Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die moderne Parabel „Der Kübelreiter“ von Franz Kafka erschien im Jahr 1917 und zeigt das Schicksal eines Menschen, dem in einer lebensbedrohlichen Notlage jegliche Hilfe verwehrt und somit auch die Möglichkeit, zu überleben, genommen wird.
Der Text begleitet den Ich- Erzähler, der – inmitten eisiger Kälte – kein Stück Kohle mehr besitzt, um sein Zimmer zu heizen und sein Überleben zu sichern. Aus Angst, zu erfrieren, entschließt sich der Ich-Erzähler, den Kohlenhändler aufzusuchen, den er in seiner ausweglosen Situation als letzte Rettung sieht. Um dem Kohlenhändler überzeugend zu begegnen, fasst der Ich-Erzähler den Entschluss, auf seinem leeren Kohlenkübel reitend die Reise anzutreten und berichtet, wie sich der Kübel hinauf- und hinabsteigend den Weg bahnt und er selbst schließlich an seinem Ziel ankommt. Erwartungsvoll und auf Hilfe angewiesen ruft er den Kohlenhändler, flehend um ein paar Kohlen, die er zeitnah bezahlen möchte. Jener, in seinem wohlig warmen Keller sitzend, glaubt die Stimme eines treuen Kunden gehört zu haben, seine Frau dagegen gibt an, nichts zu hören. Während sie versucht, ihrem Mann die Stimme auszureden, wiederholt der Ich-Erzähler von draußen seine Bitte. Der Kohlenhändler, nach erneutem Vernehmen der Stimme, will sich auf den Weg zu seinem Kunden machen, wird jedoch von seiner Frau abgehalten, die ihn wegen seiner gesundheitlichen Angeschlagenheit nicht in die Kälte gehen lassen will und stattdessen selbst nach draußen geht. Sie leugnet seine Anwesenheit gegenüber ihrem Mann und sucht den Kübel samt Reiter mit ihrer Schürze zu vertreiben, sie schmeißt den Kübel um. Enttäuscht, verraten und seiner letzten Hoffnung beraubt beschimpft der Ich-Erzähler die Frau des Kohlenhändlers und verschwindet in den Regionen der Eisgebirge.
Im ersten Abschnitt (Z. 1–12) wird dem Leser die Ausgangslage des Ich-Erzählers geschildert. Neben einer kurzen persönlichen Äußerung ist der erste Abschnitt durch Schilderungen aus der Ich-Perspektive gekennzeichnet, die allein aus den theoretischen Plänen des Kübelreiters bestehen und keinen aktiven Anteil beinhalten. Sie sollen dem Leser helfen, sich in die Lage des Kübelreiters hineinzuversetzen und seine Gedankengänge nachzuvollziehen. Durch sieben aneinandergereihte Ellipsen1 wird dem Leser eine nüchterne und kalte Zustandsbeschreibung gegeben, der Blick des Ich-Erzählers bewegt sich dabei durch sein Zimmer, aus dem Fenster bis er schließlich zum Himmel blickt – doch auch hier muss er feststellen und damit den Grundkonflikt der Geschichte vorwegnehmen: der Himmel, von dem doch sonst Hilfe in Form des christlichen Gottes der Liebe sicher ist, ist „ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will“ (Z. 2f.), der Starke verwehrt dem ausgelieferten Schwachen trotz theoretischer Potenz die Hilfe.
Nach diesem kurzen Überblick über die ausweglose Situation meldet sich der Erzähler in persönlicher Rede selbst zu Wort. Weiterhin in nüchternem Ton konstatiert2 er: „Ich muss Kohle haben“ (Z. 3). Um sein Überleben in der tödlichen Kälte zu sichern, ist er offenkundig auf Kohle zum Heizen seines Zimmers angewiesen; durch das nachgeschobene, beinahe fragend klingende „ich darf doch nicht erfrieren“ (Z. 3f.) wird eine Unsicherheit des Erzählers deutlich, die sich in diesem Kontext nicht zuletzt auf die Berechtigung, die Notwendigkeit und den Wert seiner Existenz bezieht, schließlich scheint er anzuzweifeln, ob er denn wirklich nicht dem Kältetod zum Opfer fallen dürfe. Eingeengt zwischen dem „erbarmungslose[n] Ofen“ und dem ebenso wenig hilfsbereiten Himmel (Z. 4) sieht sich der Erzähler schließlich zur mutigen Flucht nach vorn gezwungen, sein Ziel sieht er ohne Zweifel und in logischer Konsequenz („infolgedessen“, Z. 4) beim Kohlenhändler.
