Aufgabenstellung
Analysieren Sie den Textauszug epochenbezogen, indem Sie ihn in den Kontext der Novelle einordnen und den Inhalt erläutern! Untersuchen Sie exemplarisch Erzählhaltung, Erzählperspektive, Erzählstandort und bewerten Sie ihre Beobachtungen in Hinsicht auf die Gesellschaftskritik der Novelle!
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Heinrich von Kleists 1808, im Übergang der Klassik zur Romantik, erschienene Novelle „Die Marquise von O…“ spielt in Norditalien zur Zeit des zweiten Kolonialkriegs im Jahre 1799. Die Novelle thematisiert die gesellschaftliche Ächtung als Konsequenz einer unehelichen Schwangerschaft einer nicht näher bekannten Marquise von O… resultiert aus einer Vergewaltigung.
Zu Beginn des Auszugs kehrt der Graf von F… in das Haus des Kommandanten von G…, dem Vater der Marquise von O…, ein. Zuvor ist der Graf von F… zu der Familie des Kommandanten zurückgekehrt, nachdem die Familie in dem Glauben war, er sei in dem Gefecht bei P… gefallen. Dorthin ist er am Tag nach dem Angriff auf die Zitadelle des Kommandanten und der Vergewaltigung der Marquise abberufen worden.
In der Szene sitzt die Familie des Kommandanten mit dem Grafen an der Abendtafel und unterhalten sich über den Krieg und das Gefecht bei P…, ohne jedoch den Heiratsantrag, den der Graf der Marquise bei seiner Rückkehr machte, zu besprechen. Die Frau des Kommandanten von G… erkundigt sich bei dem Grafen nach seinen Verwundungen nach dem Gefecht bei P…. Dieser erzählt daraufhin von seinen Halluzinationen im Wundfieber, wie er die Marquise stets an seinem Krankenbett sah und sie mit dem Schwan Thinka aus seiner Kindheit verwechselte.
Als das Essen beendet ist, geht der Graf auf sein Zimmer und die Familie des Kommandanten unterhält sich über den Grafen und dessen Heiratsantrag. Sie sind sich zuerst unschlüssig, wie sie vorgehen sollen und die Marquise möchte sich nicht noch einmal vermählen. Allerdings will die Familie nicht, dass der Graf, um eine Antwort abzuwarten, seinen Marschbefehl missachtet. Deshalb beschließen sie ihm die Erklärung zu liefern, um Bedenkzeit zu bitten, während er in Neapel ist und, dass sich die Marquise in der Zwischenzeit nicht anderweitig vermählen wird.
In den darauffolgenden Szenen der Novelle holt die Familie Informationen über den Grafen ein und dieser schreibt der Marquise mehrmals aus Neapel. Sie erfährt einige Zeit später, dass sie schwanger ist und wird von ihren Eltern aus dem Haus, auf ihr Landgut verjagt. Von dort inseriert sie eine Anzeige in den Zeitungen, sie wolle den Vater ihres Kindes heiraten. Gegen Ende der Novelle, als sich die Marquise wieder mit ihren Eltern versöhnt hat, stellt sich heraus, dass der Graf von F… der Vater ihres Kindes ist. Die Familie ist entsetzt, doch die Marquise heiratet ihn trotzdem. Ein Jahr später haben sich die Marquise und der Graf nochmals angenähert und es gibt eine zweite Hochzeit, diesmal aus Liebe.
Der Autor verfasste die Novelle in der Übergangszeit der Epochen Klassik und Romantik. Elemente beider Stile spiegeln sich in der Novelle wieder. Die Struktur und Klarheit der Handlung, sowie die Geschichte aus Kriegstagen passen noch ideal in die Epoche der Klassik. Der Verlauf der Novelle, die zweite Hochzeit aus Liebe, ebenso wie die häufige Verlegenheit des Grafen sind eindeutige Motive der Romantik.
Im Textauszug wird besonders das Bild der Frau in der damaligen Gesellschaft, verstärkt im Adel, deutlich. Die Marquise fühlt sich aus ihrer „Dankbarkeit“ (S. 20 Z. 29) für ihre Rettung durch den Grafen „schuldig“ (S. 21 Z. 17) ihn zu heiraten. Sie will ihm „seine Wünsche […] um der Verbindlichkeit willen, die ich ihm schuldig bin, erfüllen“ (S. 21 Z. 14-17). Somit wird die Marquise durch ihr Gewissen und ihre Eltern geradezu genötigt den Grafen zu heiraten, obwohl sie sich nicht noch einmal vermählen wollte (vgl. S. 20 Z. 30f.).
Auch inhaltlich hat die Szene eine wichtige rhetorische Bedeutung für die Novelle. Im zweiten Teil dieser Analyse folgt die Detailanalyse der Erzählform.
Der Textauszug S. 19 Z. 26 bis S. 21 Z. 38 aus Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O…“ weist ein besonderes rhetorisches Merkmal auf. Als der Graf von F…, durch die Aufforderung der Frau des Kommandanten von G…, beginnt von seiner Zeit, im Krankenbett nach dem Gefecht bei P…, zu erzählen schildert er, wie er im Wahn des Wundfiebers die Marquise an seinem Bett sah (vgl. S. 20 Z. 1-15).
