Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus Joseph von Eichendorffs Novelle „Das Marmorbild“ aus dem Jahr 1818. Der Auszug wurde der 1966 in München im Hanser Verlag herausgegebenen Ausgabe entnommen.
Die Novelle thematisiert die Reise des jungen Dichters Florio und dessen Weg zur Erfüllung.
Der vorliegende Text lässt sich in vier Sinnabschnitte einteilen.
Direkt zu Anfang des ersten Abschnittes (Z. 1-5) wird deutlich, dass es sich um ein Werk der Romantik handelt: „Es war ein schöner Sommerabend, als Florio, ein junger Edelmann, langsam auf die Tore von Lucca zuritt“ (Z. 1-2). In der Romantik spielen Jahres- vor allem aber auch Tageszeiten eine entscheidende Rolle. Der Abend ist wie der Morgen positiv konnotiert. Wie auch in dieser Novelle wird er mit anregender Harmonie und Ruhe assoziiert. Dies ist die Tageszeit, in der der Mensch die Möglichkeit hat, mit der Natur zu verschmelzen und sich als Teil des Ganzen zu fühlen. Auch die Beschreibung Florios als „ein junger Edelmann“ formt das typische Bild eines Romantikers. Diese eher junge Generation flüchtet aus der Strenge und den antinomischen Konflikten der Aufklärung und Klassik in die Romantik, indem sie sich vermehrt den irrationalen Kräften zuwendet. Dies wird auch durch weitere Beschreibungen Florios untermalt: „sich erfreuend an dem feinen Dufte, der über wunderschönen Landschaft […] zitterte“ (Z. 2-3). Die hier aufgezeigte Freude an der Natur ist prägender Bestandteil der Romantik. Die Natur wird als Gefäß der Poesie gesehen, als Abbild des Göttlichen auf Erden. Mit ihrer Flucht aus den Zwängen der Rationalität drängt sich den Romantikern diese Erkenntnis auf und führt dazu, dass sie von diesen in vollen Zügen genossen wird und somit auch die Poesie und Kunst einen weit höheren Stellenwert erlangt. Diese typische Abendstimmung zeigt sich zudem nicht nur bei Florio: „[…] zierliche Damen und Herren, welche sich zu beiden Seiten der Straße unter den hohen Kastanienalleen fröhlichschwärmend ergingen“ (Z. 3-5). Di ausgelassene und harmonische Stimmung des Abends wird an dieser Stelle vor allem durch den Ausdruck „fröhlichschwärmend“ verdeutlicht. Dis zeigt ein reges Treiben innerhalb der Stadt an, ist jedoch ohne die Hast und Unruhe des Tages von einem Gefühl der Zufriedenheit und des Einklangs begleitet.
Im zweiten Abschnitt lernt der Leser den jungen Florio durch dessen Begegnung mit einem Fremden besser kennen (Z. 6-21). Eichendorff erhält mit der Beschreibung des Fremden den Schein von Wohlstand, Zuversicht und Wohlgefallen: „ein anderer Reiter in bunter Tracht, eine goldene Kette um den Hals und ein samtnes Barett mit Feder über den dunkelbraunen Locken, freundlich grüßend zu ihm“ (Z. 6-8). An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei der Romantik und deren Vertretern um kultivierte und meist wohlhabende Menschen handelt. Die edle Kleidung des Fremden unterstreicht, dass es sich bei der Stadt Lucca um ein kulturelles Zentrum handelt und von Florio wahrscheinlich genau aus diesem Grund angestrebt wird. Auch die Darstellung des Wesens des Fremden verdeutlicht dies verstärkend: „sein frisches, keckes Wesen, ja selbst seine fröhliche Stimme so überaus anmutig (Z. 10-11). Die Steifheit und das vernünftige Verhalten der Aufklärung, welches von den Romantikern abgelehnt wird, ist in dieser Figur nicht mehr wiederzufinden. Der stets beklagte Verlust an der Schönheit der Natur ist mit der Beschreibung der Stadt und ihrer Bewohner ausgeräumt und macht somit Platz für den Lebensstil der Romantik. Die Tatsache, dass Florio eben diesen Lebensstil lebt, macht seine Antwort auf die Frage nach seinen Geschäften in Lucca (vgl. Z. 12) deutlich: „Ich habe eigentlich gar keine Geschäfte“. Diese Lebensform beinhaltet genau das, was durch Aufklärer bemängelt wird, nämlich das Anvertrauen seiner Selbst an Gottes Gnade und somit ein Hineinleben in den Tag. Die Entgegnung des Fremden lässt noch die bürgerliche versteifte Arbeitsmoral herausklingen: „„Nun, so seid Ihr sicherlich ein Poet!“ versetzte jener lustig lachend“ (Z. 13-14). Künstlerische Arbeit wurde damals nicht besonders hochgehalten, da sie meist ein trostloses Unterfangen war und nicht dem Selbsterhalt diente. Diese Antwort wird durch das Lachen abgemildert, behält jedoch einen spöttischen Unterton. Dennoch muss gesagt werden, dass diese Selbstverwirklichung durch das Leben als frei schaffender Künstler meist den reichen Bürgern vorbehalten war, da diese auch ohne sonderlich ertragreiche Arbeit in Brot waren. Somit ist die Romantik her eine Bewegung, die von der intellektuellen Oberschicht, bzw. dem reichen Bürgertum ausging.
