1. Novelle: Das Haus in der Dorotheenstraße (2013)
Autor/in: Hartmut LangeEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Aufgabenstellung
Aufgabe 1: Analysiere das 6. Kapitel der Novelle „Das Haus in der Dorotheenstraße“. Berücksichtige dabei inhaltliche und erzähltechnische Aspekte.
Beginne deine Analyse mit einer Charakterisierung des Protagonisten Gottfried Klausen, um die im Kapitel 6 geschilderte Handlung zu erklären.
Aufgabe 2: Nimm die Aussage Eva Banchellis über Figuren in Hartmut Langes Werk zum Ausgangspunkt, um die Protagonisten Gottfried Klausen und Nathanael miteinander zu vergleichen. Stelle im Rahmen deiner Erläuterungen situative Handlungs- bzw. Textbezüge her.
„Eine gegenseitige ‚Entrückung‘ von Ich und Umwelt (Raum, Dingen,Menschen) kennzeichnet die Existenz dieses Menschen, der sich verloren fühlt in einer öden Unendlichkeit bzw. gefangen in einer bedrückenden, sinnlosen Enge. Eine solche Wahrnehmungsentfremdung entstellt die vertrauten Konturen der Welt, verwischt Nähe und Ferne, Tiefe und Größe, löscht die Farben. […]
Über die ganze Umwelt streckt sich das Grau, die Farbe der Asche und des Nebels, der faden chromatischen Undifferenziertheit und der langen Tage, die ziellos vergehen.“ – Eva Banchelli
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Aufgabe 1
Der zu analysierende Textauszug stammt aus der Alltagsnovelle „Das Haus an der Dorotheenstraße“ von Hartmut Lange aus dem Jahre 2013. Die Novelle thematisiert das Ende einer anfangs scheinbar intakten Ehe des Protagonisten Gottfried Klausen und seiner Ehe frau Xenia und die darauf folgende existenzielle Krise, der Sturz in die Leere, Dunkelheit und Ungewissheit des Protagonisten.
Um die im Kapitel 6 geschilderte Handlung nachvollziehbar erklären zu können, ist mit der Charakterisierung des Protagonisten Gottfried Klausen zu beginnen.
Gottfried Klausen ist ein verheirateter Korrespondent einer überregionalen Tageszeitung, der aufgrund seiner ausgeprägten Sprachkenntnisse an unterschiedlichen Geschäftsreisen in europäische Hauptstädte wie „Rom“ und „Madrid“ teilnimmt, um dort die Vertretung zu übernehmen. (Z. 44 f.)
Anhand seines präzisen Stils und seiner gründlichen Recherchen bemerkt man, dass er seine Arbeit sehr ernst nimmt.
Seine Liebe für die Arbeit erkennt man daran, dass er „obwohl seine Frau erklärte, dass er sie fürs Erste in Kohlhasenbrück , genauer, in dem Haus an der Dorotheenstraße , bleiben würde“ damit einverstanden ist nach London zu verreisen und das Haus zu verlassen. Dies zeigt, dass Klausen seine Arbeit vor seine Beziehung/Ehe mit Xenia stellt.
Klausen steht nicht hinter seinem Wort, denn er besteht zwar darauf, seine Frau mit zu sich zu nehmen und für die Miete zum Teil selber aufzukommen, jedoch tut er das Gesagte selbst nach „Wochen“ nicht. (ab Z. 64 f.)
Klausen führt ein monotones Leben, geprägt von Routinen und ist selber damit unzufrieden, weswegen er sich dazu entscheidet – auf Empfehlung – das Theaterstück „The Tragedy of Othello, the Moor of Venice“ von Shakespeare zu besuchen.
Er lässt sich von dem Theaterstück, welches er zuerst als „vollkommen unglaubwürdig“ beschreibt, unbewusst beeinflussen, denn nachdem Theaterbesuch versucht er, Xenia, die nicht an ihr Telefon geht, mehrmals zu erreichen.
