Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „Wiegenlied“ von Clemens von Brentano, veröffentlicht im Jahre 1852, thematisiert den Titel des Gedichts, d. h. ein Schlaflied. Da es sich also selbst reflektiert, ist es ein poetologischer Text der Romantik, der typische romantische Motive beinhaltet. Unter diesem Aspekt werde ich es analysieren, beginnend mit der formalen Struktur und darauffolgend die inhaltliche Betrachtung, sowie eine abschließende Zusammenfassung.
Das Gedicht ist regelmäßig aufgebaut. Es besteht aus zwei Strophen mit je vier Versen, die pro Strophe einen Satz ergeben. Das Reimschema ist ein durchgängiger Kreuzreim, dem die alternierenden Kadenzen1 entsprechen. Das Metrum2 ist ein vierhebiger Trochäus. Trotz diesem eigentlich bedeutungsschweren Metrum klingt das Gedicht harmonisch und ruhig. Dies liegt an der häufigen Verwendung von labialen Konsonanten wie „m“, „n“, „l“, die einen verstummenden Klangeffekt bewirken. Des Weiteren liegen größtenteils helle Vokale vor. Die vereinzelt dunklen Vokale sind gleichzeitig lange Vokale, so dass der harmonische Eindruck nicht gestört wird. Es lässt sich sagen, dass die formale Struktur durch den regelmäßigen Aufbau und den harmonischen Klang des Gedichts dem Thema, d. h. einem Schlaflied, passend entspricht und somit den poetologischen Ansatz bestätigt.
Dies wird auch in der inhaltlichen Analyse deutlich. Zum einen wird das romantische Motiv der Musik aufgegriffen als Verstärkung der sinnlichen Ansprache, was deutlich wird durch die Wiederholung des Verbs „singt“, bzw. „singet“ (I, 1; I, 2; II, 1). Es wird also das musikalische Element des Schlaflieds reflektiert, entsprechend eines poetologischen Textes.
Darauffolgend wird die Funktion des Schlaflieds reflektiert: Zu Beginn des Textes liegt eine dreifache Wiederholung des Adjektivs „leise“ (I, 1) vor. Diese Wiederholung erzeugt einen sanft verstummenden und leiser werdenden Klang, insbesondere aufgrund des labialen Konsonanten „l“ und der hellen Vokale in „leise“ (I, 1). Die Verwendung dieses Adjektivs als auch der erzielte Klang durch die Repetitio3 entspricht der einschläfernden Funktion eines Schlaflieds.
Des Weiteren werden mehrmals Adjektive mit ähnlicher Bedeutung verwendet. Dreimal das Adjektiv leise (vgl. I, 1), zweimal flüstern (I, 2; II, 4), still (I, 4), süß (II, 1), gelinde (II, 1). Die Adjektive beschreiben das Schlaflied: Es ist sehr leise und sacht. Diese Beschreibung der Eigenschaften eines Schlaflieds weist wiederum auf die Reflektion des Themas als Inhalt hin.
Allerdings lässt sich noch eine tiefere Bedeutung als die eines Schlaflieds erkennen. Dies wird deutlich am Bild des Mondes (vgl. I, 3). Vom ihm soll das Schlaflied etwas lernen, nämlich so zu singen, wie der Mond es tut. Das konventionelle Bild des Mondes im Schlaflied als Bewacher der Sterne wird also als romantisches Motiv kunstvoll abgewandelt, da der Mond zu etwas Handelndem wird, in dem er singt. Wie singt er aber nun? Der Mond singt, in dem er „so still am Himmel zieht“ (I, 4). Das heißt also, dass der Gesang des Mondes still ist und nicht hörbar, er besteht nur aus dem Ziehen am Himmel. Hier sind optische und akustische Eindrücke also eng miteinander verschränkt. Folglich bedeutet dies für das Wiegenlied, da es vom Mond lernen soll, dass es ebenfalls unhörbar und verborgen sein soll. Das Lied findet also, vergleichbar mit den romantischen Motiven der Ferne und der Sehnsucht keine Erfüllung: Da es verborgen ist, kann es seine Funktion, nämlich gehört zu werden, nicht erfüllen. Diese tiefere Bedeutung des Schlaflieds, nämlich nicht nur in seiner einschläfernden Funktion, sondern als verborgenes, ungestilltes Lied lässt sich auch in der zweiten Strophe belegen. Hier wird das Motiv der Natur, nämlich im Frühling und Sommer als typische Jahreszeiten romantischer Lyrik, verwendet. Zuvor lehrte der Mond das Lied den stillen, verborgenen Gesang. Den gleichen stillen und verborgenen Gesang zeigt auch die Natur. Wie die Natur, nämlich wie die „Quellen“ (II, 2) und „Bienen“ (II, 3) soll das Lied singen. Durch die Anapher4 „wie“ (II, 2 und II, 3) und den Parallelismus werden die optischen Eindrücke aus der Natur eingeleitet und dargestellt. Anapher und Parallelismus, so wie insbesondere die Häufung des Vokals „i“ weisen allerdings bereits auf die akustischen Eindrücke, die in Vers vier folgen, hin. In Vers vier liegt schließlich nun eine kaum erkennbare Geräuschkulisse vor, auch klanglich bewirkt durch die viele labialen Konsonanten. Es liegt also wiederum eine Verschränkung optischer und akustischer Eindrücke vor, die verdeutlichen, dass das Wiegenlied eigentlich ein nicht erkennbares Lied ist.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: Das Schlaflied reflektiert sich also nicht nur in seiner Funktion als ruhiges Einschlafmittel, unterstützt durch die regelmäßige und harmonische formale Struktur, sondern auch in einer anderen Bedeutung als verborgenes, nicht hörbares Lied, unterstützt durch die Verschränkung optischer und akustischer Eindrücke. Es ist also ein poetologisches und ein romantisches Gedicht, was an der Verwendung der aufgezeigten romantischen Motive deutlich wird.