Jedoch befürchtet er, dass ihm dort nicht geglaubt und deshalb auch nicht geholfen wird, der Kohlenhändler sei „[g]egen [seine] gewöhnlichen Bitten […] schon abgestumpft“ (Z. 6) – womöglich hat er dort in Zeiten der Not schon öfter um Hilfe gebeten. Folglich muss er seine Not und Abhängigkeit deutlich machen und „ganz genau nachweisen“ (Z. 6f.), dass er auf die Barmherzigkeit des Kohlenhändlers angewiesen ist, dann schließlich müsse dieser ihm „unter dem Strahl des Gebots ‚Du sollst nicht töten!‘ eine Schaufel voll in den Kübel schleudern“ (Z. 11f.), ihm also – ganz egal, ob willens oder nicht – zuwenigst aus christlicher Nächstenliebe Hilfe leisten.
Zu Beginn des zweiten Abschnitts (Z. 13–21) bemerkt der Ich-Erzähler, dass schon sein bloßes Auftreten von Bedeutung für die Reaktion des Kohlenhändlers sein müsse; sein Entschluss lautet daher: „ich reite deshalb auf dem Kübel hin“ (Z. 13). Durch die Tatsache, dass ihm der leere Kohlenkübel als einziges Transport- und Fortbewegungsmittel dienlich ist, möchte er seine Mittellosigkeit verdeutlichen und auf die Güte des Händlers drängen; er bezeichnet sich im Folgenden zum ersten und einzigen Mal als „Kübelreiter“ (Z. 14). Das primitive Fortbewegungsmittel wird vom Ich-Erzähler als „prächtig, prächtig“ charakterisiert (Z. 15), ein offensichtlicher Widerspruch zu seiner einfachen Gestalt und dem vergleichsweise geringen Nutzen. Dieser Unterschied zwischen objektivem und subjektivem Blick auf die Bedeutung des Kübels zeigt sich im Folgesatz, als der Kübel als graziler und schöner aufsteigend als Kamele bezeichnet wird (vgl. Z. 15f.). Entgegen der Erwartung des Lesers, der den Kübel womöglich als Schlittenersatz im winterlichen Kontext betrachtet – es ist wohl klar, dass ein Kübel zum Reiten kaum nütze ist – berichtet der Ich-Erzähler aber davon, wie der Kübel aufsteigt und er selbst „oft […] bis zur Höhe der ersten Stockwerke gehoben [wird und] niemals […] bis zur Haustüre hinab[sinkt]“, es verbreitet sich gleichsam das Gefühl eines Schwebezustands (Z. 17f.).
Was rational nicht zu erklären ist, lässt sich womöglich auf Störungen der Wahrnehmung zurückführen; friert der Ich-Erzähler schon ein paar Tage, wirkt sich das vielleicht auch auf seinen Geisteszustand aus und seine Wahrnehmung zittert sozusagen ein wenig. Abschließend hält der Ich-Erzähler fest, dass er „außergewöhnlich hoch“ schwebt, als er an dem Haus ankommt, in dessen Keller der Kohlenhändler sitzt und die Tür geöffnet hat, „um die übergroße Hitze abzulassen“ (vgl. Z. 19ff.). Auffallend sind diese beiden abschließenden antithetischen Paare: Außergewöhnliche Höhe versus Kellergewölbe und Kälte bzw. Angst vor dem Kältetod versus übergroße Hitze: während der Ich-Erzähler frierend und zitternd ums Überleben kämpft, sitzt seine Rettung in persona, der Kohlenhändler, von übergroßer Hitze bedrückt an seinem Tisch; diese Ungleichheit wird durch die räumliche Trennung beider noch einmal verdeutlicht. Der auf Hilfe angewiesene Ich-Erzähler und sein Helfer, der Kohlenhändler, scheinen nicht zueinanderzufinden, die Hilfe unerreichbar; ähnlich hat es der Ich-Erzähler ja schon zu Beginn vorweggenommen (vgl. Z. 2f.).
