Kurzgeschichte: Ein Liebesversuch (1962)
Autor/in: Alexander KlugeEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Alexander Kluge ist neben seinen Tätigkeiten als Filmemacher, Fernsehproduzent und Drehbuchautor auch durch seine Arbeit als Schriftsteller bekannt geworden. Der 1932 geborene Verfasser vieler Texte erlebte neben familiären Auseinandersetzungen unter anderem den Luftangriff 1945 in seiner Heimat Halberstadt, bei dem eine abgeworfene Bombe in seiner Nähe detonierte und somit zu einem prägenden Erlebnis wurde. Nach Abschluss der Studiengänge Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik promovierte Kluge mit einer Dissertation. Zunächst arbeitete er als Rechtsanwalt, wendete sich jedoch später dem literarischen Berufsfeld zu. Sein 1962 veröffentlichter Prosatext „Ein Liebesversuch“ lässt sich in die Vorgeschichte der Auschwitzprozesse einordnen und handelt von dem Versuch der Lagerbeaufsichtigten zwei inhaftierte Juden durch Manipulation zum Geschlechtsverkehr zu bewegen, um Sterilisationsmaßnahmen zu testen.
Der vorliegende Text wird aus der Sicht der Betreuer des Versuches geschildert. Die Handlung läuft vom Versuchsaufbau über den Anfang des Versuches bis hin zum Ende und den Folgen ab. Der zentrale Konflikt umfasst die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern zur Zeit der damalig stattgefundenen Deportationen.
Die Beschreibung des Versuchaufbaus und ein Anriss des historischen Hintergrundes erfolgt von Zeile fünf bis zehn. In dem 1940 errichteten Konzentrationslager in Auschwitz wird drei Jahre später die Röntgenbestrahlung als billigstes Mittel zur Massensterilisation eingeführt. Um jedoch den Erfolg dieser präventiven Maßnahme festzustellen, werden zwei dort inhaftierte Juden unterschiedlichen Geschlechts gemeinsam in eine zum Zweck des Versuchs eingerichtete Zelle gesperrt. Die Opfer dieses Verbrechens scheinen zunächst zufällig zusammengeführt worden zu sein, jedoch werden Hinweise auf eine Verbindung beider im Verlauf des Textes geliefert. Ab Zeile elf zieht sich dann wie ein roter Faden eine Abwechslung von Frage und Antwort bis hin zu Zeile 117 durch den gesamten Text. Hierbei fängt jeweils immer ein Absatz mit einer kurzen Frage an, die in den darauf folgenden Zeilen beantwortet wird. Somit entsteht eine dem Interview oder auch dem Protokoll ähnliche Form der Informationswiedergabe. Die Handlung bezieht sich dabei auf den gesamten Verlauf des Versuchs, welcher zunehmend weniger Erfolg verspricht und einen unbefriedigenden Ausgang für die Aufsichtspersonen entwickelt. Um diesem entgegenzuwirken steigern sich die ergriffenen Gegenmaßnahmen ins Absurde und werden immer unmenschlicher. Da beide Versuchspersonen auf die geschaffenen Umstände nicht reagieren, wird neben der Herbeiführung neuer manipulativer Provokationen in der Erzählung stückweise mehr Information über den Versuchsaufbau preisgegeben. Nachdem später die Einsicht gewonnen wird, dass die Opfer immun gegenüber jeglicher Eingriffe von außen sind und sich durch diese nicht zum Geschlechtsverkehr bewegen lassen, werden beide erschossen. Inmitten dieses Abschnittes wird in den Zeilen 110 und 111 eine Montage erzeugt durch den Einschub einer dichterischen Phrase, welche zunächst völlig aus dem Kontext gerissen scheint. Zum Schluss, in den Zeilen 118 und 119, zieht der Autor eine Bilanz mit einer offenen Frage über die Unvereinbarkeit von Liebe und Situationen des Unglücks.
