Novelle: Die Marquise von O.... (1808)
Autor/in: Heinrich von KleistEpochen: Weimarer Klassik, Romantik
Wenn Bewusstsein und Gefühl uneins sind
Gesprächsanalyse zu einem Textauszug aus "Die Marquise von O..."
Analyse des Gesprächs
Der vorliegende Textauszug ist Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O...“ entnommen, die im Jahr 1807 verfasst und 1808 erstveröffentlicht wurde. In seinem Werk zeichnet er ein kritisches Gesellschaftsbild, welches von Doppelmoral und patriarchalischen Strukturen geprägt ist, die das Individuum (insbesondere Frauen) in seiner Selbstbestimmung einschränken und eine offene Kommunikation durch Tabuisierung unmöglich machen. Der titelgebenden Protagonistin widerfährt eine Vergewaltigung im Sinne einer „unerhörten Begebenheiten“ verbunden mit der Degradation ihres Rufes, welches sie zu unkonventionellen und sogar emanzipatorischen Schritten zwingt.
Die Handlung der Novelle, an einem nicht näher benannten Ort in Oberitalien angesiedelt, beginnt mit dem Erscheinen einer Zeitungsanzeige, indem die junge verwitwete Marquise von O… bekannt gibt, unwissentlich geschwängert worden und auf der Suche nach dem Kindesvater zu sein, den sie aus Familienrücksicht vorsieht zu heiraten. Diese Annonce bildet den Auftakt der Handlung, rückblickend erschließt sich, wie es zu dieser Ausnahmesituation kommen konnte.
Zu Zeiten des Zweiten Koalitionskrieges (1792-1815) wird die Zitadelle des Kommandanten von G…, der Vater der Marquise, durch russische Truppen angegriffen. In dem Chaos der Schlacht gerät die Marquise in die Hände lüsterner, feindlicher Soldaten, wird jedoch im letzten Moment von dem russischen Offizier, Graf F…, gerettet. Als sie, von den Ereignissen überwältigt, in Ohnmacht fällt, vergeht dieser sich jedoch selbst an ihr.
Nachdem wieder Ruhe und Ordnung in das Familienleben eingekehrt ist, leidet die Marquise an einem ihr unerklärlichen kränklichen Zustand. Zudem ist sie mit dem unnachgiebigen Werben des tot geglaubten Grafen konfrontiert, der die Familie mit seinem Besuch überrascht. Vor seiner Abreise wird mit Bedenkzeit eine mögliche Heirat zugesichert. Angesichts ihrer körperlichen Symptomatik konsultiert die Marquise einen Arzt und einer Hebamme und wird in ihrer Befürchtung einer Schwangerschaft bestätigt. Trotz Unschuldsbeteuerungen wird sie aus dem Elternhaus verstoßen, woraufhin die Marquise in der Abgeschiedenheit ihres Landgutes, auf das sie sich mit ihren Kindern zurückgezogen hat, den Entschluss fasst, den Kindesvater mithilfe einer Zeitungsannonce ausfindig zu machen. Einen weiteren Heiratsantrag seitens des Grafen lehnt sie ab.
Nach der familiären Versöhnung auf Betreiben der Mutter, gibt sich schließlich der Graf als Vater des Kindes zu erkennen und die Eltern drängen auf die Hochzeit, obgleich die Tochter von der Offenbarung des ihr zuvor so heldenhaft erschienen Mannes schockiert ist. Nach einiger Zeit gelingt dem Grafen schlussendlich die Annäherung und erhoffte Vergebung, wodurch eine zweite Hochzeit aus Liebe folgt.
Der vorliegende Textauszug setzt ein, nachdem bedingt durch die Kriegszustände wieder Ruhe und Ordnung in das Familienleben eingekehrt ist und der Graf mit der Einwilligung einer Heirat abreist. Die Sorge und Befürchtungen der Marquise spitzen sich angesichts der Schwangerschaftsdiagnose eines Arztes zu und sie bittet im vertrauten Gespräch mit ihrer Mutter um die Einschätzung einer Hebamme. Deren Bestätigung wird schließlich zum Verstoß der Marquise und ihrer Emanzipation führen.
Im nun einsetzenden Textauszug wird die Dilemmasituation der Marquise, die zwischen Wahrung der Fassade bürgerlichen Anstands und ihrer unterbewussten Instinkte hin- und hergerissen ist, evident und im Folgenden darauf eingegangen.
Zunächst fragt die Mutter ihre Tochter besorgt, „ob sie denn an die Möglichkeit eines solchen Zustandes glaube“ (S. 25, Z. 11f), woraufhin die Marquise, um von ihrer Unschuld zu überzeugen, mit einer bildlichen Hyperbel1 entgegnet, „dass eher die Gräber befruchtet werden, und sich im Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird!“ (S. 25, Z. 13ff). Dieser Ausruf lässt auch vermuten, dass sie eine starke Zugehörigkeit zu ihrem verstorbenen Ehemann spürt, mit dem ihr weiteres „Kinderglück“ gestorben ist und ihre Entschuldigung, sich nicht ein zweites Mal zu vermählen, unterstrichen wird.