Charakteristisch für diese Zeit sind auch die zahlreichen Naturmetaphern1 und Vergleiche: „da komm ich mir vor wie ein schwaches vom Winde verwehtes Lerchenstimmlein unter dem unermesslichen Himmlsdom“ (Z. 17-18). Der Vergleich mit einem kleinen Vogel wie der Lerche zeigt Florios Gefühl, Teil einer großen Einheit zu, jedoch auch ein stückweit verloren zu sein in der Ganzheit von Gottes Schöpfung. Die Einheit ist zentrales Motiv der Romantik und wird stets angestrebt. Bei Florio jedoch ist erkennbar, dass es noch eine Selbstentfaltung und einer Selbstverwirklichung bedarf, um diese zu erreichen.
Die Entgegnung des Fremden darauf ist genau auf dies bezogen: „Jeder lobt Gott auf seine Weise […] und alle Stimmen zusammen machen den Frühling“ (Z. 19-20). Diese Antwort spielgelt gleich mehrere Denkweisen der Romantiker wider. Einerseits wird die Rolle Gottes, bzw. der Religion deutlich, welche immer wieder als Motiv auftaucht, andererseits wird wieder auf die Einheit des Ganzen eingegangen. Der Frühling ist die beliebteste Jahreszeit der Romantiker, da in ihr alles Leben wider erwacht und die Natur zu neuer Kraft aufblüht. Da die Natur als Gefäß der Poesie und damit ihrer innewohnenden göttlichen Kraft ist, ist diese Antwort als ein Lob zu werten, denn sie gibt Florio das Gefühl, auch jetzt schon Teil des Ganzen zu sein.
Im dritten Abschnitt (Z. 22-40) hat Florio mehr Mut gefasst und seine Beweggründe werden deutlich: „Ich habe jetzt […] das Reisen erwählt, und befinde mich wie aus einem Gefängnis erlöst, alle alten Wünsche und Freuden sind nun aus einmal in Freiheit gesetzt“ (Z. 22-23). An dieser Stelle lässt sich der Drang der Romantiker nach Freiheit erkennen. Mit der Lösung aus den Zwängen und Einschränkungen der durch die Aufklärung geprägten und versteiften Gesellschaft wird der Drang nach Neuem und nach Reisen immer stärker. Die Sehnsucht wird zu einem der maßgeblichen Motive der Romantik: „wie lange habe ich da die fernen blauen Berge betrachtet, wenn der Frühling wie ein zauberischer Spielmann durch unsern Garten ging und von der wunderschönen Ferne verlockend sang“ (Z. 24-26). Florio ist hier als Stellvertreter aller Romantiker anzusehen, der an dieser Stelle einen der Hauptgedanken in Worte fasst. Das Fernweh welches Florio antreibt, ist auch ein Teil romantischer Schöpferkraft. Romantisieren bedeutet nämlich aus den Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu machen und in allen alltäglichen Dingen eine versteckte Würde und Kraft zu finden. Dafür ist die Fantasie höchstes Instrument der Romantik; ebendiese macht es möglich, zu romantisieren und Werke zu erschaffen, die nicht mehr auf die Darstellung des Wahren und Schönen abzielen, wie es noch in der Klassik der Fall war. Die Fantasie regt auch das Vorstellen einer unerforschten Ferne an und lässt aus diesem das Bild größter Sehnsucht erwachsen. Hieraus erstarkt aber auch wieder der Aberglaube: „Habt ihr wohl jemals […] von dem wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hinein verlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch!“ (Z. 28-30). Die Natur gewinnt zwar enorm an Wichtigkeit in der Romantik, doch ist sie auch Herberge vieler mythischer Gestalten und somit ein Gefahrenpotential. So wie der Fremde hier den Zauber der Liebesgöttin anspricht, kommen immer mehr Sagen über ebensolche Fabelwesen auf, die sich des Verstandes ihrer Opfer bemächtigen. Vor allem das „Hütet Euch!“ drückt aus, dass derartige Geschichten nun nicht mehr als Aberglaube abgetan, sondern sehr viel ernster genommen werden. Solche Geschichten sind jedoch stets in der Nacht angesiedelt, die, im Gegensatz zum Abend, negativ konnotiert ist und mit Gefahr vor Verlockung und Verwirrung verbunden wird.
