Aufgabe: Analysieren und interpretieren Sie den obigen Textauszug (aus Kapitel 9: „Verlegenheit eines treuen Kammerdieners“) aus dem Kunstmärchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“ von E. T. A. Hoffmann. Gehen Sie dabei auch auf die Frage ein, welches Bild dem Leser hinsichtlich der Aufklärung (1720-1800) vermittelt wird und mit welchen Mitteln E. T. A. Hoffmann dieses Bild erzeugt.
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Analyse und Erörterung
Der zu interpretierende Text bezieht sich auf das Kunstmärchen „Klein Zaches genannt Zinnober“ von E. T. A. Hoffmann aus dem Jahre 1819. Es lässt sich somit der Literatur der Romantik (1795-1848) zuordnen.
Die Epoche der Romantik wird als Gegenbewegung zur Aufklärung verstanden, welche die vom Gewinnstreben und vom bloßen Nützlichkeitsdenken des beginnenden industriellen Zeitalters geprägten Gesellschaft ablehnte. Der angepasste bürgerliche Alltag der Philister wurde von den Romantikern und Künstlern als trostlos aufgefasst und somit stark kritisiert. Gegenüber der so gesehen Wirklichkeit strebten die Romantiker die Ich-Findung und Bewusstseinserweiterung durch das Verlieren in der Natur an. Die Natur diente somit als Spiegel der Seele. Sie sahen Liebe als Sehnsuchtsort und den Traum als eine Möglichkeit dem Alltag und der Realität zu entfliehen.
Diese Auffassungen der Romantik und die Kritik der Romantiker an der angepassten Gesellschaft werden in E. T. A. Hoffmanns Werk „Klein Zaches genannt Zinnober“ dargestellt.
Klein Zaches ist der Sohn von armen Bauersleuten und ist aufgrund seines missgestalteten Wesens eine große Last für seine Mutter. Als diese sich einmal am Wegrand vor Erschöpfung ausruht, nimmt sich das Stiftsfräulein von Rosenschön, welche einer der letzten Feen im zur Aufklärung gezwungenen Fürstentum ist, des Kleinen an. Sie hat Mitleid mit dem missgestalteten Wechselbalg und belegt ihn mit einem Zauber. Dieser hat zu Folge, dass alle Leistungen und guten Eigenschaften anderer ihm zugesprochen werden. Daraufhin wird er von einem Pfarrer aufgenommen und später auf Zinnober umbenannt. Der nun umbenannte Klein Zaches zieht für ein Studium nach Kerepes. Dort trifft er bei einer Teegesellschaft des Professors Mosch Terpin zum ersten Mal auf den romantischen Helden Balthasar. Dieser erkennt im Gegensatz zur fast restlichen Gesellschaft das wahre Gesicht Zinnobers und verfällt somit nicht dem Schein. Als seine heimliche Geliebte und Tochter des Mosch Terpin sich mit Zaches verlobt, vermutet Balthasar, dass Magie im Spiel ist. Um diese zu brechen verbündet er sich mit dem Zauberer Prosper Alpanus, welcher ihm versichert den Zauber Zinnobers zu brechen. Nach einer magischen Konfrontation zwischen Prosper Alpanus und der Fee Rosabelverde erhält Alpanus die Macht über den Zauber. Schließlich wird sich Candida während der Bekanntgabe der Verlobung mit Zaches ihrer Verblendung bewusst und erkennt in Balthasar den Mann, den sie liebt. Zinnober, den die Gesellschaft nun nach dem Bruch des Zaubers verspottet, gelingt es, unbemerkt zu entfliehen. Kurz darauf wird er von seinem Diener ertrunken in seinem Nachttopf aufgefunden. Obwohl das Volk sich über den angeblichen Minister lustig macht, will der Fürst Barsanuph nicht von seiner Verblendung ablassen und Zinnober erhält ein pompöses Staatsbegräbnis. Balthasar und Candida heiraten und leben glücklich im Landhaus des Prosper Alpanus, dass er ihnen vermacht hat.