Im Gegensatz zu den grausam erscheinenden Umständen der Handlung bleibt die Haltung des Erzählers stets neutral und sachlich. Durch die übertriebene objektive Betrachtung des Geschehens entsteht Unbehagen beim Leser. Zudem wird er in den durch die Ich-Perspektive spürbaren personalen Erzählstil versetzt, der eine zumindest oberflächliche Identifikation mit dem Ich-Erzähler ermöglicht. Die im Text auftretenden Fragen stellt sich der Ich-Erzähler selbst, wobei die zielgerichtete Natur dieser Fragen auf eine unfreiwillige Selbstbefragung durch eine höhere Instanz von außen hindeutet. Zu Anfang jedes Abschnitts (Z.11, Z.23, Z.50, usw.) wird diese Situation durch eine knappe Frage verdeutlicht. Gegenüber dieser inneren Perspektive wird die den Versuch fokussierende Handlung durch Außensicht vermittelt und somit zum Erzählbericht. Dieser wird zusätzlich durch die distanzierte Haltung des Erzählers gebildet, welcher im Text überwiegend keine Wertung unternimmt oder eine Ansicht äußert. Die zeitraffende Erzählweise dient zur Zusammenfassung und Übersicht der wesentlichen vermittelten Fakten. Jedoch sind auch chronologische Besonderheiten wie Rückblenden im Text zu erkennen. In Z.51 wird die Eignung der Versuchspersonen füreinander mit der Vorgeschichte beider gerechtfertigt. Zudem wird in Z.78 die ausreichende und vorzeitig erfolgte Ernährung der Opfer versichert. Ansonsten folgt der Text chronologisch weitgehend der Handlung, welche durch die eingeschobenen Fragen vorangetrieben wird. Eine Aneinanderreihung solcher Fragen (Z.78-81) zeigt die Enttäuschung sowie die Frustration der Versuchsbetreuer auf. Es wird verstärkt nach Gründen für das Scheitern ihrer ergriffenen Maßnahmen gesucht, letztendlich bleiben diese Fragen jedoch offen. Hierbei versetzt sich der Erzähler erstmals annäherungsweise in die Opfer des Versuches. Ein weiteres auffälliges sprachliches Mittel stellt die Häufung von Parataxen in den Zeilen 51-56 dar. Durch die knappe und bündige Informationswiedergabe wird eine Übersicht über den Hintergrund der involvierten Personen geschaffen. Ein zentraler Satz wird in Z.63 f. geschaffen durch die betonende Wiederholung des Wortes „jetzt“. Hier wird deutlich, dass die Aufsichtspersonen langsam ungeduldig werden. In Folge dessen stellen sie sich Fragen, die unter anderem metaphorisch geäußert werden, als in Zeile 80 das „Unglück“ der Opfer mit einer „hohen Mauer“ verglichen wird. Der dichterische Einschub in den Zeilen 110 & 111 passt weder inhaltlich noch durch die kursive Schreibweise in das Gesamtbild der Erzählung. Hierbei wird ein beinahe trivialer utopischer Zustand in die grausame Erzählung eingebaut. Die in Zeile 27 vorkommende direkte Rede, die durch den Versuchsleiter erfolgt, beinhaltet eine Aufforderung an die anderen Personen am von außen beteiligten Versuch. Somit gewinnt die Erzählweise kurz an Lebendigkeit. Die Wortwahl des Erzählers beschränkt sich weitgehend auf die Standardsprache, jedoch ist sie von nationalsozialistischem Vokabular wie „Obergruppenführer“ (Z.88) oder „Rassenschande“ (Z.102) durchzogen. Durch die Verwendung dieser Begriffe wird der Leser in die historischen Umstände versetzt und erlebt die damalige Anpassung der Gesellschaft an diese hinsichtlich der Sprache.
Die Intention des Autors stellt die Konfrontation der Leser mit der unbequemen Wahrheit dar. In der Vergangenheit der Deutschen gibt es viele von Nationalsozialisten begangene Verbrechen, die heute als unmenschlich erachtet werden. Der Autor will die Leser durch eine schockierende Sichtweise auf die damaligen Zustände zur Empathie mit den Opfern bewegen. Durch die ständigen Fragen über die Versuchspersonen wird der Fokus des Lesers auf diese gelenkt. Obwohl sie das zentrale Element der Erzählung sind, geht man nur auf ihre Reaktionen ein und nicht auf die damit verbundenen Gefühle. Dies steht im Wiederspruch zum Titel „Liebesversuch“, da in der Geschichte praktisch keine Emotionen aufkommen. Zudem Wird das Wort „Liebe“ lediglich zur Umschreibung von Geschlechtsverkehr verwendet. Die hierbei vermittelte Auffassung von Liebe geht also davon aus, dass ihr elementarer Bestandteil körperlicher Natur ist. Diese und weitere ernüchternde Formulierungen lösen unter Lesern Bestürztheit aus. Somit wird einem Vergessen oder gar Verdrängen der deutschen Geschichte durch die Einprägsamkeit des Textes entgegengewirkt.
Im Text wird das Motiv des Täters in Form der Aufsichtspersonen beim Versuch verarbeitet. Auch Nathanael aus „Der Sandmann“ macht sich selbst zum Täter, indem er gegen Ende des Romans versucht, seine Verlobte Clara vom Turm zu stürzen. Hierbei ist hinsichtlich des Beweggrundes zur begangenen Tat zu unterscheiden. Während die Angestellten des Konzentrationslagers Mitläufer der damaligen nationalsozialistischen Bewegung und teilweise von ihren Werte überzeugt waren, ist Nathanael in seiner psychischen Verfassung von Wahnvorstellungen getrieben. Er glaubt am Marktplatz den vermeintlichen Coppelius ausmachen zu können und assoziiert diesen mit Gefahr. Während also die Verbrecher in Auschwitz im vollen Bewusstsein ihrer Taten handelten, ist Nathanael beeinflusst von seinem Kindheitstrauma. Zudem hat Nathanaels Handeln keine wirklichen Folgen für Clara, sondern endet in seinem Suizid. Die Opfer im Text von Kluge hingegen überleben nicht bis zum Ende. Sie sterben fernab jeder Zivilisation in einem vor der Öffentlichkeit verborgenem Experiment. Nathanael wiederum sucht sich für seine Tat einen öffentlichen Ort, da der Turm, von dem er Clara stürzen will, mitten in der Stadt liegt.
Nachdem Alexander Kluges Text „Ein Liebesversuch“ 1962 erstmals erschien, erzielte er große Bestürzung in der damaligen Gesellschaft. Die Kurzgeschichte diente in vielen Schulen als Lektüre. Heute ist sie bekannt als einer der bekanntesten Prosatexte von Alexander Kluge.