Drama: Die Physiker (1961)
Autor/in: Friedrich DürrenmattEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
Aufgabe
Dürrenmatts Drama „Die Physiker“ behandelt die unlösbaren Widersprüche der Physik heutzutage. Erörtere diese These!
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Dürrenmatts Drama „Die Physiker“; Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 21. Februar 1962, greift die Problematik der Relation „Wissenschaft kontra Ethik und Moral“ auf. Dieser Konflikt wird an drei Physikern durchexerziert. Möbius, einer der drei, oder besser, die Schlüsselfigur des Dramas, hat sich aus Verantwortung gegenüber der Menschen in die scheinbar unantastbare „Abgeschiedenheit“ eines Irrenhauses begeben. Die Situation eskaliert jedoch, als Möbius- wie anderen beiden zuvor auch- seine Krankenschwester erdrosselt. Nach der Auflösung des Dramas wird der Leser von Dürrenmatt mit den (scheinbar) unlösbaren Widersprüchen der Physik heutzutage alleingelassen, was ich im Folgenden erörtern werde.
Die einsträngig chronologische Handlung der Tragikkomödie beginnt sich mit dem zweiten Mord, diesmal an der Schwester Irene Straub durch den Patienten „Einstein“ sukzessiv zu entfalten. Bereits früh macht Dürrenmatt hier durch einen Dialog zwischen dem den Mord aufklärenden Polizisten und dem Patienten Newton erste Anspielungen auf die Frage nach der Verantwortung eines Wissenschaftlers (vgl. S.22,23). Newton erklärt dem Inspektor anhand des Beispiels der Elektrizität und der Atombombe, dass er die Verantwortung der Physiker für die Konsequenzen ihrer Entdeckung vollständig ablehnt. In der Tat ist die Frage, ob ein Physiker Verantwortung für seine Erfindungen übernehmen müsse, bis heute ein (scheinbar) unlösbarer Widerspruch der Physik und auch anderer Naturwissenschaften. Dürrenmatts Schlüsselfigur Möbius verkörpert geradezu diese Problematik. Wie bereits erwähnt hat sich Möbius aus „Verantwortungsbewusstsein“, da er eine folgenschwere Entdeckung gemacht hat, in die Abgeschiedenheit des Irrenhauses begeben. Für ihn ist es „heute die Pflicht eines Genies, verkannt zu bleiben“ (S.75). Dürrenmatt erläutert durch Möbius die gegensätzliche Seite zu Newton. Er (Möbius) ist der Meinung, die Wissenschaft wäre schrecklich geworden und die „Forschung gefährlich“ (S.74), weshalb es die Pflicht der Physiker ist, ihr „Wissen zurück(zu)nehmen“ (S.74). Möbius Haltung zeigt somit sehr deutlich den künstlich geschaffenen Abgrund zwischen Fortschritt und Moral, besonders unter dem Aspekt der Machtverteilung. Zu Beginn des zweiten Aktes erfolgt einer der Hauptwendepunkte des Stückes. Der Autor nutzt das kommunikative Moment des Essens für ein aufklärendes Gespräch zwischen den drei Physikern. Hierbei findet der Leser heraus, dass Newton und Einstein eigentlich Geheimagenten zweier verschiedener Generalstäbe (Newton->USA, Einstein->Sowjetunion) sind. Beide versuchen Möbius auf ihre Seite zu ziehen, um die Macht seiner Erfindungen für ihr Land zu nutzen (vgl. S.70ff). Möbius folgt seinem moralischen Ziel, der Geheimhaltung seiner Manuskripte, während Newton ihn durch seine weiterhin pragmatische Haltung zu überzeugen versucht. Einstein hingegen sieht keine Verantwortung als Individuelle Verantwortung (S.73). Wie Möbius auch steht der Leser zwischen zwei Fronten und beginnt sich wohl spätestens jetzt eigene Gedanken zu bilden. Der Schlüsselfigur fällt die Entscheidung sehr leicht. Möbius wählt aufgrund von „Risiken, die man nie eingehen darf“ (S.73), wie beispielsweise den Untergang der Menschheit, die „Narrenkappe“ (S.74) und überzeugt die anderen beiden Physiker, dass es ihre Pflicht (Verantwortung) sei, die Menschheit vor ihren Entdeckungen zu schützen. Paradoxerweise lässt erst die Umkehrung/ Auflösung des Geschehens erkennen, wie grotesk1 Möbius scheinbar planmäßig vernünftiges Handeln ist. Die Ärztin des Irrenhauses entpuppt sich nämlich als Inkarnation des Bösen, die jahrelang Möbius betäubt und seine Manuskripte kopiert hat, was zusätzlich ihre Gewaltbereitschaft und Manipulation impliziert. Sie reflektiert gewissermaßen den Wahnsinn der Welt. Möbius Plan ist gescheitert, hat gewissermaßen sogar das Gegenteil seines ursprünglichen Ziels bewirkt. Die Physiker sind nun im Irrenhaus gefangen und die Manuskripte in den Händen einer Wahnsinnigen. Es scheint, als Stelle sich die Welt einfach gegen Möbius und ignoriere seine Verantwortung.
Dürrenmatts Anspruch an den Leser ist sehr hoch und mit dieser „unerwarteten“ schlimmstmöglichen Endung spielt er den Ball nun den Rezipienten zu. Die im Anhang des Buches zu findenden „21 Punkte zu den Physikern“ erlauben es, das Stück noch einmal unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten. Dürrenmatt konfrontiert seine gedankliche Fiktion auf merkwürdigem Umweg mit dem Existenziellen. Durch die Punkte 16-18 gibt Dürrenmatt einen Einblick in seine persönliche Stellungnahme und zugleich eine Erklärung für Möbius Scheitern. Gerade aufgrund des Aktualitätsbezugs ist nun der Leser gefragt. Durch den Mausefalleneffekt hat Dürrenmatt den Leser überlistet, welcher nun ohne Lösungsidee zurückgelassen wurde. Nun muss er eigene Gedanken und Ideen entwerfen. Denn „was alle angeht, können nur alle lösen.“ (Punkt 17). Wie steht er zu den unlösbaren Widersprüchen der Physik in Bezug auf die Moral und Ethik? Obgleich Dürrenmatts Drama heute bereits über 50 Jahre alt ist, scheint es doch bisher nichts an seiner Aktualität eingebüßt zu haben. Die Problematik der unlösbaren Widersprüche der Physik in Bezug auf die Verantwortung kontra Moral lässt sich ohne weiteres auf unsere heutige Zeit anwenden. Gerade in Zeiten der Gentechniker, die auf eine bewusste Manipulation und Veränderung des Gens eines Lebewesens (vielleicht sogar einmal eines Menschen) hinarbeiten, werden in der Bevölkerung immer wieder Stimmen laut, die an die Vernunft und Moral der Forscher appellieren und auf mögliche Missbräuche hinweisen. Hängt diese Aktualität des Dramas jedoch mit Dürrenmatts Weitsicht zusammen, oder ist sie der Tatsache geschuldet, dass sich das Verantwortungsbewusstsein der Menschen, gerade im Bezug auf Machtmissbrauch trotz unseres technischen Fortschritts nicht gewandelt hat?