Der Ich-Erzähler ruft am Anfang des dritten Abschnitts (Z. 22–40) den Kohlenhändler und bittet um ein wenig Kohle, „[m]ein Kübel ist schon so leer, dass ich auf ihm reiten kann“, versucht er zu überzeugen und durch Hinweis auf die Unsinnigkeit, in die ihn seine Not schon getrieben hat, nämlich den Ritt auf dem Kübel, den Kohlenhändler zu erweichen (Z. 2ff.). Dieser, in seinem Keller sitzend und räumlich weit vom Bittsteller getrennt, ist sich unsicher, ob er Kundschaft hört, seine Frau – gemütlich strickend am warmen Ofen sitzend – gibt an, „gar nichts“ zu hören (Z. 25ff.); es scheint, als wolle sie ihre komfortable Situation nicht aufgeben und lieber das Schicksal eines bedürftigen Kunden in Kauf nehmen, als in die Kälte gehen zu müssen. Auf das zaghafte Fragen des Kohlenhändlers jedoch antwortet der Ich-Erzähler, er sei eine treu ergebene alte Kundschaft, „nur augenblicklich mittellos“
(Z. 29f.). Womöglich will er damit deutlich machen, dass sein finanzieller Engpass zeitlich begrenzt ist und er sicher bald für die Kosten aufkommen wird. Indes fühlt sich der Kohlenhändler bestärkt in der Annahme, einen Kunden zu haben, der ihm „so zu Herzen zu sprechen weiß“ (Z. 3f.); offenkundig berührt ihn das Schicksal des Ich-Erzählers und er empfindet Mitleid. Die Frau jedoch wehrt sich erneut gegen ihren Mann: „niemand ist es; die Gasse ist leer; alle unsere Kundschaft ist versorgt; wir könnten für Tage das Geschäft sperren und ausruhn“ (Z. 35f.); es bleibt offen, ob sie das Flehen tatsächlich nicht hört und ihren Mann für verrückt erklärt, oder ob sie schlichtweg zu bequem ist, zu fortgeschrittener Zeit einen Kunden zu bedienen.
Den Kübelreiter stimmt dieser Umstand traurig, „gefühllose Tränen der Kälte verschleiern [ihm] die Augen“ (Z. 37f.). „Aber ich sitze doch hier auf dem Kübel“, klagt er, wohl unverständig darüber, dass seiner Anwesenheit zumindest seitens der Frau des Kohlenhändlers kein Glauben geschenkt, sein Schicksal ignoriert und sein Tod in Kauf genommen wird. Zusätzlich macht ihm der Umstand zu schaffen, dass die beiden gar keine Chance haben, ihn aus dem Kellergeschoss hoch oben über den Dächern zu erblicken, „bitte seht doch herauf“, fleht er weiter (Z. 3ff.). Schließlich bittet er erneut um nur eine Schaufel Kohlen, weist darauf hin, dass alle anderen bereits versorgt seien und bekundet seine Freude und Erleichterung, „würde es doch schon in dem Kübel klappern“ (vgl. Z. 38f.).
Auf dieses Bitten hin entschließt sich der Kohlenhändler zu Beginn des vorletzten Abschnitts (Z. 41–58), die Kundschaft zu versorgen, wird aber von seiner Frau vom Aufstieg der Treppe abgehalten, die ihn in barschem Ton an seine gesundheitliche Angeschlagenheit erinnert und ihm verbietet, hinaufzugehen; weiter wirft sie ihm vor, sein geschäftliches Ansinnen über Frau und Kind zu stellen (vgl. Z. 42ff.). Verfolgt man den Ansatz weiter, dass die Frau allein aus Bequemlichkeit das Rufen des Kübelreiters leugnet, so stellt ihr übertriebenes Gehabe den Versuch dar, ihren Mann von einer möglichen Begegnung mit dem Kunden abzuhalten, um nicht in Erklärungsnot zu geraten. Um den Konflikt zu entschärfen biete sie an, selbst hinaufzugehen; ihr Mann willigt ein.
„Natürlich sieht sie mich gleich“, stellt der Ich-Erzähler fest, schwenkt damit zurück in seine persönliche – das Geschehen im Keller kann er über den Dächern schwebend kaum mitbekommen haben – , und ruft ihr seine Bitte erneut zu; er werde auch bezahlen, allerdings „nicht gleich, nicht gleich“ (Z. 46ff.). Letzteren Worten misst er einen „Glockenklang“ bei, vielleicht weil sie eine gewisse Sicherheit mit sich bringen, und die Zahlung bei sofortigem Erhalt der Wahre – und in diesem Falle damit sofortiger Hilfe – etwas nach hinten verschieben. Dieser Glockenklang des Wünschenswerten vermischt sich „sinnverwirrend [mit dem Abendläuten]“, Wunsch und Wirklichkeit verschwimmen, der Grundzug des Schwebezustandes wird erneut aufgegriffen (vgl. Z 49ff.).
