“ (Z. 113-115). Emilia verdeutlicht, dass sie Odoardo leibt und froh ist, über seine Tat. Die „väterliche Hand“ hat sie, ihrer Auffassung nach, beschützt und erlöst. Zudem vergleicht sie sich mit einer gepflückten Rose, um zu zeigen, dass ihre Unschuld und Ehre so wie sie ist nur durch ihren Tod, also durch das Pflücken, bewahrt werden konnte und alles andere zum Gegenteil geführt hätte.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Emilia anfangs ein unmündiger Charakter war, nicht in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Erst die ausweglose Situation durch die Intrige haben ihr ein Stück Mündigkeit verliehen. Alle Werte bewahrend, die ihr Vater ihr ans Herz gelegt hat, stirbt Emilia am Ende auf Grundlage eigener Entscheidung, obwohl erst die gegensätzlichen Erziehungsprinzipien ihrer Eltern schuld an einer solchen Entwicklung ihre Persönlichkeit waren.