Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In Friedrich G. Klopstocks Ode „Die frühen Gräber“ aus dem Jahr 1764 geht es um die Betrachtung der Natur im Anblick der Vergänglichkeit des Menschen.
Die Ode ist in drei Strophen aufgeteilt, die in reimlosen Versen geschrieben sind. Dass sich in jeder Strophe einmal das Wort „Nacht“ (s. V. 2, 6, 12) reimt, zählt nicht als richtiger Reim, weil die Wörter zu weit auseinander stehen.
Das Metrum1 ist kein einfaches, weil sich nicht einfach zum Beispiel Jamben wiederholen. Es fällt aber auf, dass die Struktur in jeder Strophe gleich ist. Der jeweils erste Vers einer Strophe kann beschrieben werden als Auftakt, zwei Datylen und eine betonten Silbe. Der jeweils zweite Vers als ein Trochäus, ein Daktylus, ein Trochäus und eine betonte Silbe. Der jeweils dritte Vers als zwei Kretiki (betont – unbetont – betont), zwei Trochäen und eine betonte Silbe. Der jeweils dritte Vers als zwei Daktylen, eine betonte Silbe, ein Daktylus und eine betonte Silbe. Es gibt die typischen griechischen Odenmaße wie alkäische Strophe, sapphische Strophe, asklepiadeische Strophe, aber von denen ist das Metrum hier keines. Das Versmaß wird später noch wichtig.
In der ersten Strophe spricht das lyrische Ich den Mond an. Es nennt ihn „silberner Mond“ (V. 1) und „schöner, stiller Gefährt der Nacht“ (V. 2). Beides deutet auf Wertschätzung hin und darauf, dass der Mond als schön und ruhig empfunden wird. Das könnte bedeuten, dass die Nacht als ruhig und schön empfunden wird. Vielleicht bis auf ein paar Wolken eine klare Nacht. Weiterhin wird der Mond als „Gedankenfreund“ (V. 3) angesprochen. Neben „Gefährte“ ist das das zweite Wort, das die Nähe des Mondes in einem Fall zum lyrischen Ich („Gedankenfreund“ ist offensichtlich einer, der mitfühlt, in Gedanken bei jemandem ist) und im anderen Fall zur Nacht ausdrückt. Der Mond ist ein Begleiter – einerseits der der Nacht, andererseits der der Gedanken des lyrischen Ichs.
Die Verse 3 und 4 enthalten ein Minidrama: Das lyrische hat kurz Angst, dass der Mond verschwinden könnte, erkennt dann aber erleichtert (s. „Sehet“, „nur“ V. 4), dass Wolken den Mond nicht verschwinden lassen. Beide Verse sind rhythmisch stockend; das liegt zum Einen am parataktischen Satzbau, der kurze, zum Teil sehr kurze Sätze enthält, aber auch am Versmaß, das ein bis zwei Stellen enthält, an denen betonte Silben nebeneinander stehen. So entsteht eine natürliche Zäsur2. Der Rhythmus verdeutlich die Gefühle, die in den Versen ausgedrückt werden: Erst die Angst, die die Sprache stockend macht, dann die Erleichterung. Als wäre das lyrische Ich kurz aus der Puste. Im Hinblick auf die dritte Strophe muss man sagen, dass das Thema des Verlusts schon hier angesprochen wird.
Sollte man das „Willkommen“ des ersten Verses so deuten, dass der Mond erst aufgeht, dass er erst zwischen den Wolken erscheint oder dass er dem lyrischen Ich erst auffällt? Im Gedicht findet sich kein Hinweis, der Willkommensgruß fällt aber auf, weil er sonst eher Personen gilt.
In der zweiten Strophe geht es darum, wie schön der Mai ist. Als Schönheit des Mais wird der Tau genannt, der, und jetzt wird es poetisch!, dem Mond „aus der Locke“ tropft (s. V. 8). Das ist wohl ein metaphorischer Ausdruck dafür, dass glänzender („hell wie Licht“ (V. 7)) Tau beim Mondaufgang (s.V. 8) auf dem Gras liegt. Der Mond wird dabei personifiziert als einer, der Locken hätte, der Mai als einer, der erwachen könnte. „Des Maies Erwachen“ (V. 5) ist wohl metonymisch3 nicht nur für den Anfang des Mais, sondern für den Frühling generell. Frühlingsmond ist, so das lyrische Ich, schöner als Sommernächte.
