Novelle: Die Marquise von O.... (1808)
Autor/in: Heinrich von KleistEpochen: Weimarer Klassik, Romantik
Rezension
Am 21. November 2011 jährte sich Heinrich von Kleists Todestag zum 200. Mal und Heinrich von Kleist war in aller Munde: große Ausstellungen und zahlreiche Veröffentlichungen erinnerten im „Kleistjahr“ an sein Leben und seine Werke. In der Auftaktveranstaltung zu den Feierlichkeiten bezeichnete Kulturstaatsminister Bernd Neumann Kleist als einen Dichter, der „als Wegereiter der Moderne gilt“, dessen Werke „in jeder Hinsicht seiner Zeit voraus“ gewesen waren.
Heinrich von Kleist verschlug es zunächst auf eine militärische Laufbahn bis er zum Leutnant befördert wurde. Es folgte jedoch sein Ausstieg aus dem Dienst und er widmete sich dem Studium von Naturwissenschaften und Philosophie. Während der Jahrhundertwende 1800 geriet er in die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland und lebte trotz seiner adligen Herkunft in instabilen Verhältnissen. Die Krisenerfahrungen inspirierten ihn zu gesellschaftlichen Reformdenken und literarischen Experimenten.
Kleists Image als tragischer Außenseiter (Erfolgslosigkeit und Suizid) und seine anti-idealistischen Position gegenüber der Aufklärung, Weimarer Klassik und Frühromantik fanden jedoch erst im 20. Jahrhundert Anklang. Bis heute spielt die Sprachskepsis bei der Auseinandersetzung mit seinen Werken eine zentrale Rolle. In seiner Novelle „Die Marquise von O…“ blüht diese Modernität in der Erzähltechnik auf. Der weitestgehend neutrale Erzähler lässt keine direkten Aussagen über innere Vorgänge und Motive der handelnden Figuren zu. Der Leser muss das Paradoxe und das Verstummen erkennen und selber die Leerstellen anhand von der präzise geschilderten Gestik, Mimik und Körpersprache füllen. Erst die Deutung der nonverbalen Kommunikation lässt eine Gesamtinterpretation, soweit die prinzipielle Offenheit der Novelle es erlaubt, zu.
Wie für diese Textgattung charakteristisch steht im Fokus des Geschehens eine „unerhörte Begebenheit“, die in den ersten Zeilen eingeleitet wird. In einer Zeitungsannonce lässt die verwitwete Marquise von O… bekannt geben, dass sie unwissentlich geschwängert wurde und nach dem unbekannten Vater des Kindes suche, um ihn „aus Familienrücksichten“ zu heiraten. Erst der Rückblick auf das Vorgeschehen gewährt den Einblick, wie es auf diesen gesellschaftlichen Tabubruch hinauslaufen konnte.
Zu Zeiten des Zweiten Koalitionskrieges (1799–1802) wird die Zitadelle des Kommandanten von G…, der Vater der Marquise, durch russische Truppen angegriffen. Die Marquise wird in dem Chaos der Schlacht von ihrer restlichen Familie getrennt und gerät in die Hände der feindlichen Soldaten, die sich an ihr vergehen wollen. Alarmiert durch ihre Hilfeschreie kommt der Graf F… zu Hilfe, der ihr als „Engel“ in tiefster Not erscheint. Die berühmte Leerstelle, die ihrer Ohnmacht folgt, lässt die Folgehandlung offen. Im weiteren Verlauf finden die Puzzleteile aber zusammen. Die Marquise befindet sich aus unerklärlichen Gründen in einem sonderbaren kränklichen Zustand, während sie gleichzeitig mit dem unnachgiebigen Werben des Grafen von F… konfrontiert ist. Es folgt die Bestätigung einer Schwangerschaft durch einen Arzt, woraufhin sie augenblicklich von ihrer Familie verstoßen wird.
Hier setzt eine interessante Charakterentwicklung, ein Wendepunkt ein. Die Marquise, die sich stets dem Willen ihrer Eltern beugt, sei es hinsichtlich des Wohnsitzes (vgl. S. 5, Z. 18-22; S. 11, Z. 9-14) oder der potenziellen Heirat mit dem Grafen von F… (vgl. S. 12, Z. 34-17), widersetzt sich. Als ihr Vater das Sorgerecht für ihre eigenen Kinder beansprucht, weigert sie sich und flieht mit ihnen zu ihrem früheren Landgut. Ihre Mutterrolle verleiht ihr neues Selbstbewusstsein und sie emanzipiert sich von ihrem autoritären Vater. Diese Aufopferungsbereitschaft findet sich in der Zeitungsannonce wieder, die sie kurz darauf veröffentlichen lässt. Sie sieht vor, den unbekannten Vater aus „Familienrücksichten“ zu heiraten. Damit unterwirft sie sich jedoch wieder den gesellschaftlichen Konventionen. Sie möchte die Fassade bürgerlichen Anstands und das Familienideal eines Kindes mit geehelichten Eltern wiederherstellen, um somit der Ächtung der Gesellschaft sowie der Schande über die Familie zu umgehen. Das Kindeswohl ist hier eng mit dem Ruf und seiner Wiederherstellung verknüpft.
