Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die vorliegende Kurzgeschichte von Franz Kafka, verfasst im Jahre 1917, trägt den Titel „Der Nachbar“: Ein Substantiv, welchem als Konkretum der Artikel „der“ zugeordnet ist. Mit der verbunden Konnotation1 des Substantives entsteht ein Gefühl von Freundschaft und Hilfsbereitschaft. Das Entstehungsjahr 1917 weist auf die Zeit während des ersten Weltkrieges hin, eine harte Zeit, in der gerade Bekannte und Nachbarn zusammenhalten mussten.
Kafkas Text handelt von einem Geschäftsmann, der einen ähnlichen jungen Geschäftsmann als Nachbar bekommt. Durch die noch fehlende Bekanntschaft beider aufstrebender Männer kommt es zu keiner Vertrauensbasis zwischen ihnen. Die folgende Analyse soll die Umsetzung dieser Disharmonie zeigen und erläutern.
Die Kurzgeschichte „Der Nachbar“ wird chronologisch von einem Geschäftsmann, welcher als Ich-Erzähler definiert werden kann, wiedergegeben. Dieser Mann wohnt seit längerem ohne Nachbar in einer kleinen, überschaubaren Wohnung. Zum Neujahr mietet ein aufstrebender junger Mann die Wohnung. Erst dann wird dem Geschäftsmann klar, dass er es sichtlich bereut diese nicht vorher gemietet zu haben. Nachdem er bezüglich des jungen Mannes, welcher den Namen Harras Bureau trägt, Nachforschungen betrieben hat, findet er heraus, dass Harras vermutlich ein ähnliches Geschäft leitet wie er. Der Ich-Erzähler zweifelt schon recht früh an der Ehrlichkeit seines neuen Nachbars, obwohl er ihn nie genau gesehen oder gesprochen hat (vgl. Z. 17). Durch diese Vermutung lässt er sich einschüchtern, was die Behinderung seines Geschäftes zur Folge hat.
In der schnellen Verurteilung des neuen Nachbars zeigt sich eine fehlende Vertrauensbasis zweier, nicht bekannter, Männer. Aufgrund von Distanz und gegenseitigem Misstrauen kann kein selbstverständlicher und freundschaftlicher Umgang geübt werden. Mit der schon anfänglichen, nicht ausgesprochenen Anschuldigung an den jungen Mann, der Unehrlichkeit zeigt sich indirekt die generelle Angst des Geschäftsmannes vor Versagen und Scheitern.
Ein genauerer Blick auf die Mikrostruktur des Textes soll zeigen, wie diese Entwicklung mit Hilfe von sprachlichen Mitteln veranschaulicht und verdeutlicht wird.
Durch die Kurze Situierung des Lebens des Geschäftsmannes („So einfach zu überblicken, so leicht zu führen“) wird deutlich, dass vor dem Einzug des neuen Nachbar noch alles glatt und einfach zugegangen ist. Die folgende Anapher2 in Zeile vier zeigt jedoch bereits anfängliche Unsicherheit des Ich-Erzählers, als müsse er sich selbst überzeugen, dass es nichts zu klagen gäbe (vgl. Z. 4). Diese Unsicherheit des Mannes wird zusätzlich durch selbst eingesehene Unfähigkeit unterstützt. So gibt er etwa zu „ungeschickt [...]“ (Z. 5) zu handeln. Außerdem ist er selber der Meinung, dass „die Geschäfte [...] vor [ihm] her[rollen]“ (Z. 3f) und er keinen Einfluss darauf hätte. Der Ich-Erzähler schildert die neu vermietet Wohnung mit Reue („hätte ich wohl brauchen können“ Z. 7), womit er seinen Ärger über sich selbst deutlich macht. Bereits nach der Schilderung beider Wohnungen werden dem Rezipienten gewisse Parallelen beider Männer klar. Sehr schnell wird gezeigt, dass der Ich-Erzähler sich durch Kleinigkeiten in seinem Leben verunsichern lässt und dies seine Möglichkeiten und sein Voranschreiten behindert („Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, daß ich mir die Wohnung habe wegnehmen lassen“ Z. 8f). Bei der Einführung des zweiten Charakters, der neue Nachbar, schwingen Befürchtung und Zweifel des Geschäftsmannes in seiner Sprache mit. Er wechselt zu parataxen Satzstrukturen und zählt Fakten ohne persönliche Wertung auf. Diese Zweifel werden unterstützt durch die eigene These: „Ich habe Erkundigungen eingezogen [...]