Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Das Bürofenster“ wurde von Roman Ritter verfasst und im Jahr 1978 publiziert. Das lyrische Werk handelt von dem Zwiespalt des lyrischen Ichs zwischen Wille und Pflicht, Natur und Büroalltag, wobei es diesen Zwist zu ignorieren versucht.
In der ersten Strophe wird die Wahrnehmung der zerstückelten Natur durch das Bürofenster dargestellt. Das lyrische Ich lässt sich von seinem Schreibtisch abwenden und beobachtet die Natur durch das Fenster. Die zweite Strophe beschreibt die Annäherung an das Fenster und, dass der Blick sich weitet. Das lyrische Ich wendet sich nun vollständig der Außenwelt zu und beschreibt diese konkret. Die dritte Strophe thematisiert das Öffnen des Fensters als Aufbegehren und, dass visuelle Wahrnehmung durch weitere Sinne ergänzt werden. In der vierten Strophe wird als Kontrast zu den Tätigkeiten der Arbeitswelt ein Tagtraum mit Tätigkeiten in der Natur dargestellt. Das lyrische Ich lehnt sich aus dem Fenster und stellt sich vor, was es draußen auf dem Rasen unternehmen könnte. Die fünfte Strophe beschreibt das Beenden des Tagtraums durch den Gedanken an den Chef. Das lyrische Ich geht zurück zu seinem Schreibtisch, da sein Chef seine Ablenkung am Fenster nicht toleriert. Die sechste Strophe behandelt somit die Befolgung der Anweisung des Vorgesetzten. In der siebten und letzten Strophe wird eine ironische Handlungsalternative thematisiert. Das lyrische Ich stellt sich vor, dass man einige Zweige einer Hecke in eine Vase stellen könnte und diese auf dem auf dem Büroschrank platzieren.
Zudem kann man einige formale Details benennen und deuten. Das Gedicht weist eine einfache Sprache auf und ist arm an rhetorischen und sprachlichen Mitteln. Die trostlose Büroatmosphäre spiegelt sich so in der formalen Ausgestaltung des Textes wider. Der ironische Unterton (vgl. V. 9f. und vgl. V. 27-30) verweist darauf, dass sich das lyrische Ich seiner Situation bewusst ist. Das Gedicht gliedert sich in sieben Strophen mit einer unregelmäßigen Versanzahl. Basierend auf dem Fehlen eines Metrums und eines Reimschemas sowie männlicher und weiblicher Kadenzen2 entsteht durch den Zeilenstil3 ein beweglicher Rhythmus. Hierbei stehen diese Unregelmäßigkeit und das Fehlen analog zum lyrischen Ich und seiner Gefühlslage. Denn sie unterstreichen die Unzufriedenheit und lückenhafte sowie gehemmte Gefühlswelt des lyrischen Ichs.
Des Weiteren lassen sich einige Besonderheiten in der Sprache erkennen, die es im Folgenden zu analysieren gilt. Zunächst kann man den Titel des Gedichts interpretieren. Der Titel beinhaltet die zentralen zwei Ebenen des Gedichts: Zum einen das Büro, in welchem das lyrische Ich gefangen ist, als auch das Fenster, das als Tor zum Zufluchtsort der Natur angesehen werden kann. Darüber hinaus beschreibt das lyrische Ich die Außenwelt mithilfe einer Akkumulation (vgl. V. 2 – 5), was betont, dass das lyrische Ich sich bei dieser Ablenkung verliert und die Natur seine volle Aufmerksamkeit beansprucht. Da der Sprecher sich freiwillig ablenken lässt, verdeutlicht dies die Unzufriedenheit mit seiner derzeitigen Lage und dass es versucht, dieser zu entfliehen. Außerdem illustriert die Metapher (s. V. 2, 6, 14, 25) eine Öffnung zu einer anderen Welt, die erfreulicher, attraktiver und anziehender ist, als die Realität, in der das lyrische Ich lebt. Hierbei ist auch der Titel „Das Bürofenster“ verständlich, da das Fenster im Büro eine andere, ansprechende, aussichtsreiche und