Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Kontextualisierung
Mörike wurde im Jahr 1804 in Ludwigsburg geboren. Neben der Tätigkeit als Lyriker, war Eduard Mörike Übersetzer römischer und griechischer Poesie. Wie gezeigt werden wird, spielt Mörikes Kenntnis der griechisch-römischen Mythologie auch für das Gedicht „Um Mitternacht“, welches er im Jahre 1827 im Alter von 23 Jahren geschrieben hat, eine entscheidende Rolle. In Mörikes Gedichten wird wie typisch für die Zeit des Biedermeier häufig die vertraute und heimatliche Landschaft beschrieben und besungen. Doch darüber hinaus wird in den Gedichten eine düstere Tiefe behandelt, die diesen eine fast modern anmutende Abgründigkeit und Trostlosigkeit verleihen. Eduard Mörikes Werk zählt nicht zuletzt deswegen zu den bedeutendsten literarischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts.
Analyse
Das Gedicht ‚Um Mitternacht’ setzt sich aus zwei sich gleichenden 8-versigen Strophen zusammen. Ins Auge des Lesers springt sofort die auffällige Einschiebung und Verkürzung des 7. und 8. Verses in beiden Strophen, die sich wörtlich wiederholen. Die jeweils ersten zwei Verse weisen einen vierfüßigen Jambus auf. Die folgenden beiden Verse haben in beiden Strophen 10 Silben und einen nicht mehr ganz eindeutigen Jambus. In der ersten Strophe sind die Verse 5 und 6 zehn Silben lang; der Rhythmus kann als sich abwechselnder Jambus und Daktylus verstanden werden, der wie die „Quellen“ in „kecker“ Art und Weise die Ruhe der ersten Verse stört. Damit fällt gleichzeitig eine inhaltliche Zweiteilung auf: in den ersten vier Versen der Strophen geht es um die Nacht, welche mit ungeheurer Müdigkeit und Langsamkeit geschildert wird. Im aufbrechenden und unruhebringenden Rhythmus geht es im zweiten Teil jeder Strophe um die „hervor-rauschenden“ Quellen, die unaufhörlich vom „gewesenen Tage“ singen (Z. 7-8 u. Z. 15-16). Mit dieser wörtlichen Wiederholung und den Aufbruch der Zeilen in einen dreisilbigen und einen neunsilbigen Vers bringt Mörike erneut Ruhe in das Gedicht. Als eine nachklingende Bestätigung, die selbst „im Schlafe“ noch tönt, wird wie am Ende eines Märchens („...Und wenn sie nicht gestorben sind,...“) ein besonderer Ruhepunkt erreicht, der gleichzeitig Endpunkt ist. Das gesamte Gedicht besteht aus Paarreimen (aa, bb, cc, [dd]).
Inhalt
Wie schon angedeutet, geht es in dem Gedicht um zwei verschieden Handelnde, die von einem Erzähler beschrieben werden. Es handelt sich hierbei zum einen um die personifizierte Nacht (Göttin der Nacht: Nyx) und zum anderen um die Kinder derselben, um die Quellen (Hesperiden, Wassernymphen, auch Najaden genannt).
Die Nacht kommt vom Meer her an das Land und lehnt sich „träumend“ (Z. 2) an eine Bergwand. Vorerst in der Vergangenheitsform beschrieben, taucht in den nächstfolgenden Versen nun nur die Gegenwartsform auf, welche das Geschehnis und das Ereignis von und zwischen der Nacht und den Quellen als ein in diesem Moment Passierendes auszeichnet und ihm Lebendigkeit und Authentizität verleiht.
Während die Nacht zunächst nur Augen für den Horizont hat, an dem die Sonne unterzugehen scheint, wofür die Bilder der goldnen Waage der Zeit und den sich gleichenden Schalen (Z. 3-4) ein Hinweis sein könnten, versuchen die Quellen in „kecker“ und kindlicher Weise der Mutter vom gewesenen Tage zu berichten, von dem, was die Mutter verpasst hat.
In den griechischen Göttersagen (Herakles) reist der Sonnengott Helios in einer solchen „Schale“ von Westen nach Osten über den Ozean. Die Waage könnte ein Symbol für den jüngsten Gott des Zeus gewesen sein: Kairos. Er steht für den Zeitpunkt der günstigen Gelegenheit oder für den rechten Augenblick, und könnte in Verbindung mit dem Titel „Um Mitternacht“ bedeuten, dass mit diesem besonderen Augenblick der Wechsel von Tag zu Nacht gemeint ist, da sich die Nacht nur allmählich ausbreiten kann.