Der Kohlenhändler unterdessen erkundigt sich nach den Wünschen des Kunden, diese leugnet seine Frau ebenso, wie die Anwesenheit des Kübelreiters: erneut steht es im Ermessen des Lesers, ob die Frau den schwebenden Kübelreiter schlichtweg nicht sieht, oder ihn bewusst ignoriert, dass würde zuwenigst der Wahrnehmung des Ich-Erzählers selbst entsprechen. „[N]ur sechs Uhr läutet es und wir schließen“, kommentiert die Frau, für sie ist die Sache damit anscheinend geklärt. (vgl. Z. 52ff.)
Zur Verwunderung des Kübelreiters beginnt die Frau – die nach eigenen Angaben nichts und niemanden sieht oder hört – ihn mit ihrer Schürze zu vertreiben, „[l]eider gelingt es“ (Z. 56): „Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er“ (Z. 56ff.), konstatiert der Kübelreiter: Nachdem er durch seine Not und Todesangst getrieben unter widrigen Umständen und auf einem Kübel reitend den Weg zum Kohlenhändler angetreten hat, wird ihm nun durch ein einfaches Stück Stoff ein Strich durch die Rechnung gemacht und ihm selbst wird die Verwundbarkeit und Schwäche des Kübels schmerzlich bewusst, „eine Frauenschürze jagt ihm die Beine vom Boden“ (Z. 47f.).
Entrüstet über das unsägliche Verhalten der Frau beschimpft der Kübelreiter sie am Anfang des fünften und letzten Abschnitts (Z. 59–62) zweimal: „Du Böse!“ (Z. 59f.). Er wirft ihr Unbarmherzigkeit vor, schließlich habe er um nur eine Schaufel der Kohlen geringer Qualität gebeten, und erfahre Gewalt statt Hilfe.
Der Text schließt mit den Worten: „Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nimmerwiedersehen“ (Z. 61f.). Dem Kübelreiter wird nicht geholfen, er erhält keine Kohlen, mit denen er sein von Frost vollgeblasenes Zimmer (vgl. Z.2) heizen und sein Überleben sichern kann: der Verlust „auf Nimmerwiedersehen“ kann ohne viel Phantasie als des Kübelreiters Kältetod gedeutet werden, die „Regionen der Eisgebirge“ als das Jenseits, das Sein nach dem Sein.
So berichtet die Erzählung „Der Kübelreiter“ über ein trauriges, beklagenswertes Schicksal: Der Kübelreiter hat kein Geld, um sich Kohlen zum Heizen seines Zimmers zu leisten, in Furcht vor dem Kältetod ist er auf selbstlose Hilfe angewiesen, die er beim Kohlenhändler zu finden glaubt, hat dieser doch Kohlen im Überfluss. Obgleich dieser im gern helfen will, so durchkreuzt seine Frau diese Pläne, da sie selbst auf ihr eigenes Wohlbefinden und ihre Bequemlichkeit bedacht und nicht zu barmherzigem Handeln fähig ist. Was für die Frau ohne Folgen bleibt, bedeutet für den Kübelreiter den Tod durch Erfrieren.
Womöglich möchte Kafka mit seiner Erzählung die Leser seiner Zeit wachrütteln, ihren Mitmenschen öfter eine helfende Hand zu reichen und selbst zurückzustehen; konkreter Anlass mag der extreme Winter 1917 gewesen sein, im gleichen Jahr erschien auch die Erzählung. Vielleicht aber sucht Kafka auch, eigene Erfahrungen unterlassener Hilfe zu verarbeitenden; Hilfe, die er dringend gebraucht, die ihm seine Mitmenschen jedoch aus Eigennutz verwehrt haben.
Was auch immer die konkrete Intension Kafkas war, „Der Kübelreiter“ dient auch mehr als 100 Jahre nach seinem Erscheinen den Menschen als Mahnung, Nächstenliebe als Tugend anzuerkennen, die es zu erlernen und zu bewahren gilt, damit denen, die frieren, durch selbstlose Hilfe wieder warm werden kann.