Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Gegenwartsroman „Die Vermessung der Welt“, verfasst von Daniel Kehlmann und publiziert im Jahr 2005, handelt von der Vermessung der Welt durch zwei schon zu Lebzeiten berühmten Wissenschaftlern, Alexander von Humboldt und Carl Gauß. Anhand ihrer fiktiven Biographien berichtet Kehlmann in seinem Roman auf humorvolle Weise von ihrem Leben.
Die beiden Wissenschaftler begegnen sich im Roman nur einmal, doch der Autor verflicht ihre Lebensläufe dauerhaft miteinander und zeigt durch philosophische, zentrale Themen, wie die Auseinandersetzung mit dem Prozess des Alterns, der Frage, was „Deutschsein“ ausmacht sowie die Rolle der Wissenschaft auf, dass auch die größten Geister in der deutschen Geschichte sich mit menschlichen Sinnfragen auseinandersetzen mussten.
Der Roman beginnt mit einer Reise von Carl Gauß nach Berlin, wo er Alexander von Humboldt zum ersten und einzigen Mal trifft. Cal Gauß, wohl einer der größten deutschen Mathematiker, wirkt in diesem Kapitel gar nicht wie eine bedeutende Persönlichkeit; er hat keine Lust aufzustehen und wirft in einem cholerischen Wutanfall ein Buch aus dem Fenster (vgl. S. 7, 9).
Solche Passagen, in denen die Protagonisten entgegen der Lesererwartung handeln, sind häufig im Roman zu finden und wirken sehr humorvoll.
Carl Gauß begibt sich dann aber doch nach Berlin, wo er Alexander von Humboldt trifft (vgl. S. 15 ff). Von dieser Szene an wird in chronologischer Reihenfolge die Entwicklung der beiden Wissenschaftler vom Kindesalter bis ins hohe Alter beschrieben.
Das Kapitel „Das Meer“, welches auf das Einleitungskapitel folgt, befasst sich mit Alexander von Humboldt, welcher auf Weltreise ging, um die Welt zu erforschen. Er hatte einen älteren Bruder, Wilhelm, welcher ihm in allem überlegen war. Wilhelm war „das Vorzeigekind“, war gebildet, interessierte sich für Literatur und war schon als junger Erwachsener mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten der Weimarer Klassik, in deren Zeit der Roman handelt, bekannt.
Dennoch versuchte er mehrfach, seinen jüngeren Bruder umzubringen, indem er ihn in einen Schrank einschloss, giftiges Essen reichte oder in einen zugefrorenen See stürzen ließ (vgl. S. 21-25). Nach diesem Ereignis begann Alexander von Humboldt, gewissenhafter als vorher an seiner Bildung zu arbeiten und beschloss, Wissenschaftler zu werden (vgl. S. 26).
Humboldt traf den berühmten Georg Forster, welcher mit Cook die Welt umsegelt hatte und entschloss sich dazu, ebenfalls zu reisen, um die Welt zu erforschen.
Er verabschiedete sich in Weimar von seinem älteren Bruder, wo er Herder und Goethe kennenlernte. In Salzburg kaufte sich Humboldt eine Ausstattung an Messgeräten und übte ein Jahr lang, sie exakt zu verwenden.
Dabei zeigte er ein sehr großes Durchhaltevermögen und eiserne Selbstdisziplin: „Einmal band er sich eine Woche lang den Arm auf den Rücken, um sich mit Unbill und Schmerz vertraut zu machen“ (S. 38). Dies sind die auffälligsten Charaktereigenschaften Humboldts.
Des Weiteren vertritt er sehr stark das Deutsche Sendungsbewusstsein, ein Ideal der Weimarer Klassik. Er verhält sich im Ausland „typisch deutsch“: „Weil ihn die Uniform2 störte, ließ er sich eine zweite anmessen, die er auch nachts im Bett trug“ (S. 38). Dieses Verhalten zeigt das erste Thema des Romans: Was macht einen Deutschen überhaupt aus?
Humboldt reiste aus Salzburg nach Paris, um sich endgültig von seinem Bruder zu verabschieden, dort traf er „auf der Treppe von Humboldts Wohnhaus“ (S. 39) einen jungen Mann, der Schnaps trank, wütend wurde, als Humboldt ihm auf die Hand trat.
