Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahre 1848 verfasste David Friedrich Strauß das Gedicht „An Sie”. Das Gedicht gehört zur Liebes- und Stimmungslyrik und thematisiert die starke Verzweiflung eines lyrischen Ichs. Die Elegie berichtet von widersprüchlichen Gefühlen in der Liebe des lyrischen Ichs, die schlussendlich in einer tiefen Verzweiflung und in dem Wunsch nach Befreiung von der Liebe münden. Betont wird im Gedicht, dass die Liebe das Leben der Menschen leitet.
In der ersten Strophe berichtet das lyrische Ich davon, dass der Aufbau von körperlicher Nähe zu einer emotionalen Entfernung zu seiner Geliebten führt. Die zweite Strophe handelt von den Fluchtversuchen des lyrischen Ichs. Dieses besitzt bei körperlicher Entfernung jedoch starke Liebesgefühle für seine Geliebte. Das lyrische Ich drückt in der dritten Strophe sein Leid und seine Orientierungslosigkeit aus.
Das Gedicht besteht aus 3 Strophen mit jeweils 4 Versen und unterliegt einem durchgängigen 5-hebigen Jambus. Weiterhin ist ein Kreuzreim vorhanden, der sich zusammen mit den abwechselnden männlichen und weiblichen Kadenzen1 durch das gesamte Gedicht zieht. Im Allgemeinen steht der formale Aufbau des Gedichts im Kontrast zu der Verwirrung des lyrischen Ichs (vgl. V. 10). Die einzelnen Formaspekte, wie z. B. der Jambus, die Kadenzen und der Kreuzreim betonen mit ihrer drängenden Wirkung diese Verwirrung. Diese Wirkung wird durch die vielen Zeilensprünge (z. B. V. 1-2, V. 3-4, V. 5-8). Die abwechselnden Kadenzen, der Kreuzreim und der Jambus spielen an den Herzschlag an. Damit stehen diese Formaspekte für das Leitmotiv des lyrischen Ichs, der Liebe (vgl. V. 8).
Im Gedicht sind einige allgemein Besonderheiten erkennbar: Durch eine antithetische Wortwahl mit Worten wie „enger“ (V. 1) und „ferner“ (V. 2), „nah“ (V. 12) und „fern“ (V. 12) und „nähern“ (V. 11) und „entfernen“ (V. 11) wird der Widerspruch in der Liebe des lyrischen Ichs betont. Weiterhin sind im gesamten Gedicht sowohl ein explizites lyrisches Ich (vgl. V. 4, 5, 7) als auch ein explizites lyrisches Du (vgl. V. 4, 6, 7, 12) vorhanden. Das Gedicht wirkt damit persönlicher und emotionaler. Der Leser wird zu Mitleid und Empathie angeregt. Verstärkt wird diese Funktion durch den Titel „An Sie“. Am Personalpronomen2 „Sie“ wird deutlich, dass die Geliebte des lyrischen Ichs weiblich ist. Daher ist davon auszugehen, dass das lyrische Ich männlich ist. Eine weitere Besonderheit liegt im Satzbau der Strophen: Während Strophe 1 und 2 einen hypotaktischen Satzbau aufweisen, wobei der Satzbau von Strophe 2 sehr verschachtelt ist, weist Strophe 3 einen parataktischen Satzbau auf. Auffällig ist hierbei, dass Strophe 1 und 2 in Aussagesätzen formuliert sind, Strophe 3 im Gegensatz dazu in Fragesätzen. Somit wird nach der zweiten Strophe ein Bruch im Gedicht deutlich. Strophe 1 und 2 legen den Fokus auf die Widersprüchlichkeit der Gefühle des lyrischen Ichs und unterstreichen diese mit Hilfe der Hypotaxe. Strophe 3 stellt anschließend die Verzweiflung des lyrischen Ichs mit Hilfe der Fragesätze heraus. Dabei wird ein klimatischer Aufbau des Gedichts erkennbar: Zunächst durch die Hypotaxe „angedeutet“ wird zum Schluss des Gedichtes durch die Fragesätze und den Bruch im Satzbau die Verzweiflung des lyrischen Ichs „offenbart“.