Das hier vorliegende erste Kapitel ist jedoch noch in dem harmonischen Abend angesiedelt: „einen weiten, grünen Platz […], auf dem sich fröhlichschallendes Reich von Musik, bunten Zelten, Reitern und Spazierengehenden in den letzten Abendgluten schimmernd hin und her bewegte“ (Z. 33-35). Mit dieser Betrachtung des fröhlichen und vor allem ungefährlichen Abends ändert sich auch die Stimmung beider Gesprächspartner wieder. Auch dies zeigt wiederum auf, von welch leichtem und unbeschwerten Gemüt der junge Florio ist, was ich nochmals als Vertreter der Romantik kennzeichnet. Er „übergab das Pferd seinem Diener und mischte sich in den muntern Schwarm“ (Z. 39-40). Hier wird nochmal klar, dass Florio, nicht nur charakterlich, sondern auch durch seinen Stand als Edelmann die perfekten Voraussetzungen für einen Romantiker mitbringt. Durch seine träumerische und unbedarfte Art und auch durch die Tatsache, dass er sich um Brot und Unterkunft nicht sorgen muss, ist es ihm möglich, ebendieses Leben zu leben und sich der Schönheit der Natur und Umgebung zu erfreuen.
Im letzten Abschnitt (Z. 41-59) befindet sich Florio auf der Festwiese und begegnet dort seiner späteren Liebe Bianca.
Die „versteckte[n] Musikchöre“ (Z. 41) verdeutlichen aufs Neue den Charakter der Stadt. Sie bietet mit ihren Ausstattungen die perfekte Möglichkeit für Florio, um sich dort zu entfalten und seiner Dichtkunst hinzugeben.
Auch wird hier die Abendstimmung nochmals deutlich: „unter den hohen Bäumen wandelten sittige Frauen auf und nieder […] im lauen Abendgolde wie ein Blumenbeet“ (Z. 42-44). Der Abend ist noch eine Zeit von Sittlichkeit und Harmonie, noch sind keine Anzeichen der Verlockungen der Nacht festzustellen. Der Vergleich der Frauen mit Blumen zeugt von Florios poetischer Gesinnung. Blumen stehen nämlich für die gesamte Pracht und Schönheit der Natur. Der weitergeführte Vergleich mit der Natur macht die Harmonie und das Glück deutlich, welches Florio wahrnimmt und auch selbst verspürt: „Die buntgefiederten Bälle flattern wie Schmetterlinge […] während die unten im Grünen auf und nieder schwebenden Mädchenbilder den lieblichsten Anblick gewährten […] recht wie ein fröhliches Bild des Frühlings anzuschauen“ (Z. 45 ff.). Florio ist an dieser Stelle ganz in die Beobachtung seiner Umgebung versunken und genießt dies mit vollen Zügen. Ebendiese Eigenschaft zeichnet einen Romantiker aus und verdeutlicht dessen Sehnsucht nach Entfaltung und Freiheit.
In diesem Moment begegnet er auch seiner späteren großen Liebe: „Durch ein Versehen ihrer Gegnerin nahm ihr Federball eine falsche Richtung und flatterte gerade vor Florio nieder. Er hob ihn auf und überreichte ihn der nacheilenden Bekränzten“ (Z. 52-54). Nach dieser kurzen Begegnung, in der nicht ein Wort zwischen den Beiden fällt, ist Florio dennoch gänzlich verzaubert: „wendet indes auch Florio von jenem reizenden Spiel wieder ab, und er schweifte wohl eine Stunde lang allein zwischen den ewig wechselnden Bildern umher“ (Z. 58-59). An dieser Stelle wird deutlich, dass Florio gefangen und verzaubert ist von den Einrücken Luccas, was zeigt, dass er sich ganz von seinen irrationalen Gefühlen leiten lässt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Florio als ein typischer Vertreter der Romantik angesehen werden kann. Die Motive der Sehnsucht nach Ferne und Freiheit, sowie die zahlreichen Verbindungen mit der Natur sind maßgeblich für die Romantik. Vor allem ist auch das Hauptthema der Novelle, die Reise des jungen Dichters Florio und dessen Verfall an ein mythisches Fabelwesen kennzeichnend für diese Epoche.