Er hieß Aimé Bonpland und wurde Humboldts Mitreisender. An dieser Stelle zeigen sich schon bedeutende Unterschiede in den beiden Charakteren: Humboldt wurde von seinem Bruder mehrfach beinahe umgebracht, blieb jedoch ihm gegenüber ruhig und freundlich, während Bonpland aufbrauste, als Humboldt ihm aus Versehen auf die Hand trat. Es zeigt, wie kontrolliert sich Humboldt verhält, und wie emotional Bonpland reagiert.
Des Weiteren trank Bonpland Schnaps, schaltete seinen Verstand in diesem Moment aus. Ein derartiges Verhalten ist Humboldt fremd, der seine erste wissenschaftliche Arbeit schrieb (S. 27), während sein Bruder zum ersten Mal Alkohol trank.
Trotz dieser Unterschiede wurden die beiden Reisegefährten, denn „Jung seien beide, […] entschlossen auch, gemeinsam würden sie groß sein“ (S. 40).
„Sie nahmen die erste Fregatte, die von La Coruna aus in die Tropen aufbrach“ (S. 44). Das Schiff ging vor Teneriffa für zwei Tage vor Anker, um Vorräte aufzufüllen. Diese zwei Tage nutzt Humboldt, um die Insel zu vermessen. Gemeinsam mit einer Gruppe von Führern besteigen sie einen Vulkan. „Ganz Teneriffa, erklärte Humboldt ihren Führern, sei ein einziger, aus dem Meer ragender Berg. Ob sie das nicht interessiere?“ (Z. 1 f). Dieses Verhalten hebt das deutsche Selbstverständnis, anderen alles erklären zu müssen, die aufklärende Position hervor. Humboldt kann sich nicht in die Führer hineinversetzen, die noch nie auf dem Berg gewesen waren (vgl. Z. 6), denn er begegnet anderen Kulturen mit Unverständnis, während er seine eigene Kultur (z. B. Uniform) überall hin mitbringt und als selbstverständlich betrachtet.
Humboldt bringt ein außerordentliches Durchhaltevermögen auf, das aus dem jahrelangen Kampf, der Konkurrenz mit dem eigenen Bruder resultiert: „Durstig und an den Händen blutend, erklommen sei den Gipfel“ (Z. 10 f). Allen Widrigkeiten zum Trotz setzt Humboldt seinen Weg immer fort, um die Wissenschaft voranzubringen. Auf dem Gipfel des Berges vermisst er, ganz im Sinne der Wissenschaft, die Bergeshöhen, während „Bondpland [frierend in die Ferne starrte]“ (Z. 15).
Hier zeigt sich ein weiterer Wesensunterschied: Humboldt ist vom Forschergeist völlig erfüllt, wohingegen Bonpland der Wissenschaft nur mit mäßigem Interesse begegnet.
Diese Szene wirft für den Leser die Frage auf, in welchem Maße die Wissenschaft das eigene Leben beeinflusst, was man ihr opfert – ein weiteres zentrales Thema des Romans.
Ein nächstes Thema des Romans ist in dem Abschnitt zwischen Zeile 20 und 27 zu finden: „Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. […] Er war dagewesen vor Christus und Buddah, Platon und Tamerlan. […] Alles starb, alle Menschen, alle Tiere, immerzu.“ Der Leser wird hier mit dem Gedanken an die eigene Endlichkeit, die eigene Kurzlebigkeit im Vergleich zum Alter der Erde konfrontiert. Humboldt kann mit dieser Situation nicht gut umgehen: „Er legte seine Wange ans Holz, dann wich er zurück und sah sich erschrocken um, ob ihn jemand gesehen hatte. Schnell wischte er sich die Tränen weg“ (Z. 27 ff). An dieser Stelle lässt Humboldt Gefühle zu, reagiert emotional und menschlich. Das Verhalten ist für ihn völlig fremd und er schämt sich sogar dafür. Ob diese emotionale Unerfahrenheit aus dem Schikanieren seines Bruders oder aus seinen autistischen Zügen resultiert, lässt sich allerdings nicht beurteilen.
Im Anschluss sucht Humboldt Bonpland, welcher verschwunden ist. Er findet ihn bei einer Prostituierten im Hafen: „Er schlug die Tür zu, ging eilig zum Schiff, blieb nicht stehen, als er Bonplands Laufschritt hinter sich hörte, und wurde auch nicht langsamer, als Bonpland, das Hemd über die Schulter geworfen, die Hose noch über dem Arm, atemlos um Verzeihung bat“ (Z. 33-36). Dieser asyndetische, hypotaktische Satzbau ist häufig im Roman zu finden und symbolisiert an dieser Stelle die Aufgewühltheit des Protagonisten und auch die Schnelligkeit, mit der sich Bonpland von der Hütte der Prostituierten entfernt.
