Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In seinem Gedicht „O kühler Wald" aus dem Jahr 1802 beweist sich der Schriftsteller Clemens Brentano als ein sich der Romantik verpflichtet fühlender Dichter, der zentrale romantische Chiffren1 aufgreift.
Brentano wurde 1778 in Ehrenbreitstein bei Koblenz geboren. Zwar erfuhr er eine Kaufmannsausbildung und studierte unter anderem Bergwissenschaften, ein hohes Erbe ermöglichte ihm aber schließlich die Existenz als unabhängiger Dichter, dessen Schaffen sich in Gedichten und Kunstmärchen realisierte. Von 1805 bis 1808 entstand so beispielsweise die Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn". Er starb im Jahre 1842 in Aschaffenburg.
Mit „O kühler Wald" statuiert Brentano ebenfalls ein Werk der Romantik. Das Gedicht besteht aus vier Strophen zu je sechs Versen, insgesamt ist es also aus 24 Versen aufgebaut. Die letztlich ruhig-melancholische Stimmung des Gedichts resultiert aus dem Jambus, dem die Verse unterliegen.
Das Reimschema orientiert sich in den Strophen eins und drei an dem Muster abcdbc und in den Strophen zwei und vier an dem Schema abcabc. Weiterhin scheint das lyrische Ich in einen Dialog zu treten, was durch eine Variation an Fragen, Aussagen und Imperativen verdeutlicht wird.
Das Erscheinungsjahr 1802 deutet auf ein Werk der Frühromantik hin. Diese Literaturepoche, in der auch Novalis vertreten war und mit seinem Gedicht „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" den Grundstein für die der Aufklärung gegenüber opponierende Bewegung setzte, zeichnet sich neben wieder sprießender Popularität des Mystischen in Märchen und Volksliedern auch durch ein intensives Naturerleben und einem neuen Verständnis des Innern eines Menschen aus. Logische Begründungen für den Geist ablehnend stellte die Romantik Konzepte des abgrundtiefen und unendlichen Innern des Menschen, aus dem Gefühle wie die Sehnsucht entspringen, dem Rationalisierungsversuchen von Aufklärung und Klassik entgegen.
Sehnsucht ist auch ein zentrales Thema in Brentanos Gedicht, in welchem sich das lyrische Ich auf der Suche nach einem Wald, in dem er sein zu früh verstorbenes Liebchen zu finden glaubt, an die Erlebnisse musikalisch-poetischer Art erinnert, die es mit dem Liebchen teilte.
Es stellt sich jedoch heraus, dass das lyrische Ich seiner verstorbenen Geliebten lediglich in seinem Innern begegnen kann, doch auch dort bleibt seine Sehnsucht unerfüllt, da es letztlich nur seine eigene vom Kummer gebeutelte Stimme als Echo hört.
So fragt das lyrische Ich, wo der „kühle Wald" (V. 1) rausche, in dem sein Liebchen gehe (vgl. V. 2-3). Im Wald vernimmt das lyrische Ich einen „Widerhall" (V. 4), also ein Echo, dem das lyrische Ich nachgeht. Es glaubt, dass das Echo ihn zu seiner Geliebten führe, verkennt dabei aber, dass seine Lieder „verschallen" (V. 22) oder lediglich seine eigenen Laute vom Wald zurückgeworfen werden. Es wird deutlich, dass die Frau, die das lyrische Ich im Wald vermutet, seine Geliebte, die es aber schon „früh verlor" (V. 12), war.
Der Wald, der das „Liebchen" (V. 3) also vermeintlich beherbergt, kann kein reales Produkt sein, stammt es doch aus der Vorstellung des lyrischen Ichs. Tief in seinem Herzen (vgl. V. 13), dem romantischen Zentrum aller Sehnsuchts- und Liebesgefühle, befindet sich der Zugang zu diesem Wald, in dem lyrische Ich, wie ihm selbst nun auch immer klarer wird, vollkommen allein ist. In seinen letzten Worten bittet es seine Geliebte noch einmal, in seinem inneren Konstrukt zu „wandern" (V. 21) und schwört, seiner Geliebten so viele Lieder zu singen, bis sie ihm antwortet und so die Erinnerung an sie wieder neu aufgelebt werden kann.
