Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um das Gedicht „Die Macht der Sprache“ von Andreas Gryphius aus dem Jahr 1646. Das Gedicht ist ein Auszug aus dem Trauerspiel „Leo Arminius“.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, wobei die ersten beiden Strophen 16 Verse zählen, die Letzte nur 14. Bei dem Versmaß handelt es sich um einen fünf- bis sechshebigen Jambus, ein Reimschema ist nicht zu erkennen. Zudem fällt auf, dass die ersten beiden Strophen aus vier Sätzen bestehen, die dritte Strophe jedoch aus fünf Sätzen.
Der Titel des Gedichtes „Die Macht der Sprach“ ist das zentrale Thema, dies wird schon zu Beginn deutlich: „Das Wunder der Natur, das überweise Tier, hat nichts, das seiner Zungen sei zu gleich“ (V. 1–2). Die Bezeichnung „Wunder der Natur“ verdeutlicht, dass es sich bei der Sprachfähigkeit des Menschen um eine außergewöhnliche und gottgegebene Eigenschaft handelt. Die Formulierung „überweise[s] Tier“ hingegen erscheint zunächst als ironisch, so als halte der Mensch sie für übergeordnet. Tatsächlich jedoch ist der Mensch wirklich einzigartig , denn genau die angesprochene Sprachfähigkeit ist mit keinem anderen Wesen vergleichbar. Wie wichtig die Entwicklung der Sprache für den Menschen wirklich ist, erläutert Gryphius in den folgenden Versen: „Ein wildes Vieh entdeckt mit stummen Zeichen des innern Herzens Sinn; durch Reden herrschen wir!“ (V. 3–4). An dieser Stelle wird deutlich, dass erst die Entdeckung, bzw. die Entwicklung der Sprache den Menschen befähigt hat, sich vom gemeinen Vieh abzuheben und eine höhere Seinsebene zu erreichen. Vor allem durch den Ausruf am Ende des vierten Verses wird klar, dass die Sprache ein Instrument ist, welches dem Menschen Tür und Tor für größere Taten als das alleinige Überleben öffnet.
Im folgenden gibt es eine recht lange Aufzählung der Fortschritte, die dem Menschen erst durch die Sprache, bzw. die Nutzung der Sprache möglich sind: „Der Türme Last, und was das Land beschwert, […] was das gesetzte Recht von allen Völkern will, was Gott der Welt ließ von sich selbst vertrauen, […] wird durch dies Werkzeug nur entdeckt“ (V. 5–13). In diesen Versen wird deutlich, dass unser ganzes kulturelles Leben ohne den Gebrauch von Sprache nicht in dieser Form möglich wäre und unser ganzes Sein auf diesem Faktor beruht. Von Architektur (vgl. V. 5) über Physik und Astronomie (vgl. V. 7–8), ist alles vom täglichen Sprachgebrauch abhängig. Vor allen Dingen auch das gesellschaftliche Leben mit all seinen Normen, Werten und Rechten, die wir kennen, achten und auf die wir und verlassen, ist auf der Basis einer durch Sprache gewährleisteten Kommunikationsebene aufgebaut. Sehr wichtig ist zusätzlich, dass auch jeglicher Zugang zu Gott durch die Sprache als Werkzeug geöffnet bleibt (vgl. V. 11f.). So erklärt sich, warum allein der Mensch von einer Verbindung zwischen Immanenz1 und Transzendenz2 ausgeht und diese durch verschiedenste Religionen und Kule ausdrückt.
Die letzten Verse der ersten Strophe können als eine Art Fazit dieser aufgefasst werden: „[D]ie Macht, die wildes Volk zu Sitten hat gezwungen, der Menschen Leben selbst beruht auf seiner Zungen!“ (V. 15–16). Nochmals verdeutlicht Gryphius hier, dass erst die Sprache jeglichen zivilisatorischen Fortschritt möglich gemacht hat. In diesem Sinne ist es erst die Sprache, welche den Quell unseres Lebens ausmacht. Das Ausrufezeichen am Ende des letzten Verses verdeutlicht also nachdrücklich die Grundaussage der ersten Strophe: erst durch die Macht der Sprache ist der Mensch nun an diesem Punkt. Obwohl Andreas Gryphius zur Zeit seines Lebens im 17. Jahrhundert noch nichts von Evolution wusste, liegt er mit seiner Darstellung sehr richtig. Denn mit der Entwicklung der Sprache schritt tatsächlich ach die Entwicklung des Menschen stark voran und entfernte ihn endgültig vom Affen.
