Drama: Der kaukasische Kreidekreis (1944-1945)
Autor/in: Bertolt BrechtEpoche: Literatur im Nationalsozialismus / Exilliteratur / Emigrantenliteratur
Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Charakterisierung und Interpretation
Ein aufmerksamer Leser kann in vielen literarischen Werken eine Entwicklung der Figuren beobachten. Auch in dem Theaterstück „Der Kaukasische Kreidekreis“, geschrieben von Bertolt Brecht und uraufgeführt im Jahre 1948, ist dies der Fall. Das Theaterstück basiert auf dem chinesischen Gleichnis zweier Mütter, welche sich um ein Kind streiten. Durch die Entwicklung der Figur Grusche Vachnadze veranschaulicht Brecht eine Figur welche für die Werte des Humanismus steht.
Zu Anfang des Werkes „Der Kaukasische Kreidekeis ist Grusche Vachnadze eine einfache „Magd“ (S. 18). Auf Flirtversuche des Soldaten erwidert sie „Ich versteh den Herrn Soldat nicht“ (S. 19), während Bühnenanweisungen wie „Grusche versteht nicht“ die Protagonistin als ungebildet und unaufgeklärt dastehen lassen. Der Zuschauer erstellt Vorurteile, unwissend, wie die weitere Handlung verläuft. Darüber hinaus nimmt der Zuschauer wahr, dass die naive Grusche von ihren Mitmenschen ausgenutzt wird, denn „wenn es sich am Ostersonntag darum handelt, wer holt trotzdem die Gans, dann ist es sie“ (S. 25). Grusche erinnert an einen Laufburschen, nur dazu bestimmt, die Befehle der höheren Klasse auszuführen. Der Zuschauer kann Brechts Intention erkennen, denn er kritisiert hier die kapitalistische Klassengesellschaft – die Armen werden von den Reichen versklavt. Daher wird Grusche zu Anfang des Theaterstücks als naiv, unwissend und unaufgeklärt dargestellt – Brecht reizt den Zuschauer, Vorurteile zu kreieren, denn er bewertet die Protagonistin.
In „Der Kaukasische Kreidekreis“ entwickelt sich Grusche zur aufopferungsvollen Mutter. Hiermit treibt Brecht Grusches naive Seite auf die Spitze. Als die Governeursfrau in der Eile ihr Baby vergisst, drückt eine andere Magd Grusche den Sohn in die Hände: „Lügnerisch: Ich sehe nach dem Wagen“ (S. 30). Grusche vertraut der Magd und nimmt das Kind ohne weiteres an. Damit bringt sie sich in eine gefährliche Situation, während die anderen Dienstboten ihr die Wahrheit sagen – „du bist eine gute Seele, aber du weißt, die hellste bist du nicht“ (S. 31). Genauso wie sich die naive Grusche als Magd ausnutzen ließ, wird sie hier zum Opfer der Mutterliebe. Brecht baut mit dieser Entwicklung die Opferrolle von Grusche klimatisch auf und verschafft dem Zuschauer einen weiteren Grund, seine Vorurteile zu bestätigen, nur um sie im späteren Verlauf des Theaterstücks zu widerrufen. Daher entwickelt sich Grusche von der einfachen Küchenmagd zur aufopferungsvollen Mutter, wodurch Brecht ihre naive Facette verfestigt.
Am Ende des Theaterstücks „Der Kaukasische Kreidekreis“ wächst Grusche über ihre sozialen Umstände hinaus. Der Zuschauer wird geschockt, denn seine Stereotypen1 über die einfache und dumme Grusche werden klimatisch widerlegt. Auf ihrer gefährlichen Flucht mit dem Governeursbaby Michel folgt sie weiterhin ihrem mütterlichen Instinkt. Sie lässt Michel an ihrer leeren Brust saugen, um ihn zu beruhigen: „Es ist nichts drin, aber du meinst, du trinkst etwas“ (S. 36). Dies ist ein Symbol von mütterlicher Liebe und des Vertrauens, was einen Kontrast zu der abstoßenden Verhaltensweise der leiblichen Mutter darstellt. Der aufmerksame Leser erkennt den didaktischen Wert des Epischen Theaters, da Brecht den Leser auf die fehlende humane Seite der machthabenden Reichen aufmerksam macht. Er kritisiert wieder einmal die Klassengesellschaft und den Kapitalismus. Dazu schlägt Grusche einen ihr drohenden Soldaten nieder. Brecht veranschaulicht hier eine komplette Charakterwendung von Grusche, von der passiven und versklavten Magd zur aktiven und aufbrausenden Heldin. Durch diese Entwicklung präsentiert Brecht, wie facettenreich Figuren sein können.
Die mütterliche Facette Grusches wird am Ende des Theaterstücks auf die Spitze getrieben. In der Kreidekreisprobe müssen Grusche und die Governeursfrau physisch an Michel ziehen und reißen, um sein Sorgerecht zu erhalten. Während die Governeursfrau weiterzieht, lässt Grusche das Baby los – „soll ich’s zerreißen? Ich kann’s nicht!“ (S. 118). Der Zuschauer kann hier eine Form der Ironie erkennen, da die Governeursfrau Grusche als „vulgäre Perversion“ (S. 117) bezeichnet, während sie selbst widerlich und pervers handelt. Sie würde für Besitz und Reichtum ihren eigenen Sohn verletzen, wodurch Brecht veranschaulicht, wie besitzorientiert die höheren Klassen handeln. Dieser Kontrast zu Grusche hebt ihre Entwicklung hervor, da sie in den schlimmsten gesellschaftlichen Umständen über ihre Umstände hinauswächst. Grusche verkörpert den Humanismus.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Grusche Vachnadze eine komplette Wendung ihres Charakters durchläuft. Grusche entfaltet sich von einer einfachen Küchenmagd zu einer Darstellung des Humanismus.