Ein „kühler" (V. 1) Wald ist das seelische Konstrukt, in dem das lyrische Ich seiner Geliebten zu begegnen versucht. Dieser Wald „rauscht" (V. 2); das lyrische Ich lässt also mehrere Naturwahrnehmungen zusammenfließen, was die Fülle an Empfindungen verkörpert, die es seiner verstorbenen Geliebten noch entgegenbringt. Nichtsdestotrotz befindet sie sich in einem „kühlen" Wald, was ein erstes Indiz für die vergangene, abgekühlte Liebe darstellt. Die Verwendung des Personalpronomens „du" symbolisiert die Nähe und Vertrautheit des lyrischen Ichs zu dem von ihm skizzierten Wald, was als Hinweis auf den inneren Ursprung dieser Metapher3 gedeutet werden kann. Die gesamte Natur erscheint recht lebhaft, was zum Beispiel durch die Personifikation4 "Der gern mein Lied versteht" (V. 6) deutlich wird und folglich die kräftige mentale Imagination eines inneren Sehnsuchtsortes des lyrischen Ichs versinnbildlicht. Zudem lässt sich durch die Verwendung der Formulierung „O sängst du ihr" (V. 8) schließen, dass sich das lyrische Ich Vorwürfe macht. Diese Interjektion5 klingt nämlich nach einer vergebenen Chance, einerseits mit der Geliebten Kunst und Musik zu genießen, andererseits aber auch, ihr vor dem frühen Tod noch einmal alle subjektiven Empfindungen wie „süße Träume" (V. 9) mitzuteilen. Damit löst sich auch der Anschein, dass das lyrische Ich in einen Dialog trete. Tatsächlich kommuniziert es mit seinem eigenen Echo.
Es schlussfolgert daraus, dass die Lieder nun „verweht"(V. 18) sind und das lyrische Ich eigentlich allein in seinem Walde steht, von seiner Sehnsucht, die durch die immer wieder auftauchenden Apostrophen6 verkündet wird (siehe z. B. V. 1, V. 7), geblendet war, und den Wald als inneren Zufluchtsort nutzte, auf den die eigenen Wünsche und Gedanken projiziert werden konnten und anschließend wieder reflektiert wurden, was das lyrische Ich fälschlicherweise mit sich selbst in Konversation treten ließ.
Brentano schafft mit seinem Gedicht eine für die Romantik typische Atmosphäre. Dies beginnt damit, dass er sich dem Motiv eines Waldes bediente, der als deutliche Chiffre der Romantik gilt. Der Wald als etwas Mystisches, etwas, in dem man sich verirren kann, war für die Literaturepoche von besonderer Relevanz. Es ist der Ort, in dem sich das lyrische Ich wiederfindet, in dem es versucht, mit seiner Geliebten Kontakt aufzunehmen und in dem es überhaupt erst seine subjektive Welt offenbaren kann.
Die Natur war in ihrer Gänze für die Romantiker unerschließbar und unendlich. Um ihre Gefühle zu identifizieren, muss man ihr gegenüber zunächst emotional empfänglich sein. So kreiert Brentano genau dieses Zusammenspiel von Natur und Mensch. Das lyrische Ich gibt sich vollkommen den Schwingungen des Waldes hin, hier vermutet es sein Liebchen verborgen.
Des weiteren entfernte sich die Romantik zwar von der Bewunderung von der Antike wie sie die Klassik überkam, und idealisierte eher das Mittelalter als eine Einheit von Individuum und Natur und war doch offen für Mythen wie die um Narziss und Echo, die sich ebenfalls in einem Wald begegneten, jedoch Schwierigkeiten hatten, sich zu finden, da Narziss lediglich seine eigenen Worte wieder und wieder hörte.
In diesem Punkt ähneln sich Brentanos Gedicht und der Mythos.
Das vorliegende Werk markiert damit zur Anfangsphase der Romantik die Präferenz für das Unerklärbare, Mystische und rational nicht Fassbare.