Als der Graf sich als Vater preisgibt, wird schlussendlich deutlich, dass die Marquise während ihrer Bewusstlosigkeit von ihrem angeblichen Retter vergewaltigt wurde. Sie sieht ihren früheren „Engel“ als „Teufel“. Diese Spannung zwischen Himmel (Moral, Sittlichkeit, gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche) und Hölle (Sünde, Lust, Trieb) lassen auf Schwarz-Weiß-Denken (Extremen) schließen, die typisch für Kleists hoch emotionale Figuren sind. Die Marquise sieht den Grafen entweder als unfehlbar wie einen Heiligen oder als rücksichtslosen Sünder. Diese Glorifizierung bzw. Verneinung ist kontraproduktiv, da es nicht die Realität erkennen lässt. Menschen machen Fehler, sind dadurch jedoch nicht auf Ewigkeiten verdammt. Der Graf von F… zeigt gewisse Reue und beteuert seinen guten Charakter, die er durch die Heirat und die Wiederherstellung des Rufes der Marquise beweisen will.
Hier werden jedoch die gesellschaftlichen Restriktionen der Charaktere deutlich, die durch die drei Instanzen nach Sigmund Freud verdeutlicht werden können. Das „Über-Ich“ ist von sozialen Konventionen geprägt. Sowohl die Marquise als auch der Graf sind auf ihre Reputation bedacht. Beide werden jedoch von den unterbewussten Trieben des „Es“ beeinflusst. Das „Ich“ als Vermittler befindet sich dann in einer Diskrepanz1. Die Marquise verdrängt ihre Vergewaltigung: sie „will nichts wissen“ und entflieht der Realität durch Ohnmachtsanfälle. Der Graf verleugnet hingegen seinen rücksichtslosen sexuellen Trieb: er sei „ein ehrlicher Mann“ und entflieht der Realität durch die Möglichkeit einer schnellstmöglichen Heirat ohne seine Tat einzugestehen. Beide stellen die gesellschaftliche Reputation über alles und können ihr als Individuen nicht entfliehen.
Schlussendlich wird die Marquise als inferiore weibliche Rolle für ihre Unschuld bestraft: ihre Schwangerschaft wird trotz ihrer Beteuerung und ohne Beweise als eigenverantwortlich angesehen und sie wird unverzüglich wegen diesem Tabubruch von ihren Eltern verstoßen.
Der Graf wird als dominierende männliche Rolle für seine Schuld belohnt: trotz seiner Vergewaltigung wird er nicht wie die versuchten Vergewaltiger zu Anfang bestraft und genießt die Vorteile seiner Geschlechterrolle, da er nicht mit der Degradierung seines Status rechnen muss.
Die Marquise unterstellt sich schließlich den familiären Zwängen und dem Willen des Vaters und heiratet aus Pflichtbewusstsein den Grafen. Dieser sagt sich von den Privilegien eines Ehemannes ab, geht jedoch den Pflichten nach und bestimmt die Marquise als Erbin seines Testamentes. Sie verzeiht ihm und es folgt eine zweite Hochzeit, diesmal aus Liebe.
Eben diese „unerhörte Begebenheit“, die traditionelle Werte, Familienstrukturen und die konventionelle weibliche Identität infrage stellt, stieß auf die kollektive Empörung seiner Zeitgenossen. Trotz des gedanklichen Umschwungs im Rahmen der Aufklärung herrschten verfestigte Geschlechterrollen und klare Vorstellungen von Sittsamkeit. Die Überreste dieser patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen finden sich noch im 21. Jahrhundert.
Die Auslebung weiblicher Sexualität wird immer noch als „unsittlich“ im Gegensatz zur männlichen Sexualität gesehen. Frauen werden tendenziell öfter nach der Erfüllung der sexuellen Normvorstelllungen als Idealbild einer Ehefrau (unschuldig, rein) und promiskuitive Frauen (sexuell freizügig) gebrandmarkt.
Vergewaltigungen, in Kriegsgebieten als auch in friedlichen, aufgeklärten Ländern, werden stets als Tabuthema behandelt und es gibt keine ausreichende Aufklärung