In der zweiten Strophe findet sich ein weiterer Hinweis auf den Sonnengott: „Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch“ (Z. 12). Zum einen könnte das Joch ein Hinweis auf die Zugpferde des Wagens (der Schale) des Helios sein. Die Stunden werden gleichsam personifiziert, was in Verbindung mit dem Sonnengott ein sehr naheliegendes Bild ist. Die Stunden (Horen) waren Bedienstete des Sonnengottes und Schutzgötter der Tageszeiten. Doch in der griechisch-römischen Mythologie waren es nie die Stunden, welche den Sonnenwagen führten.
Nicht sehr hilfreich ist es, wenn man den vorangegangenen Vers dazu nimmt, wozu der besprochene Vers nur ein Nebensatz ist: „Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,“ (Z. 11). Das von den Stunden „gleichgeschwungene Joch“ ist eine nähere Beschreibung der „Himmels Bläue“ (Z. 11-12). Es handelt sich hierbei um eine Synästhesie1, mit der ein Objekt des Sehens in das Feld des akustischen und klingenden gezogen wird.
Durch dieses Stilmittel wird wiederum eine Verbindung zu vorherigen Versen hergestellt. Die singenden Quellen werden von der Mutter nicht gehört. Gleichzeitig wird der Gesang vom gewesenen Tage als Schlummerlied bezeichnet. Darüber hinaus wird dieses als „uralt“ und „alt“ bestimmt: eine Verdeutlichung der Langsamkeit, welche in der ersten Strophe schon beschrieben wurde. Die Nacht ist der Gegenpart zu den frechen Quellen. Sie hat nur Augen für des „Himmels Bläue“ und beachtet den Gesang ihrer Kinder nicht. Auch das Adjektiv süß, gerade in Verbindung mit „klingen“ (Z. 11) weist auf das gelassen-träumerische Verhalten der Nacht hin.
Der Leser hat sich das im Gedicht beschriebene Bild vielleicht so vorzustellen: Die Nacht kommt als ein übergroßer Schatten vom Meer an das Land und bleibt vorerst hinter einem Berg, wo das Licht der Sonne schon nicht mehr hingelangt. Mit dem fortschreitenden Untergang der Sonne am Horizont, wächst auch die Größe der Nacht. Bald ist der Berg überwunden und die personifizierte Nacht erblickt die gebogene Form der Sonne (als Schale) am Horizont. Doch schon ist die Sonne ganz verschwunden und die Nacht blickt nun in den Himmel. Sie bedeckt jetzt das ganze Land; vielleicht hat sie sich auf den Rücken gelegt, um den Sternenhimmel zu betrachten. Währenddessen wird der Nacht von den Töchtern ins Ohr gesungen.
Interpretation
Die verschiedenen Parts in dem Gedicht werden zum einen als nicht ruhefindende, im Schlaf noch weitersingende, rauschende Quellen vorgestellt und zum anderen als gelassen-träumerische und an Berge lehnende Nacht. Die wörtliche Wiederholung der verkürzten Verse in Zeile 7-8 und 15-16 hat einen tieferen Sinn inne:
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage
Das eingeschobene „heute“ weist auf eine Einzigartigkeit des Tages hin. Die Betonung liegt gerade auf diesem „heute“. Trotzdem heißt es am Anfang der zweiten Strophe, dass es sich um ein „uralt altes Schlummerlied“ (Z. 9-10) handle. Es ist aber gerade das täglich Neue, was die Nacht ermüdet und demzufolge nicht (be)achtet. Die Quellen sind, man könnte sagen, „berauscht“. In ihnen tönen immer fort die Geschehnisse des Tages. Es wirkt in den Quellen so stark, dass sie sogar noch im Schlaf weitersingen. Doch die Mutter ist das Schlummerlied „müd“, was übrigens wieder eine ungewöhnliche Wortwahl ist. Das Schlummerlied vermag die kecken Quellen in den Schlaf zu singen, doch die Nacht hat Größeres im Sinn.
Die Einzigartigkeit des „heute“ gewesenen Tages wird übergeführt in die gelassene „Weltschau“. Die „süße Bläue“ des Himmels vermag zu klingen (Z. 11). In dem Himmel liegt eine besondere Qualität, die für die Nacht anziehender und attraktiver ist, als das täglich Neue des Tages.