anziehendere Welt zum Vorschein bringt. Somit zieht das Fenster bzw. die Natur, die zu sehen ist, das lyrische Ich an, denn es sieht zuerst „durch das Fenster“ (s. V. 2), geht zum Fenster (vgl. V. 14) und geht, aufgrund des Chefs Willen wieder zu seinem Schreibtisch zurück (vgl. V. 24 – 26). Hierbei entsteht ein Klimax4-ähnlicher Verlauf. Somit werden ein emotionaler Aufstieg und die steigende Sehnsucht in der Gefühlswelt des lyrischen Ichs beschrieben. Diese arbeitet in einem Büro (vgl. V. 1, 26, 30), welches das Öde, Graue und Langweilige verkörpert. Infolgedessen möchte es seinem beruflichen Alltag entfliehen, sprich die Schönheit und die Freude der Natur genießen. Somit werden Berufsalltag und Natur entgegengestellt und verstärken als ein Oxymoron5 den Kontrast dessen, was das lyrische Ich nun tut und was es wirklich tun will. Der Sprecher wird dermaßen von der Außenwelt mitgerissen, dass es diese mit verschiedenen Sinneseindrücken miterlebt. Somit beschreibt es mithilfe von Synästhesien6 (vgl. V. 8 – 13, 15) die omnipräsente Präsenz der Natur. Auffällig ist zudem, dass diese mit positiven Verben und Adjektiven beschrieben werden, wie „lachen“ (s. V. 10), „blüht“ (s. V. 13), „leicht“ (s. V. 8), „grün“ (s. V. 9), „weich“ (s. V. 17), „lesen“ (s. V. 19), „herumschmusen“ (s. V. 20), „nichts tun“ (s. V. 21), „essen“ (s. V. 22) und „Fußball spielen“ (s. V. 23). Des Weiteren werden hypotaktische Sätze (vgl. z. B. V. 6 - 12) und Akkumulationen (vgl. z. B. V. 19 – 23, 2 – 5), die Natur beschönigt mithilfe von Euphemismen7 zu beschreiben, sodass deutlich wird, das das lyrische Ich nur die positiven Seiten sieht und diese teilweise sogar idealisiert. Es wird dermaßen in von der idyllischen Schönheit der Natur in den Bann gezogen, dass das lyrische Ich eine Inversion8 (vgl. V. 16 – 18) benutzt, welche die Verwirrtheit und das das Überrascht-Sein des Sprechers verstärkt betont. Außerdem erfasst das lyrische Ich Vorstellungen, wie es seine Zeit im Büro anderweitig verbringen kann und zählt mithilfe von Akkumulationen (vgl. V. 19 – 23) verschiedenste Freizeitbeschäftigungen auf. Dies hebt hervor, dass es nicht mehr in seiner Bürowelt verweilen kann oder will. Es entflieht dem sozusagen auf mentaler Ebene und sogleich täuscht es sich das Gefühl vor, in der Natur zu sein. Dies wird durch den Vergleich „auf diesem Rasen, der sicher weich ist wie ein Fell“ (s. V. 16 f.) betont. Da das lyrische Ich verzweifelt versucht, seinem grauen, öden Alltag im Büro zu entfliehen, entsteht ein verzweifeltes Klangbild. Durch dessen Wirkung wird ein eine resignierte Stimmung eingeleitet. Denn obgleich der Sprecher die Natur verherrlicht und idealisiert, ist es dazu verdammt, sich wieder zurückzuziehen und seinen Willen zu unterdrücken, zu ignorieren (vgl. V. 24 – 26). Das lyrische Ich kann sich aber nicht vollständig von der Natur abwenden (vgl. V. 27 – 30). Dies führt zu der Annahme, dass obwohl der Sprecher seinen Willen und seine Bedürfnisse zu ignorieren versucht, diese nichtsdestotrotz das lyrische Ich verfolgen und nicht abzulegen sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch die hypotaktische Struktur, die Synästhesien, Metaphern9 und Akkumulationen ein verzweifeltes Klangbild entsteht, welches die resignierte Gefühlswelt des lyrischen Ichs einleitet. Es steht somit im Zwiespalt zwischen Wille und Pflicht bzw. Natur und Büroalltag, wobei der Versuch jene Problematik zu ignorieren scheitert, was ebenfalls die Hauptaussage des Gedichts darstellt.