Die zweite Strophe steht inhaltlich in Opposition zur Aussage der ersten Strophe: „Doch nichts ist, dass so scharf als eine Zunge sei, nichts, dass so tief uns Arme stürzen könne!“ (V. 17–18). Während sich die gesamte erste Strophe mit den Vorteilen der Sprache für das menschliche Leben befasst hat, so stellt die zweite Strophe die Gefahren dar, welche von dieser ausgehen können. Diese beiden Verse verdeutlichen nämlich, dass die Sprache einerseits ein Mittel zur Verteidigung, vor allem aber auch der Ruin eines Menschen sein kann. Durch Diffamierung eines Mitmenschen oder durch persönliches Entgleisen ist es möglich, Ansehen und Erfolg eines Menschen zu zerstören und ihn somit derart in Verruf zu bringen, dass die womöglich nicht mehr zu beseitigen ist.
Der Ausruf „Oh, dass der Himmel stumm zu werden gönne den, der mit Worten frech, mit Reden viel zu frei! (V. 19–20) drückt somit den Wunsch aus, so mancher würde seine Worte sparen und somit alles Leid, was er damit verursacht, verhindern.
Der Aufbau dieser Strophe gleicht dem der ersten und somit folgen auch nun den ersten vier Versen wieder die Folgen. Vor allem Schlüsselwörter wie „leichenvoll“, „Blut“, „Gift“, „Hass“, „Krieg“, und „Untergang“ (vgl. V. 21–30) verdeutlichen, dass neben den oben dargestellten Fortschritt auch Verderben und Vernichtung auslösen kann. An dieser Stelle wird klar, dass Konflikte zugespitzt werden können, dass es zu Krieg und Tod kommt: „[D]urch Gift den Parzen vorzukommen, […] der ungeheure Krieg, der Zank, der Kirch und Seelen eigenommen, […] durch welche Lieb und Treu verloren“ (V. 25ff.). Nicht nur kann durch Sprache den Schicksalsgöttinnen der Lebensfaden der Menschen aus der Hand genommen werden, auch ist es erst die Macht der Worte, die Zwietracht und Leid in das Leben eines jeden bringen und ganze Gesellschaften unterdrücken kann.
Auch der letzte Vers bildet eine Parallele zu der der ersten Strophe: „Der Menschen Tod beruht auf jedes Menschen Zungen!“ (V. 32). Somit wird nochmals festgehalten, dass Sprache sowohl den Schlüssel zu einem zivilisierten Leben in Kultur und Fortschritt als auch den Weg in Krieg und Tod darstellen kann.
Die letzte Strophe ragt nicht allein formal betrachtet hervor: „Lernt, die ihr lebt, den Zaum in eure Lippen legen!“ (V. 33). Dieser Appell zu Beginn der dritten Strophe sagt klar und deutlich aus, klug und überlegt mit seinen Worten umzugehen.
Mit den Versen „[i]n welchen Heil und Schaden wohnet und was verdammt und was belohnet“ (V. 34–35) gibt der Autor eine regelrechte Zusammenfassung der beiden vorangegangenen Strophen. Den Worten wohnt also eine Macht inne, die Zerstörung bringen, aber auch fortschritts- und lebensspendend wirken kann. Ein zweites Mal gibt es in dieser Strophe einen klaren Appell: „Wer Nutz durch Worte sucht, soll jedes Wort erwägen!“ (V. 36). Erst wer sich der Macht der Sprache bewusst ist, kann für sich nutzen, sowohl im Guten als auch im Schlechten. Klar ist jedoch, dass man niemals arglos mit seinen Worten umgehen darf, da vor allem die zweite Strophe gezeigt hat, wie dies enden könnte.
Sich an den Aufbau der vorangegangenen Strophen angleichend, folgt auch in dieser nun eine Aufzählung möglicher Folgen des Sprachgebrauchs. In diesem Falle Folgen des wohlüberlegten und als Instrument eingesetzten Gebrauchs: „Die Zung ist dieses Schwert, so schützet und verletzt, […] ein Hammer, welcher baut und bricht, […] die Arznei, welch‘ erquickt und kränket“ (V. 37–44). An dieser Stelle wird der Vergleich mit Dingen angestellt, die, je nachdem, wie sie eingesetzt werden, Schaden oder Heil bringen können. Schwert und Arznei stehen hier für die Möglichkeit durch Worte bewirkt Leben zu beenden oder zu erhalten, der Hammer für die, Geborgenheit und Heimat zu schaffen oder eben zu zerstören.
Vor allem der Vers „die Bahn, auf der es so oft gefehlt und gelungen“ (V. 45) zeigt, dass ein jeder mit dem Gebrauch seiner Worte an einem Scheidepunkt steht, an welchem nur in eine Richtung gegangen werden kann, die dann maßgebend ist. Da umzukehren meist nicht mehr möglich ist, wenn Worte einmal gesagt wurden, ist stets Überlegen und Taktgefühl nötig.
Zum Schluss fasst Gryphius seine Kernaussage noch einmal selbst zusammen: „Dein Leben,
Mensch, und Tod hält stets auf deiner Zungen!“ (V. 46). Dieser Vers verdeutlicht nochmals die Macht und di Möglichkeiten der Sprache und appelliert, stets aufmerksam mit seinen Worten umzugehen und möglichst immer die Waage zu halten.