Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Deutschland des 18. Jahrhunderts war geprägt durch absolutistische Herrscher; Tyrannen, die das Volk unterdrückten. Viele wandten sich gegen dieses System und äußerten ihre Kritik. Nicht wenige taten dies in Form von Gedichten und anderen literarischen Werken. Es entstand eine Bewegung, die von jungen Dichtern und Denkern getragen wurde und sich gegen den Absolutismus richtete. Heute bezeichnet man diese Strömung als „Sturm und Drang.“ Einer der Stürmer und Dränger war der Dichter Gottfried August Bürger. Unter den von ihm verfassten Werken befindet sich auch das Gedicht mit dem Titel „Der Bauer. An seinen durchlauchtigen Tyrannen“, welches er 1775 schrieb. In diesem Gedicht geht es um einen Bauern, der sich anklagend an seinen Herrscher wendet und so Kritik am Herrschaftssystem und der Gesellschaft seiner Zeit übt.
Insgesamt besitzt das Gedicht eine sehr vorwurfsvolle und kritisierende Wirkung. An einigen Stellen sorgt eine bestimmte Wortwahl auch für einen spöttisch-ironischen Ton. So auch in der Überschrift. Auf den ersten Blick scheint diese genau das zu beschreiben, was im Gedicht passiert: Ein „Bauer“ wendet sich mit einer Art Rede „[a]n seinen durchlauchtigen Tyrannen“ (Titel). Das Adjektiv „durchlauchtig“ lässt den Bauern, der zu seinem Fürsten spricht, gegenüber diesem zunächst unterwürfig und sehr respektvoll wirken. Allerdings erhält das Wort, vor allem in Bezug auf die nachfolgende Bezeichnung „Tyrann“ und das restliche Gedicht, einen eher ironischen Unterton.
Der Sprecher tritt im Gedicht direkt in Erscheinung. Er spricht aus der Ich-Perspektive und ist, wie bereits im Titel zu erkennen, ein Bauer. Von Bedeutung ist darüber hinaus das lyrische Du in Gestalt des Fürsten, welches direkt angesprochen wird. Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, dass eine tatsächliche Konversation zwischen Bauer und Fürst zu dieser Zeit hätte stattfinden können, dennoch verwendet der Bauer mehrmals den Ausdruck „du Fürst“ (Vers 1, 4, 13). Interessant zu beobachten ist, dass der Bauer den Fürsten hier duzt. Dieses Verhalten zeigt, dass er seinem Herrscher relativ unehrerbietig gegenübertritt. Trotzdem spricht der Bauer nicht vollkommen respektlos. Er ist zwar sehr direkt und unverfroren, verzichtet aber beispielsweise auf Kraftausdrücke.
Formal gesehen besteht das Gedicht aus sechs Strophen zu je drei Versen. Als Metrum1 wurde fast durchgängig der Jambus gewählt, der stets auf einer männlichen Kadenz2 endet. Das verleiht den Aussagen des Bauers eine gewisse Stärke und Kraft und unterstreicht ihre vorwurfsvolle Wirkung. Die ersten zwei Verse einer Strophe besitzen vier Hebungen, dann folgt je eine dreihebige Zeile. Auffällig ist, dass das Stück keine Reime besitzt und dadurch natürlicher wirkt – wie eine richtige Rede. Seine poetische Form verliert das Gedicht aber dank des regelmäßigen Metrums nicht.
Die ersten drei Strophen sind als rhetorische Fragen formuliert, mit denen sich der lyrische Sprecher an das lyrische Du wendet. In den Strophen eins und zwei hinterfragt der Bauer die Unterdrückung des Volkes durch den Herrscher. Er macht deutlich, dass das Leben eines Bauern als weniger wertig gilt, als das eines Fürsten und zeigt, dass den Bauern kaum Rechte zugestanden werden. Der Parallelismus in Vers zwei und drei verbildlich dies aufzählend (vgl. Vers 2,3). Sogar der „Jagdhund“ (Vers 5) des Fürsten dürfe ungestraft „Klau‘ und Rachen“ (Vers 6) in das „Fleisch“ (Vers 4) des wertlosen Bauern schlagen.