Doch die Vorstellung von ihr vertauschte er „in der Hitze seines Wundfiebers“ (S. 20 Z. 3f.) mit dem Schwan „Thinka“ (S. 20 Z. 10f.) aus seiner Kindheit. Dies ist ein Dingsymbol, das leitmotivisch für die Marquise steht und insbesondere für ihre Reinheit und Unschuld, die er ebenso wie den Schwan in seiner Kindheit mit Kot beworfen hat (S. 20 Z. 7f.). In diesem Redefluss driftet der Graf gedanklich ab und in seinem charakteristischen, hypotaktischen Satzbau gesteht er der Marquise am Ende, dass er sie außerordentlich liebe (S. 20 Z. 15). Dabei ist er plötzlich blutrot im Gesicht (vgl. S. 20 Z. 15), dies ist ein typischer Charakterzug des Grafen. Er kann seine Gefühle schlecht verbergen und wird schnell emotional und nervös.
Die Erzählhaltung ist neutral und distanziert, durch das auktoriale Erzählverhalten scheint der Erzähler von oben herab die Handlung im Konjunktiv zu beschreiben. Da sich die Er- /Sie- Erzählform durch die komplette Novelle zieht, nimmt der Leser, ähnlich wie der Erzähler die Position des stillen Beobachters ein. Die Zeitstruktur im Textauszug ist zeitraffend und während des Monologs (S. 20 Z. 2-16) und der Dialogphasen zeitdeckend. Der Erzählstandort ist distanziert und wird unterstützt durch das auktoriale Erzählverhalten. Die Darbietungsform in der Szene ist der Erzählerbericht, die Textpassage ist für den Leser erkennbar als Erzählung der Handlung. Insbesondere bedient sich der Autor epischen Präteritums und beschreibt über die Gegenwart hinausreichende Gedanken und Wünsche der Charaktere: „Die Mutter, die sich eine zweite Vermählung ihrer Tochter immer gewünscht hatte[…]“ (S. 21 Z. 17f.) diese Stelle ist ebenfalls ein Beleg für das auktoriale Erzählverhalten. An anderen Stellen schreibt der Autor im indirekten Erzählerbericht, das führt zu einem Höchstmaß an Distanz zum Erzählten.
Kleists Novelle zeichnet sich noch durch ein anderes Merkmal besonders aus, die Entscheidung 1808 ein Buch über den gerade vergangenen Krieg zu schreiben und das Schicksal einer verwitweten Marquise in den Fokus zu stellen, und nicht etwa das eines tapferen und tugendhaften Kriegshelden, war eine gewagte Entscheidung. Die gesellschaftliche Kritik, die diese Wahl der Handlung mit sich bringt, ist auch ohne das eigentliche Thema, die Vergewaltigung und uneheliche Schwangerschaft, enorm.
Der Autor beschreibt detailliert das Leben der Marquise vom Angriff auf die Zitadelle bis zur zweiten Hochzeit mit dem Grafen. Die ganze Zeit über steht sie im Mittelpunkt, erst schwach und einsam, später gefasst und selbstständig. In diesem Textauszug ist die Marquise verzweifelt nach dem Heiratsantrag des Grafen und seinem Liebesgeständnis. Sie hatte den Entschluss gefasst sich kein weiteres Mal zu vermählen, doch durch ihre Schuldgefühle, gemischt mit Dankbarkeit, aufgrund ihrer Rettung durch den Grafen vor ihren vermeintlichen Schädigern, wird sie unter Druck gesetzt ihm aus Höflichkeit seinen Wunsch zu erfüllen und ihre eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen.
Kleist demonstriert in dieser Szene die Uneigenständigkeit der Hauptfigur und das Fehlen von Durchsetzungskraft, um ihrem eigenen Willen treu zu bleiben. In der Novelle wird dieser Konflikt auch an späterer Stelle noch beschrieben: Als die den Mann, der sie angeblich liebt, den sie aber als Teufel beschimpft und hasst, heiraten muss, da es eine Schande für sie und ihre Familie wäre ein uneheliches Kind zu gebären, nicht aber ihren Vergewaltiger zu heiraten.
Kleist spricht damit die Missstände in der Gesellschaft, insbesondere im Adel, die zu seiner Zeit herrschten, an. Zwar sprachen auch Autoren zu seiner Zeit über Schande durch uneheliche Kinder (vgl. Goethe: Faust), doch in anderen Werken besiegt der gesellschaftliche Druck und die Angst vor Ächtung meist das Selbstwertgefühl der Frau.
Meiner Meinung nach ist es Kleist gelungen, die Kritik konkret, aber nicht aufdringlich für den Leser (zumindest den modernen Leser) zu formulieren. Idealerweise hätte die Marquise zwar den Grafen nicht mehr aus Liebe geheiratet, sondern selbstbewusst das Kind in Eigenverantwortung großgezogen, aber durch die zweite Hochzeit bekommt der romantische Leser, das ersehnte glückliche Ende. Ebenfalls positiv an Kleists Werk fand ich, die selektive Tiefe der Charaktere, dass man über die Mutter oder den Forstmeister keine weiteren Informationen bekommt. Sich aber der Vater der Marquise, sowie der Graf durch untypische, männliche Attribute auszeichnen. Der Vater und Kommandant, dem es seiner eigenen Tochter gegenüber an Worten fehlt und er zur Waffe greifen muss, um sie aus dem Haus zu schicken. Ebenso der Graf, der bei Nervosität, verlegen, blass oder rot wird und seine Gefühle zwar schwer zum Ausdruck bringt, sie aber noch schwerer verbergen kann.
Meiner Ansicht nach sind auch diese Aspekte gelungene Elemente von Kleists Gesellschaftskritik in der Novelle. Schon 1808 suchte er Verständnis für selbstständige Frauen, die aus dem Patriarchat ausbrechen wollen und sensible Männer, die tapfere Kriegshelden zugleich seien können.