Als die Obristin die Befürchtungen ihrer Tochter infragestellt und sie auffordert, die beleidigende Falschdiagnose dem Obristen mitzuteilen, reagiert diese mit der Interjektion2 „O Gott!“ (S. 25, Z. 22) und einer „konvulsivischen (krampfhaften) Bewegung“ (S. 25, Z. 23). Dies ist ein klares Indiz ihres impulsiven Unterbewusstseins, da ihr insgeheim die Schwangerschaft bewusst ist, sie jedoch die Konsequenzen ihres autoritären Vaters fürchtet. Durch die folgenden rhetorischen Fragen (vgl. S. 25, Z. 24-27) bestätigt sich ihr „Bauchgefühl“.
Nichtsdestotrotz folgt eine Phase der Verleugnung und sie sinnt über die boshaften Beweggründe des Arztes in Form von einer Akkumulation rhetorischer Fragen (vgl. S. 25, Z. 29-37) nach, endet ihren Gedankengang jedoch wieder Zweifel an ihrer Theorie (vgl. S. 26, Z. 1-4). Die Mutter stellt sachlich klar, dass entweder ein Irrtum des Arztes oder ein außereheliches Verhältnis der Marquise zur Möglichkeit steht (vgl. S. 26, Z. 5f). Vor diese Alternativlosigkeit gestellt, versichert die Tochter in einer lebhaften, hochemotionalen Weise ihre Unschuld: sie reagiert mit Ausrufen (vgl. S. 26, Z. 6, Z. 9), redet ihre Mutter mit dem Superlativ „meine teuerste Mutter“ (S. 26, Z. 7) an, wobei sie ihr „mit dem Ausdruck der gekränkten Würde, hochrot im Gesicht glühend, die Hand küsst“ (S. 26, Z. 8ff). Diese unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen und Impulse untermauern den Stellenwert der Familie und ihre enge familiäre Bindung.
Dennoch erbittet sie angesichts ihrer Zweifel den Rat einer Hebamme, was ihre tiefe Verwirrung zeigt (vgl. S. 26, Z. 14-17). Die Mutter weist sie auf ihre Widersprüchlichkeit hin, im Ganzen ist sie jedoch sprachlos (vgl. S. 26, Z. 17ff). Es folgen wiederholende Unschuldsbeteuerungen seitens der Marquise: sie wirft sich „auf Knien vor (ihre teuerste Mutter)“ (S. 26, Z. 19ff) und „umfasst ihre Knie“ (S. 26, Z. 26f) als diese versucht das Zimmer zu verlassen. Sie ist vollständig auf die Gnade ihrer Mutter angewiesen und appelliert an ihr „mütterliches Gefühl“ (S. 26, Z. 30) und erbittet Beistand in dieser ungeklärten Situation.
Daraufhin entgegnet die Frau von G…, dass sie einen möglichen Fehltritt verzeihen, Unehrlichkeit jedoch nicht annehmen würde (vgl. S. 27, Z. 3-10). Julietta greift zur abermaligen Bekundung ihrer Reinheit auf einen bildlichen Vergleich zurück: „Möge das Reich der Erlösung einst so offen vor mir liegen, wie meine Seele vor Ihnen“ (S. 27, Z. 11f). Damit wird der Einfluss von gesellschaftlichen Konventionen und religiösen Dogmen, nachdem die Erfüllung sexueller Normvorstellungen sittlich und tugendhaft ist, auf die Protagonisten als Individuum deutlich. Ihr guter Charakter ist wesentlich durch diese Art von Frömmigkeit definiert. Die Mutter lässt sich durch den pathetischen Ausruf der Tochter überzeugen und wendet sich ihr tief bewegt zu (vgl. S. 27, Z. 13-18).
Unter Tränen (vgl. S. 27, Z. 19) besteht die Marquise schlussendlich immer noch auf den Besuch einer Hebamme, da „das Entsetzliche, (sie) Vernichtende wahr ist“ (S. 27, Z. 28f). Trotz ihres Hin- und Hergerissensein kommt die Marquise zum Schluss, dass sie schwanger sei, und gibt damit ihrem unterbewussten Gefühl und Überzeugung nach. Ihr emotional aufgeladener Zustand (vgl. S. 27, S. 32f) lässt ihre Mutter schlussendlich an ihrer geistigen Gesundheit und Einschätzungsfähigkeit zweifeln (vgl. S. 27, Z. 30).
Zusammengefasst wird an dem Verhalten der Protagonistin ersichtlich, wie stark ihr Leben und Selbstbild von der ihr von der Gesellschaft diktierten Rolle als tugendhafte und sittliche Frau geprägt ist. Sie richtet ihr Verhalten nach den sozialen Erwartungen aus und stellt die Familie und besonders deren Ruf über alles. Diese Priorisierung führt sie zu einer Dilemmasituation, da sie aus einem psychoanalytischen Gesichtspunkt als „Über-Ich“ von den gesellschaftlichen Konventionen ergriffen ist, jedoch als „Es“ mit ihren Instinkten und den rationalen Tatsachen (Bestätigung der Schwangerschaft durch Experten) konfrontiert ist. Das „Ich“ als Vermittler ist von dieser Situation überfordert und die Marquise wird zur Flucht vor der Realität im Sinne von Verleugnung verleitet. Dadurch ist sie zunehmend in einem Zustand nahe dem Wahnsinn und der Hysterie, die durch widersprüchliche Gedankengänge und hochemotionale nonverbale Kommunikation unterstrichen wird.