Bonpland entschuldigt sich mit Verweis auf die menschlichen Triebe: „Manchmal überkomme es einen, sei das so schwer zu verstehen?“ (Z. 38 f). Er ist also der Auffassung, dass der Körper, die Triebe, das leitende Organ seien. „Der Mensch sei kein Tier“ (Z. 42), antwortet Humboldt. Im Gegensatz zu Bonpland ist er der Ansicht, dass der Mensch durch den Verstand gelenkt wird. Hier zeigt sich auch die klassische Erziehung, deren Auffassung Humboldt vertritt: Sie besagt, dass der Mensch ein vernünftiges Lebewesen ist, das durch seinen Verstand geleitet wird. Allerdings muss dieser durch Kunst und Kultur erzogen werden, um seine assozialen und destruktiven Neigungen zu unterdrücken. Allerdings gibt Kehlmann im Roman auch häufiger Hinweise darauf, dass Humboldt schwul war. Das könnte also neben der klassischen Erziehung ein weiterer Grund für seinen Ausbruch sein.
Dann fragt Humboldt Bonpland, „ob er nie Kant gelesen habe“ (Z. 43). Auch dies ist ein Verweis auf die klassische Erziehung durch Literatur.
„Ein Franzose lese keine Ausländer“ (Z. 43 f), antwortet Bonpland. Hier zeigen sich Einflüsse des beginnenden Nationalsozialismus, nicht nur in Deutschland. Auch viele weite europäische Länder strebten danach, ihre Kultur, Religion und Sprache zu verbreiten (z. B. spanische Missionen im Regenwald).
Im Anschluss an diesen Disput zeigt sich, dass Humboldt nicht so gut mit Menschen umgehen kann: „Er wolle das nicht diskutieren“ (Z. 44). In emotionalen Konfliktsituationen, wo es darum geht, die Meinung des Gegenübers nachzuvollziehen und dann zu widerlegen, versagt Humboldt. Denn im Vergleich zu seinen Mitmenschen ist er emotional sehr unerfahren und zurückgeblieben.
In diesem Abschnitt des Romans gibt es einen auktorialen Erzähler, der allwissend ist und auch die Gefühle der Protagonisten wiedergibt: „Der Anblick einer haarigen Spinne, die sich auf einem Palmenstamm sonnte, erfüllte ihn mit Schrecken und Glück“ (Z. 17 f).
Der Erzähler beeinflusst aber den Leser nicht durch eigene Kommentare oder Wertungen, sondern schildert lediglich neutral das Geschehene.
Des Weiteren werden fast alle Gespräche durch die indirekte Rede, also im Konjunktiv, ausgedrückt: „Noch einmal so etwas, und ihre Wege würden sich trennen. Ob er das akzeptieren könne?“ (Z. 44 f). Dies führt zu einer Distanz des Lesers zu den handelnden Figuren. Es ist allerdings auch ein Beispiel für direkte Rede zu finden: „Der Franzose?“ (Z. 31). Die Verwendung der direkten Rede hat den Effekt, dass der Leser das Gefühl hat, tatsächlich beim Geschehen dabei gewesen zu sein; Gespräche wirken dadurch sehr realistisch und es kann eine Identifizierung des Lesers mit dem Sprecher stattfinden.
Häufig werden auch die Gedanken und Gefühle Humboldts durch die erlebte Rede wiedergegeben: „Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern“ (Z. 20 ff). Dies wirkt sehr intim und ermöglicht, dass der Leser sich in Humboldt hineinversetzen kann. Je nach gewünschter Leserlenkung verwendet der Autor also verschiedene Arten, Gespräche, Gefühle und Gedanken zu vermitteln.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman drei große Themen umfasst: das Alter, das Deutschsein und die Rolle der Wissenschaft im eigenen Leben. Diese Themen werden beispielhaft an den Abenteuererlebnissen während Humboldts Weltreise und an den inneren Konflikten Gauß’, der daheim bleibt, erläutert.
Zwischen Humboldt und seinem Reisegefährten Aimé Bonpland gibt es zahlreiche Wesensunterschiede, wie beispielsweise die Auffassung Bonplands, der Mensch sei triebgesteuert, während Humboldt denkt, dass der Mensch seinem Verstand folgt.
Je nach Situation verwendet der Autor verschiedene Arten, die Gespräche wiederzugeben, um den Leser zu lenken.