E. T. A. Hoffmann verbindet Satire, Ironie und Groteske1 in seinem Kunstmärchen. Dies benutzt er, um die Kritik an der abgeflachten Gesellschaft zu verdeutlichen. Die Motive der Groteske stellt der Antiheld Zaches in seiner Person dar. Dabei übernimmt die Thematik des Seins und Schein der Geschehnisse auf dem Fürstenhof eine große Rolle. Mit dieser zuletzt genannten Thematik setzt sich der nun zu interpretierende Auszug aus dem vierten Kapitel von Hoffmanns Märchen „Klein Zaches genannt Zinnober“ auseinander.
Der Auszug schildert die Begegnung Balthasars mit dem Referendarius Pulcher. Dabei kommt es zu keinem fröhlichen Gespräch zwischen den beiden: Pulcher beschreibt wie er seine Stelle am Hof des Fürsten an den Wechselbalg verloren hat und sich nun aufgrund dessen das Leben nehmen will. Balthasar versucht den Referendarius zu beruhigen.
Gleich am Anfang des Auszuges wird die Verzweiflung Pulvers verdeutlicht. „Hundertmal hatte Balthasar gefragt, was dem Referendarius denn Schreckliches geschehen (...)“ (Zeile 5 bis 6), durch diese Aussage wird der Ausnahmezustand und die Verwirrtheit Pulchers aufgrund seiner Situation gezeigt. Seine Selbstmordgedanken unterstreichen dies noch mal. Als er Balthasar dann antwortet, macht er ihn auf seine „bedrängte Lage“ (Zeile 8) aufmerksam und schildert dabei, wie er mit „Eifer“ (Zeile 10) und „Fleiß“ (Zeile 10) für die Stelle am Hof des Fürsten als geheimer Expedient beworben hat. Es wird deutlich, dass Pulcher ein gebildeter Mann ist, welcher mit fairen Mitteln für seine Erfolge kämpft, aber seine verzweifelte Situation ihn zu dummen Taten, wie sein Versuch sich selbst zu töten, hinreißen lässt.
Pulcher schildert weiterhin die Begegnung mit dem Herrn Zinnober, welcher sich ebenfalls für die mündliche Prüfung beworben hat. Der Referendarius beschreibt den Zinnober als einen „mißgeschaffenen Kerl“ (Zeile 14) und erliegt somit nicht dem Schein des von der Fee Rosenschön auferlegten Zaubers. Er erkennt seine wahre Gestalt. Das verdeutlicht nochmal, dass Pulcher zu den wenigen Menschen in der abgeflachten Gesellschaft gehört, die nicht dem philistischen Denken und dem angepassten Bürgertum der bestehenden aufklärerischen Regierung unterlegt. Er erkennt die Hohlheit und das Nichtskönnen Zinnobers während der Prüfung. „(...) statt zu antworten, schnarchte und quäkte er unvernehmliche Zeug (…).“ (Zeile 21 bis 22) und Pulcher musste den Zinnober aufgrund seines hektischen Strampelns mit den Beinen einige Male wieder auf den Stuhl setzen (Zeile 23). Der Herr Zinnober wird hier als absolute Witzfigur dargestellt, wobei Pulcher die Rolle des hilfsbereiten Mitstreiters annimmt. Pulcher war sich aufgrund dessen seines Sieges sicher, welcher ihm auch vor Beginn der Prüfung von dem Legationsrat versichert wurde (Zeile 18 bis 22). Dies hat zuerst den Anschein, dass der Legationsrat ebenfalls nicht der Verblendung unterliegt. Jedoch kann man dies nicht eindeutig beweisen, da es keine Informationen dazu gibt, wie er den Zinnober in seiner Gestalt sieht. Trotzdem gibt die Aussage des Legationsrats dem Referendarius Hoffnung und wird durch das erstaunliche Ergebnis der Prüfung in einen noch größeren Schock versetzt.