Diese Personifikationen4 passen gut zum sentimentalen Ausdruck von Naturbetrachtung. Das lyrische Ich beobachtet die Natur nicht nur, es ist mit Gefühl beteiligt, wie man es für die Epoche der Empfindsamkeit (1740 – 1790) erwarten würde. Hier zeigt sich der Ausdruck des Gefühls nicht nur in der Beschreibung des Mondes als „silbern“, in der Ansprache als „Freund“, sondern auch in der Angst wegen seines Verschwindens. Das lyrische Ich ist mit dem ganzen Repertoire an Gefühlen bei der Naturbetrachtung.
Die dritte Strophe beginnt ein neues Thema. Dass es noch Nacht ist und der Mond scheint, lässt sich nur aus den vorigen Strophen schließen, angesprochen wird es nicht. Die Betrachtung geht weg von der Natur zu Gräbern („Male“ (V. 10) im Sinne von „Grabmale“, s. Titel). Die Gräber sind wohl insofern „frühe“ Gräber, weil sie schon früh angelegt wurden, d. h. als sind. Vielleicht sind die Verstorbenen aber auch früh verstorben, d. h. jung.
Das lyrische Ich erinnert sich in dieser Situation, in dieser Mondnacht, an die Zeit mit den Verstorbenen. Es nennt sie „Edlere“ (s. V. 9), d. h. wohl, dass sie gesellschaftlich hoch oder sogar höher als das lyrische Ich standen. Vielleicht ist es auch nur eine Ehrbezeugung. Das lyrische Ich erinnert sich an die Zeit, als die Verstorbenen noch lebten, als eine glückliche Zeit (s. V. 11f). Es hat mit den Verstorbenen die Natur betrachtet, genannt wird hier der Anbruch der Nacht oder des Tages (Röten des Tages könnte beides sein, s. V. 12) und die Nacht (Schimmern der Nacht bezieht sich wohl auf die Stimmung in Licht der Nacht). Dass die Grabmale schon länger bestehen, erkennt man an der Aussage, dass sie schon von Moos bewachsen sind (s. V. 10). Die Enallage des Wortes „ernst“, die nicht sagen will, dass das Moos ernst wäre, sondern dass das lyrische Ich beim Betrachten des Mooses in ernster Stimmung ist, steht im Gegensatz zum vergangenen Glück. Früher war das lyrische Ich glücklich, jetzt ist es ernst.
Die emotionale Beteiligung, d. h. dass das lyrische Ich traurig ist, wird erkennbar am Seufzer („ach“, V. 9) und dem sehnsüchtigen „O“ (V. 11). Das Versmaß zeigt ein weiteres: V. 11 ist auf den Silben „O […] war glückl[…] ich, als […] noch […] euch“ betont. Starke Betonung auf „war“, „als“ und „noch“, d. h. die Vergangenheit wird dem Leser eingehämmert. Außerdem starke Betonung auf „ich“, als wäre das ein Gegensatz zu jemand anderem.
Klopstocks Ode beginnt mit einem Naturbild und endet mit den Gedanken an früh verstorbene Freunde, mit denen das lyrische Ich früher die Natur, vor allem wohl die Tageszeiten betrachtet hat. Dass in der ersten Strophe die Angst besteht, der Mond könnte verschwinden, hat wohl mit der Situation zu tun, die in der dritten Strophe geschildert wird: Das lyrische Ich steht wohl die ganze Zeit über an den Gräbern und betrachtet dort den „Gedankenfreund“, den „Gefährten“. Es gibt einen Gegensatz zwischen den ewigen Abläufen der Natur, hier sind Jahreszeiten, Tageszeiten und das Wetter angesprochen, und den sterblichen Menschen; hier sind es vor allem die Menschen, die früh verstorben sind. Ein memento-mori-Gedanke könnte sich andeuten, wird aber nicht ausgesprochen. Das Vanitas-Motiv ist auch nicht weit entfernt, weil die Gräber die Vergänglichkeit des Menschen ansprechen.
So bewegt sich das Gedicht von der Naturbetrachtung (Mond als Freund) zur Erinnerung an vergangene Zeiten (verstorbene Freunde). Die Natur erscheint einerseits als Gefährte, d. h. als freundliche, schöne und gute Natur, andererseits als Gegensatz zum Menschenschicksal. Die Naturbetrachtung ist auch ein Grund dafür, dass das lyriche Ich sich an die vergangene Zeit mit den Freunden erinnert, weil es ja mit ihnen die Nacht betrachtet hat. Man kann die Ode als Teil der Naturlyrik, vor allem der Mondlyrik sehen, aber auch als Teil der Vanitaslyrik.
Die Sprache des Gedichts ist typisch odenhaft: Da ziehen die Wolken nicht, sondern da „wallt das Gewölk“.