Die sprachliche Gestaltung nimmt im Gedicht eine besondere Funktion ein, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. Durch die Anapher3 „Je“ (V. 1 und 2), einem Parallelismus (V. 1 und 2), der Metapher4 der „Pfühle“ (V. 3) und der Hyperbel5 „Berghohe Tiefe“ (V.4) wird in der ersten Strophe besonders die emotionale Kälte der Partner hervorgehoben. Da die Kissen des lyrischen Ichs und Dus nebeneinander liegen, ist von einer Partnerschaft oder sogar Ehe der beiden auszugehen. Dies wird weiterhin durch das Personalpronomen „wir“ (V. 1 und 2) hervorgehoben. Der Grund der emotionalen Distanz wird mit der Konjunktion „Da“ (V. 3) auf die körperliche Nähe gelegt.
In der zweiten Strophe werden die Gefühle als ein „Bann“ (V. 5) dargestellt. Wie ein Bann sind die Gefühle des lyrischen Ichs nicht bewusst hervorgerufen und unerwünscht. Hiermit wird die Hilflosigkeit des lyrischen Ichs angedeutet. Das lyrische Ich startet Fluchtversuche und will sich der Liebe „entziehen“ (V. 5). Die Metapher „Weite“ (V. 6) und der Superlativ „fernsten“ (V. 7) in Kombination mit der Metapher der „Küste“ verdeutlichen die Intensität der Verzweiflung des lyrischen Ichs. Eine Küste stellt die Grenze zwischen dem begrenzten Land und dem unendlichen Meer dar und steht damit symbolisch für den Wunsch des lyrischen Ichs, von der Liebe befreit zu werden. Das „Herz“ (V. 8) ist ein Symbol für Liebe, Emotionen und Sehnsucht. Da dieses der Geliebten „zugewandt“ (V. 8) ist, handelt es sich um eine starke Liebe. Wie ein „Kompass“ (V. 8) gibt es einem Menschen Orientierung und gibt dem Leben eine Richtung. Das Adjektiv „treuer“ (V. 8) betont die Vertrauenswürdigkeit der Herzen und seiner Entscheidungen.
Die dritte Strophe beginnt mit der Anapher „Was“ (V. 9 und 10) stellt die Hilflosigkeit des lyrischen Ichs heraus. Es wünscht sich „Heilung“ (V. 10) und damit eine Befreiung von seinem Leid. Durch den ständigen „Wechsel“ (V. 9) seiner Gefühle empfindet der lyrische Sprecher nämlich großes Leid. Das lyrische Ich erkennt, dass es unmöglich ist, sich körperlich und emotional gleichzeitig nah zu sein. Dies wird durch das Adverb „wieder“ und durch einen Parallelismus (V. 11 und 12) deutlich.
Nach genauerer Betrachtung der Sprache des Gedichtes wird eine Rahmenstellung im Gedicht deutlich: Strophe 1 und 3 werden beide mit einer Anapher eingeleitet und weisen beide einen Parallelismus auf. Beide Merkmale sind in der zweiten Strophe nicht vorhanden. Strophe 1 und 3 thematisieren zudem die Widersprüchlichkeit in den Gefühlen des lyrischen Ichs, während die mittlere Strophe die Fluchtversuche aufgreift. Außerdem weist die zweite Strophe einen stark hypotaktischen Satzbau auf, der in den Außenstrophen nicht vorhanden ist (bzw. in Strophe 1 weniger stark ausgeprägt ist).
Die Rahmenstellung besitzt eine besondere Funktion: Durch die „Umklammerung“ der Innenstrophe von den zwei Außenstrophen wird ein Eindruck von Enge und Ausweglosigkeit vermittelt. Dieser Eindruck unterstützt die Ausweglosigkeit des lyrischen Ichs, das sich nach Befreiung von der Liebe sehnt.
Schlussfolgernd ist zu sagen, dass die Deutungshypothese bestätigt wurde. Die Liebe wird im Gedicht als Taktgeber des Lebens dargestellt. Die Liebe trifft Menschen oft unerwartet und manchmal auch ungewollt. Die Gefühle sind jedoch zu stark, um sich ihnen zu widersetzen. Die Liebe gibt zusammen mit den anderen Emotionen dem Leben eine Richtung. Diese Aspekte erkennt auch das lyrische Ich: Trotz der Fluchtversuche gewinnt das Herz und damit die Liebe zu seiner Geliebten die Überhand. Das lyrische Ich ist damit gegenüber seiner Gefühle ohnmächtig und kann sich nicht wehren.