Auffallend bleibt doch neben der häufigen Benutzung von Verben und Adjektiven, die mit dem Schlafen zu tun haben, die erneute Betonung der Zeit nicht nur in der ersten Strophe. Die goldne Waage der Zeit, welche zu dem „richtigen Augenblick“ (Kairos) in gleichen Schalen ruht und die in der vorangegangenen Interpretation lediglich als Allegorie2 für die untergehende Sonne verstanden wurde, hat noch einen weiteren, wörtlicheren Sinn. Wenn beide Schalen einer Waage ausgeglichen sind, herrscht ein Gleichgewicht. Um Mitternacht befindet man sich nach gängiger Auffassung in der Mitte der Nacht; man hätte demnach nur ein Gleichgewicht zwischen früher und später Nacht. Wichtiger als der genaue Zeitpunkt in diesem Gedicht, und darauf weist schon der Titel hin: „Um Mitternacht" [herum], ist der Augenblick, wenn die Sonne der Nacht ‚gestattet’, sich allmählich auszubreiten.
Es geht nicht um den genauen zeitlichen Augenblick um 24.00 Uhr, sondern es geht vielmehr um den „rechten Augenblick“. Dieser kann andauern. Wenn die Zeit ruht, wenn der Tag und damit die Zeitlichkeit zu Ende geht, dann hat die Nacht die Zeit. Sie hat die Zeit in den unendlich weiten Himmel zu schauen. Dann hört man den Himmel sogar klingen.
Das Thema der Zeit taucht in der zweiten Strophe als nähere Beschreibung der Bläue des Himmels erneut auf. Die Stunden sind nur flüchtig (Z. 12), doch auch sie sind unter dem „gleichgeschwungenen Joch“. Dieses Joch ist das süß-klingende des Himmels. Und dieses selbe Joch hat Einfluss auf die Stunden, die flüchtig sind, die nicht mehr da sind, die zum Tage gehören.
Durch ein Joch wird im übertragenen Sinne eine Kraft gelenkt. Der Hinweis in dem Gedicht, dass dieses Joch „gleichgeschwungen“ ist, bedeutet, dass es nicht von einer willkürlichen, d. h. menschlichen Hand gelenkt wird. Es ist vielmehr das göttliche Gesetz, das den Lauf der Welt unter ein Joch gespannt hat. Dies ist die süße Bläue des Himmels: das Geordnetsein der Welt.
Es stehen sich als Sinnbilder gegenüber: der Kosmos, welcher die Nacht anzuziehen vermag; und das immer Neue des Tages, welche die jungen und kecken Kinder der Nacht in seinem Bann hat.
Doch im Gedicht wird mehr gesagt. Es wird das Verhältnis beider Sinnbilder geschildert. Der Tag steht der Nacht gegenüber. Die Nacht scheint prädestiniert dafür, den Himmel zu bemerken, denn sie hat mit dem Tag nichts zu tun, während die Quellen am Tage wach sind und in der Nacht schlafen. Der Himmel und sein „gleichgeschwungenes Joch“ hat auch Einfluss auf den Tag und auf dessen Stunden. Er überwölbt die Erde Tag und Nacht.
Doch warum kann nur die Nacht den Himmel klingen hören? Es ist, weil hier der „rechte Augenblick“ erreicht worden ist. Die Zeit ruht.
Aber stimmt es, dass die Nacht nichts mit dem gewesenen Tage zu tun hat? Die Nacht ist abhängig vom Tag und kann erst zum Vorschein kommen, wenn die Sonne verschwindet. Der Tag in seinem zweifachen Verhältnis als Zeitlichkeit und als ewig Neues (und damit als uralt altes Schlummerlied) ist Vorraussetzung für den genussvollen Anblick des Himmels während/von der Nacht. Die personifizierte Nacht nimmt den Platz der Sonne ein, ein Platz auf der Erde. Der Leser merkt: Man muss mit beiden Beinen auf der Erde stehen bleiben, wenn man seinen Blick zum Erhabenen emporheben möchte.
Nicht wie ein Historiker, sondern wie ein Poet bedient sich Eduard Mörike der griechisch-römischen Sagenwelt. Er verfängt sich nicht in Details, welche bei dem hohen Anspruch Mörikes fehl am Platze wären. Er schafft es innerhalb von 16 Versen das Erhabene der Welt und das Majestätische in sein Licht zu rücken. Mörike muss als einer der größten Dichter der Weltgeschichte gelten. Das Gedicht „Um Mitternacht“ scheint ein schlagender Beweis dafür zu sein.