Seine Versuche die Abwesenheit Xenias zu verdrängen scheitern, denn er wacht völlig orientierungslos in seiner Wohnung in London auf „Wo bin ich“ (Z. 150f.) und stellt sich die Frage, warum Xenia denn nicht anrufe.
Anhand der Auskunft über die 3000-Pfund-Mietwohnung, die von Klausen als „nicht zu teuer“ beschrieben wird, lässt sich schließen, dass er wohlhabend ist. (K.3)
Klausen ist eine ängstliche Person. Seine Angst basiert auf Einsamkeit und Selbsterkenntnis, denn im Telefongespräch mit Xenia versucht er ihr klar zu machen, dass es schwer sei, in einer fremden Umgebung allein zu sein. An dieser Aussage erkennt man, dass nicht die Trennung aufgrund seiner Liebe zu ihr so schwer ist, sondern aufgrund der Tatsache, dass er wegen der Trennung allein ist.
Klausen hat nicht nur vor der Einsamkeit Angst, sondern auch vor der Realität, denn als Xenia nicht-wie erwartet am Flughafen ankommt und jemand anderes, laut Klausen ein Mann, seinen Anruf entgegennimmt, legt Klausen sofort auf. Auch später findet eine Abschirmung der Realität statt, als er die Anrufe (vermutlich von Xenia) nicht entgegennimmt, sogar einen Blick auf das Display verweigert.
Klausen versucht die nahezu eindeutigen Hinweise der vermutlichen Untreue seiner Frau zu übersehen bzw. zu überhören und diese drängen sich im Nachhinein bis an die Oberfläche, bis es zu einem Ausbruch kommt.
Bevor es zu einem Ausbruch der Gefühle kommt, wagt es Klausen auf Hinweis, darauf zu hoffen, dass er sich verhört hat, dass er sich wahrscheinlich getäuscht hat.
Klausen besucht das Theaterstück „The Tragedy of Othello, the Moor of Venice“ von Shakespeare erneut, während es beim ersten Mal für Ungläubigkeit und innere Abwehr sorgte, sorgte es beim zweiten Mal – nach den Geschehnissen, wie die unbeantworteten Anrufe oder die Männerstimme- für Empörung und Verdrängung.
Das Theaterstück hat so einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass ihm die Worte „put out the light“ nicht aus dem Kopf gehen.
Diese Charakterisierung enthält Informationen, über die uns der auktoriale Erzähler Auskunft gibt.
Die Informationen zur Familie des Protagonisten oder zu seinen Freundinnen und Freunden werden dem Leser vorenthalten, so dass die soziale Umgebung nur die Ehefrau und den Chefredakteur umfasst, weswegen Klausen als Einzelgänger dasteht.
Im Folgenden gilt es, das 6. Kapitel der Novelle „Das Haus an der Dorotheenstraße“ zu analysieren und dabei inhaltliche und erzähltechnische Aspekte zu berücksichtigen.
Thematische Aspekte dieser Novelle sind : die existenzielle Erfahrung (Trennung, Zerstörung einer Pseudoidylle), Bewegung und Bewegungslosigkeit (Brücke, Flugzeug, Schlaf etc.), extreme Gefühle (Einsamkeit, innere Leere), Kunst (Theater), wiederkehrende Naturmotive (Wetter, Regen, Gewässer), Kommunikation (Gespräche, Sprachlosigkeit), Illusion und Desillusion (Männerstimme, Untreue).
Kapitel 6 ist das letzte Kapitel der Alltagsnovelle. Es handelt von den Folgen des Theaterstücks.
Folgen wie die negative Entwicklung der Arbeitsweise Klausens von der „präzisen“ Arbeit zur „schlampigen“ (Z. 373), Klausens Unzufriedenheit und von der gewollten Flucht aus London nach einem ihm gleichgültigen Ort, Angst vor der Selbsterkenntnis, mit der er konfrontiert ist, wenn er auf sich selbst verwiesen wird.
Diese aufgelisteten Aspekte, werden im Folgenden näher erläutert.
Das Kapitel beginnt mit der Replik „put out the light“ aus dem Drama Shakespeares „The Tragedy of Othello, the Moor of Venice“.