“ (Z. 11). In keinem Teil des Textes erkundigt er sich bei seinem neuen Nachbar persönlich. Das bedeutet auch, dass aufgrund der personalen Ich-Erzähler Perspektive der Rezipient des Textes das Geschehen der Ereignisebene ausschließlich aus Sicht des Geschäftsmannes verfolgen und wahrnehmen kann. Durch seine Wertungen und seinen subjektiven Blick wird der Leser ganz in dessen Sichtweise hineingezogen. So wird die Möglichkeit der eigenen Positionierung und des objektiven Blickes verwehrt. Dieser Blick kann sich auch nicht auflösen, da der Geschäftsmann ihn noch nicht einmal „genau gesehen ha[t]“ (Z. 17). Auffällig ist auch, dass das Wort „Nachbar“ über den Text hinweg nur einmal auftaucht, als hätte der junge Mann Harras es nicht verdient Nachbar genannt zu werden. Als „der Nachbar“ dann erwähnt wird (vgl. z. 22) wird deutlich, dass der Ich-Erzähler dieses Wort als Ausdruck und Inkarnation für etwas Unehrliches und Zweifelndes ist. Hierbei muss aber differenziert werden zwischen „der Nachbar“ und „mein [...] Nachbar“ (Z. 22), der Ich-Erzähler nimmt nur Bezug auf seinen eigenen Nachbarn. Das nicht vorhandene, aber trotzdem negative Verhältnis dieser Männer wird durch die persönlichen Wertungen des Ich-Erzählers korrespondiert und verstärkt. So bezeichnet er Harras andauerndes Verschwinden in seine Wohnung als „Schwanz einer Ratte“ (Z. 18). Dabei wird nochmal das Ärgern über sich selbst deutlich, da der Geschäftsmann die „Tafel „Harras Bureau“ [...] schon viel öfter gelesen [hat], als sie es verdient“ (Z. 19f) und trotzdem kann er es nicht lassen. Die bereits erwähnte Unsicherheit bei und nach Kleinigkeiten wird im Laufe des Textes verstärkt. Dies zeigt sich auch in der Art des Umgangs des Geschäftsmanns mit seinen Kunden. Er nenne die Namen der Kunden nicht mehr (vgl. Z. 24f) und seine „geschäftlichen Entscheidungen [seien] unsicher, [s]eine Stimme zittrig“ (Z. 29). Die anfängliche Unsicherheit wechselt gegen Ende zu panischen Verhaltensweisen und voreiligen Vermutungen. So „umtanzt [er], die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, daß Geheimnisse preisgegeben werden“ (Z. 26ff). Die inhaltliche Antithese3 in Zeile 21: „den ehrlich tätigen Mann verraten, den Unehrlichen aber decken“ bezieht der Geschäftsmann konkret auf sich und seinen Nachbarn, um mögliche Gemeinsamkeiten an diesem Punkt des Geschehens auszuschließen. Auch wenn er „ein Geschäft ähnlich dem [s]einigen“ (Z. 11f) besitze, gibt es keine Parallelen zwischen beiden Männern. Um den ersten Teil des Hauptteiles (Z. 5-20) von dem zweiten (Z. 21-35) abzugrenzen kann man sich die Verhaltensmuster des jungen Harras genauer anschauen. Während er im ersten Teil tüchtig erscheint („außerordentlich eilig [...] er huscht förmlich an mir vorüber“ Z. 16f) so steht im Gegensatz dazu der zweite Teil, indem er in seiner Wohnung zu sitzen scheint und sich auf die Geschäfte des Ich-Erzählers konzentriert. Der Geschäftsmann erklärt dieses Verhalten mit der Unehrlichkeit von Harras. Im Schluss kommt der Ich-Erzähler sehr direkt auf den Punkt und verdeutlicht nicht nur die gesamte Unehrlichkeit des jungen Mannes, sonder besonders auch den Betrug ihm gegenüber; er würde ihm die Aufträge wegnehmen und abarbeiten. Jedoch basieren all diese Anschuldigungen auf Vermutungen. Er sagt zum Ende auch: „vielleicht [ist er] schon daran, mir entgegenzuarbeiten“ (Z. 38), als würde ihm am Ende klar werden, dass er keine Beweise hat und vorschnelle Schlüsse gezogen haben könnte. Was genau mit den Nachbarn passiert, bleibt dem Rezipienten aber verborgen.
Nicht nur das, für eine Kurzgeschichte typische, offene Ende lässt Kafkas Text als Kurzprosa verordnen. Auch die Reduzierung der äußeren Handlung auf ein Minimum, der unmittelbare Texteinstieg, die Vorstellung des scheinbar Vertrauten in der Banalität einer Alltagssituation weisen auf das Genre der Kurzgeschichte hin. Gerad aber diese Reduktion verlangt von dem Leser, sich die Dimensionen hinter der vorderen Ereignisebene zu erarbeiten. Die fehlende Vertrauensbasis des Protagonisten, vorschnelle Verurteilung und eigenes Zweifeln. Die zunächst freundliche und hilfsbereite Assoziation „des Nachbars“ im Titel wird durch fehlendes Vertrauen und schnelle Anschuldigungen in den Hintergrund gerückt und lassen dieses ansonsten so freundliche Wort beinahe bösartig erscheinen.