In Zeile 25 beginnt sich das Blatt zu wenden und es bahnt sich eine Katastrophe an. Der Referendarius Pulcher, noch immer seines Sieges sicher und welcher mit großer Schadenfreude auf das Versagen des Zinnobers blickt (Zeile 25), wird nun die Folgen des Zaubers von Zinnober zu spüren bekommen. Es wird deutlich, dass der Legationsrat dem Schein Zinnobers erliegt und ihn daraufhin für all die richtigen Antworten Pulchers dem Zinnober ein Lob ausspricht. Mit den unvollständigen Sätzen „Herrlich Mensch! - welche Kenntnis - welcher Verstand - welcher Scharfsinn!“ (Zeile 29 bis 30) wird die enthusiastische Begeisterung des Legationsrates über den Auftritt Zinnobers verdeutlicht. Hier wird ganz klar die Wirkung des Zaubers und die absolute Verblendung gezeigt. All die unangebrachten Aussagen und das Fehlverhaltens Zinnobers werden dem Referendarius zugesprochen. Er wird von dem Legationsrat daraufhin mit dem Worten „(...) die Art, wie Sie sich zur Prüfung ermutigt haben mögen, läuft gegen alle Sitte, gegen allen Anstand!“ (Zeile 31 bis 33) beleidigt. Durch seine Aussage „Diplomatische Personen müssen fein nüchtern sein und besonnen.“ (Zeile 34 bis 35) kommt Hoffmanns Gebrauch der Satire und Ironie zum Vorschein. Der eigentlich gebildete und anständige Student Pulcher wird auf das Niveau des Pseudo-Helden Zaches runter gestuft. Es werden verdrehte Tatsachen dargestellt und die Welt des Scheins kommt hier ganz stark zum Ausdruck. Somit zeigt Hoffmann Kritik an das höfische Leben und an der Aufklärungspolitik. Zaches, welcher einen holen Nichtskönner ohne gute Seele und einer hässlichen Gestalt darstellt, baut sich eine Karriere am Hof auf. Die Regierung wurde also von dummen und absolut Nützlichkeitsdenkenden Menschen besetzt und die waren gebildeten Menschen wie der Referendarius Pulcher stehen außen vor. Somit unterliegen die meisten Menschen der höfischen Gesellschaft dem Schein und können nur schwer zwischen Schein und Sein unterscheiden. Der Referendarius kann dies jedoch unterscheiden und hält seine Situation „für ein tolles Gaukelspiel“ (Zeile 36). Er kann sich mit seiner Situation nicht abfinden und hofft auf Gerechtigkeit, indem er zum Minister geht und seine Situation schildert. Dabei stößt Pulcher auf erneute Ablehnung. Der Minister ist ebenfalls verblendet vom Schein Zinnobers. Es wird hier deutlich gemacht, dass sich allmählich alle Menschen der Gesellschaft bis hin zu bestehenden Regierung, der Verblendung Zinnobers hingeben. Es wird der Anfang der Karriere Zinnobers gezeigt. Es stellt die von E. T. A. Hoffmann kritisierte aufklärerische, nur auf Nützlichkeit beschränkte Regierung dar. Zaches ist die groteske Figur, die eigentlich nichts verdient, aber durch den Schein alles bekommt und für die Menschen der höfischen Gesellschaft als schön angesehen wird. Referendarius Pulcher empfindet diesen Zauber als „höllische Macht“ (Zeile 40), die im „alle Hoffnung geraubt“ (Zeile 40) hat. Er beschreibt den Zauber der Rosabelverde, welcher im Grunde genommen auf guten Absichten basiert, als etwas abgrundtief Schlechtes, das ihn letztendlich dazu drängt, Selbstmord zu begehen (Zeile 40 bis 42). Pulcher kann und möchte nicht diesem Schein unterliegen und kann diesen auch nicht akzeptieren, somit sieht er den Selbstmord als einzigen Ausweg aus seiner verzweifelten Situation.
Diese „höllische Macht“ macht nicht nur dem Referendarius Pulcher zu schaffen, sondern auch Balthasar. Dies wird in den anderen Kapiteln des Märchens deutlich. Den Auszug kann man als Anfang der Verbündung Balthasars und Pulchers gegen den Zauber Zinnobers verstehen. Die Textstelle aus dem Kunstmärchen „Klein Zaches genannt Zinnober“ verdeutlicht, wie die Verblendung und der Schein Zinnobers sich nach und nach in der Gesellschaft ausbreiten und somit das Leben der gebildeten Menschen, Künstler und Romantiker erschweren. Die Menschen mit wenig Verstand haben leichteres Spiel, sich in der Welt des aufgeklärten Fürstentums zurechtzufinden. Sie erliegen dem Zinnober und unterstützen dadurch seinen Machtaufstieg. Durch satirische und ironische Motive unterstreicht E. T. A. Hoffmann die Absurdität dieser taten.