Das Theaterstück „The Tragedy of Othello, the Moor of Venice“ von Shakespeare wurde von Lange bewusst gewählt, denn dieses Theaterstück ist ein Drama, welches die extremen Gefühle Eifersucht und Leidenschaft thematisiert und von dem Mord an Desdemonas, welche von Othello ihrem Mann ausgeübt wird, erzählt. Othello fällt einer Intrige zum Opfer, von jemandem und glaubt an die Untreue seiner unschuldigen Frau, woraufhin er sie ermordet. Im Nachhinein erfährt er jedoch, dass seine Frau unschuldig war und begeht Selbstmord.
Aufgrund dieses Wissens, welches uns der auktoriale Erzähler übermittelt, kann man die Beschreibung des Hauses am Ende dieses Kapitels als mögliche Ermordung Xenias Klausensseits interpretieren.
Die Gedanken an die mögliche Untreue seiner Frau veranlasse ihn dazu bei seiner Arbeit „schlampig“ zu werden, dies zeigt den Kontrollverlust, welcher sich auch bei der Arbeit bemerkbar macht.
Statt dass er sich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentriert, fokussiert er sich auf „private Affären, irgendwelcher Abgeordneter“ (Z. 373f.). Dies kann man mit der zuvor erwähnten These von Klausens Abschirmung der Realität (in der Charakterisierung) verknüpfen, oder aber auch als Abwehrmechanismus betrachten um von dem eigenen Problemen wegzukommen, um nicht auf „dumme“ Gedanken zu kommen, die im weiteren Verlauf von ihm selbst angedeutet werden. „Man lernt sich kennen, und man erlebt, das kann ich dir versichern, manch unangenehme Überraschung.“ (Z. 401-403).
Dieses Zitat verdeutlicht erneut seine Angst vor der Selbsterkenntnis, vielleicht ist also nicht die Einsamkeit an sich das Problem, sondern das, wozu die Einsamkeit führt und zwar an irgendwelche Sachen zu denken, ohne die Bestätigung von anderen zu bekommen.
Klausen scheint alles fremder vorzukommen als sonst, es erscheint alles unscharf, selbst die Umrisse des sonst auffälligen Big Ben, welcher selbst von weitester Entfernung erkennbar ist (Z. 380), vor allem für Klausen ist es untypisch, denn laut Erzähler, ist niemand mehr für den Job in London geeignet als Klausen (Z. 87f.)
In dem 6. Kapitel wird erneut das Wetter erwähnt und wie es die Umgebung zu verwischen scheint.
Das Wetter in der Novelle ist ein Leitmotiv, es beschreibt den Gemütszustand und in den meisten Fällen die Unzufriedenheit Klausens. Die Ungewissheit Klausens wird durch das verwischende Londoner Wetter beschrieben. Außerdem ändert sich das Wetter in dem Kapitel von verschwommen auf „warm“, was eine Atmosphäre von Änderung des Gemütszustands erweckt. Das kalt oder regnerische Wetter in London ruft im Allgemeinen in der ganzen Novelle ein Gefühl von Unruhe hervor und im Gegensatz dazu hat man in Berlin das warme Wetter mit einer Umgebung von Kastanien, welches Berlin als vertrauten Ort für den Protagonisten darstellt.
Die Unzufriedenheit in London wird auch im Folgenden deutlich, als er fest entschlossen ist, von London zu gehen und das egal wohin. Dieser Entschluss taucht in Form eines Dialogs auf, welcher auch der einzige in der ganzen Novelle ist.
Dass er über seinen Entschluss mit einer anderen Person redet zeigt, dass er sich wirklich fest dazu entschlossen hat, denn so ist jemand Zeuge von seinen Worten, die eigentlich sonst in der indirekten Rede kurz wiedergegeben werden und somit keinen wesentlichen Anteil haben.
Klausen schlägt vor, nach Island zu fliegen, zu dem Ort, wo der Vulkan ausgebrochen ist und welcher gleichzeitig der Ort ist, der ihn davon abhielt zu seiner Frau nach Berlin zu fliegen und ihm somit die Chance genommen hat, seine Ehe zu retten.