In der dritten Strophe beschreibt der Bauer, wie der Fürst auf die Jagd zieht. Er drückt damit aus, wie der Fürst sich auf Kosten seines Volkes vergnügt. Der Bruch, der durch das „Hurra“ (Vers 8) im Metrum entsteht, illustriert dieses Vergnügen. Im Gegensatz dazu wird die Situation des Bauern durch den Vergleich „Entatmet wie das Wild“ (Vers 9) dargestellt. Der Bauer ist erschöpft und ausgelaugt von der Arbeit, die er für den Fürsten verrichten muss.
In den zwei folgenden Strophen erhebt der Bauer Anspruch auf das, was er durch seine Arbeit erwirtschaftet. „Das Brot“ (Vers 12), das auch der Fürst und seine Tiere zu sich nehmen, kann einzig durch den Verdienst des Bauern entstehen. Die in Vers elf angeführte Aufzählung endet auf dem Personalpronomen3 „du“ (Vers 11), welches sich auf den Fürsten bezieht. Damit wird nochmals hervorgehoben, dass auch der Fürst gewissermaßen von seinem Untertan abhängig ist. In Strophe fünf kritisiert der Bauer den Fürsten dafür, dass er im Gegensatz zu ihm nicht ständig arbeiten muss: „Hast du nicht den Erntetag durchschwitzt“ (Vers 14). Für den Bauern bedeutet dieser Umstand, dass der Fürst eigentlich gar kein Recht auf das Brot haben dürfte. Der Bauer hat es sich durch seinen „Fleiß“ (Vers 15) erarbeitet, deshalb sollte es auch allein ihm zustehen. Diese Denkweise wird durch Vers 15 „Mein, mein ist Fleiß und Brot!“ deutlich. Die Wiederholung des Possessivpronomens „mein“ (Vers 15) und der Ausruf bestärken die Worte des Bauern.
Die letzte Strophe des Gedichtes wirkt sehr spöttisch. Schon die Verwendung der Interjektion4 „Ha!“ macht eine solche spöttische Intention deutlich. Das lyrische Ich klagt den Fürsten an und stellt fest, dass dieser wohl kaum „Obrigkeit von Gott“ (Vers 16) sein könne, da er statt „Segen“ zu „spenden“ (Vers 17) das Volk ausbeutet und beraubt. Die Konsequenz dieser Anklage ist, dass sich absolutistische Herrscher keineswegs mit Gott vergleichen lassen. Die letzte Zeile des Gedichtes ist besonders direkt und abwertend. Mit „Du nicht von Gott, Tyrann!“ macht das lyrische Ich seine Abneigung gegenüber dem Fürsten deutlich. Es handelt sich um einen elliptischen Satz, in dem das Prädikat fehlt. Dieses ist für die Aussage aber auch gar nicht von Bedeutung. Seine Auslassung bestärkt Inhalt und Wirkung hingegen und lässt den Abschluss des Gedichtes noch treffender wirken. Die Bezeichnung „Tyrann“ (Vers 18), die zuvor nur in der Überschrift genutzt wurde, findet hier als letztes Wort des Werkes erstmals wieder Verwendung. Es wird dadurch ein Rahmen für das Gedicht geschaffen, in dem die Kernaussage „Herrscher sind Tyrannen!“ deutlich benannt wird.
Bürgers Gedicht ist ein typisches Werk des Sturm und Drang, das sich gegen Absolutismus und Tyrannei wendet. Die Deutungshypothese, die am Anfang gestellt wurde, bestätigt sich damit. Der Bauer, der als Protagonist im Gedicht agiert, steht stellvertretend für eine ganze Gruppe unterdrückter Menschen – er verkörpert den dritten Stand zur Zeit des Absolutismus. Ähnlich wie der Bauer in diesem Gedicht lehnten sich damals viele gegen dieses System auf und kritisierten die Herrscher, dessen Stellvertreter der Fürst im Gedicht darstellt. Insgesamt bietet das Werk einen interessanten Einblick in die gesellschaftlichen Zustände des 18. Jahrhunderts.