Die Vermutung, dass das ein Aschefeld sein muss, das alles unter sich begraben hat, ist eine mögliche Anspielung auf die Ehe, die immer weiter abstirbt. (Z. 417 f.)
Durch die rhetorischen Fragen erweckt der auktoriale Erzähler Aufmerksamkeit und regt den Leser dazu an nachzudenken, dies ist eine Erzählstrategie, um den Leser bis zum Ende am Ball zu halten und um Verwirrung zu stiften. „Und das Haus … persönlichen Sachen zusammenzusuchen?“ (Z. 421-433)
Der Erzähler behauptet, dass wir letztendlich nicht wüssten, was geschah, er bezieht sich mit ein und lässt uns bewusst an seinem Wissen zweifeln und stürzt uns somit ins Ungewisse, denn dass er in dem Kapitel ein personaler Erzähler sein könnte ist aufgrund der Leseansprache auszuschließen. („wir“ Z. 435)
Das Kapitel endet mit der inneren Raumbeschreibung des Hauses in Berlin, welche genau wie am Anfang präzise ist und einen vertrauten Umgang bietet.
Es wird darauf angespielt, dass Klausen nach Berlin verreist und einen Mord ausübt, denn er ruft „Put out the light!“ und die Lichter erlöschen.
Das Verschwinden von Klausen könnte die mögliche Auflösung im Wahn oder die existenzielle Krise darstellen, dies sorgt für die Verunsicherung des Lesers und in wirkungsästhetischer Hinsicht ist es die „Gewissheit der Ungewissheit“ (Kleinschmidt 2013)
Aufgabe 2
Im Folgenden gilt es, Gottfried Klausen aus der Novelle „Haus in der Dorotheenstraße“ mit Nathanael „der Sandmann“ von E.T.A Hoffmann, zu vergleichen.
Beide Novellen entsprechen der Gattungsform.
Die unerhörten Ereignisse, bei Nathanael das Kindheitstraume und bei Klausen die Untreue der Ehefrau, sind vorhanden und führen beide Protagonisten zur existenziellen Krise oder sogar in den Wahn.
Beide Protagonisten sind aufgrund der unerhörten Ereignisse gefangen, so dass diese Gefangenheit in ihnen ausbricht und sie an Mordgedanken kommen. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass Nathanael es wagt, diesen Gedanken umzusetzen, indem er versucht, Clara (seine Geliebte) in den Tod zu stürzen (Ratsturm Szene). Klausen hingegen versucht vor seinen Gedanken zu fliehen, aber ob er den Versuch gewagt hat, Xenia umzubringen, bleibt für den Leser, aufgrund der mangelnden Information, verborgen.
Beide sind von der Umwelt isoliert, bei Nathanael liegt es in seiner eigenen Verantwortung, dass er sich trotz Familie, Freundes, Geliebten isoliert, bei Klausen hingegen wird anhand der vorenthaltenen oder gegebenen Informationen deutlich, dass Klausen es sich nicht selber aussucht, denn von seiner sozialen Umgebung ist außer von seiner Frau und dem Chef nicht die Rede.
Bei beiden Protagonisten fangen die Probleme aufgrund der Wahrnehmungsmedien an.
Nathanael nimmt alles mit seinen Augen wahr (deutlich an den Motiven und nahezu 100mal erwähntem Auge in verschiedenen Situationen: „Auge“, „Oge“, Augenblick“)
Klausen hingegen nimmt es mit seinen Ohren wahr. (Telefongespräch: Männerstimme)
Bei beiden sind es Wahrnehmungsmedien, die unzuverlässig sind im Einzelnen, denn man kann Sachen übersehen und überhören.
Diese Unzuverlässigkeit ist auch der Grund für die Verwischung von „Nähe und Ferne, Tiefe und Größe“ und führt zu der unzureichenden Balance von Vernunft und Fantasie, Illusion und Realität.
Zusammenfassend kann man sagen, dass beide Protagonisten sich sehr ähneln, jedoch trotzdem in gewissen Aspekten Unterschiede aufweisen.