Sachtext: Lauter Innstettens, überall (2003)
Autor/in: Burkhard SpinnenEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Inhaltsangabe/Zusammenfassung, Analyse und Erörterung
Viele deutsche Literaturklassiker haben schon lange Einzug in den regulären Deutschunterricht gefunden. Darunter auch der bekannteste Vertreter mit Faust von Johann Wolfgang Goethe. Doch viele Pädagogen und auch Eltern stellen sich die Sinnfrage nach diesem Bestandteil des Lehrplans. Muss man Literatur lesen, die oft Jahrhunderte alt ist und zu der die heutige Jugend vermeintlich keinen Bezug mehr hat? Eine Antwort auf diese Frage liefert Burkhard Spinnen in seinem Sachtext „Lauter Innstettens, überall“, in dem er die Realitätsnähe des realistischen Romans Effi Briest darstellt.
Zu Beginn dieses Textes rät der Autor jedem Leser des Werkes Effi Briest, der diesen Roman als Spiegelbild der Sitten und Moral einer längst vergangenen Zeit ansieht, die Lektüre zu unterlassen und andere Personen nicht mit dieser Einstellung zu beeinflussen. Denn nach Meinung des Autors haben sich zwar die Zeitumstände geändert, nicht aber der Bezug derRomanfiguren zu heutigen Lebenswelten (Z. 1-11). Als Beweis dieser Behauptung wird nun die Hauptfigur Effi Briest angeführt, die im Roman naiv und kindlich dargestellt wird, weshalb sie ziellos und auch wunschlos wirkt und somit ohne Begeisterung und unzufrieden vor sich hinlebt. Dieses Verhalten setzt der Autor in Bezug zu heutigen unglücklichen Konsumenten (Z. 12-19). Als weiteres Beispiel für die Gegenwärtigkeit des Romans wird der zweite Hauptcharakter Innstetten genannt, der nicht selbst abwägt, wie sehr er durch den Seitensprung seiner Frau Effi gekränkt wurde, sondern einen Freund befragt. Und obwohl beide sich einig sind, dass dieses Vergehen nicht überzubewerten ist, müssen dennochKonsequenzen gezogen werden, rein aus dem Grund, weil nun mehrere Personen über den Seitensprung der Frau Bescheid wissen. Dieses und auch Effis Verhalten findet Spinnen in der heutigen Gesellschaft wieder, die trotz Abneigung gegenüber Traditionen und Konventionen genau diese Maßstäbe anwendet (Z. 20-36). Am Schluss des Sachtextes lobt Burkhard Spinnen Theodor Fontanes schriftstellerische Leistungen, weil dieser, ohne dass die Leser es bemerken, Handlung und Einflüsse des Schriftstellers in seinem Werk Effi Briest verschmelzen lässt und damit das herausragendste Beispiel für realistische Literatur darstellt. (Z. 37-43) Doch nicht nur inhaltlich stellt Spinnen bestimmte Aspekte in den Vordergrund, sondern auch sprachlich.
So werden in diesem Text zahlreiche rhetorische Gestaltungsmittel verwendet, um den Inhalt zu verstärken. Schon zu Beginn des Sachtextes wird eine rhetorische Frage (Z.1f.) eingesetzt, die zusätzlich zu der sich über den ganzen ersten Absatz und Teile des zweiten erstreckenden Ironie (Z. 1ff.) klar darstellt, wie abgeneigt der Autor gegenüber der falschen Ansicht ist, dass Effi Briest keinen Bezug zur heutigen Realität hat. Dies wird noch verdeutlicht durch eine Akkumulation von Metaphern wie „Backfischtum“ oder „Ehrpusseligkeit“ (Z. 4f.). Dazu kommen noch abgehackte, kurze und teilweise elliptische Sätze wie beispielsweise „Im Ernst!“ (Z.7), die wiederum zeigen, dass es unterlassen werden soll, Effi Briest zu lesen, wenn man der nach der Meinung des Autors falschen Auffassung ist. Um überzeugend für seine Meinung einzustehen, wählt Spinnen im Gegenzug die Hyperbel „Und zwar alle!“ (Z. 12), die gleichzeitig einen elliptischen Satz darstellt und den Gegenwartsbezug der Figuren in Effi Briest verdeutlichen soll. Die gleiche Wirkung hat die Antithese in Zeile 10f.. In die gleiche Richtung geht die Correctio „nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall“ (Z. 31f.), die auch verdeutlicht, dass ein klarer Bezug zwischen den Figuren aus Effi Briest und den modernen „Durchschnittsmenschen“ herrscht. Schlussendlich wird diese Absicht des Autors wiederumerkennbar am Parallelismus in Zeile 35f.. Gleichzeitig zur Feststellung desGegenwartsbezuges Effi Briests kritisiert Spinnen das Verhalten der Figuren dieses Romans und auch den Umgang damit. So ist auffällig, dass viele negativ besetzte Adjektive wie „härtesten“ (Z. 15), das gleichzeitig ein Superlativ ist, in Bezug auf Effi fallen. Damit wird der harte und rücksichtslose Umgang mit Effi durch die anderen literarischen Figuren des Buches kritisiert und es werden gleichzeitig Gründe für das Verhalten dieser Frau genannt, das zusätzlich durch die Tautologie „Oberflächlich und ohne rechte Überzeugung“ (Z. 18) selbst kritisiert wird. Auf die gleiche Weise wirkt die Correctio in Zeile 17. Doch nicht nur die Kritik an Effis Verhalten wird in diesem Sachtext ausgedrückt, sondern auch an Innstettens Art und Weise, mit dem Seitensprung seiner Frau umzugehen. Dies wird zum einen durch die abwertende Repetitio „et cetera, et cetera“ (Z. 30) ausgedrückt, zum anderen durch den elliptischen Satz „Tut er aber nicht“ (Z. 23), der deutlich zeigt, wie weit die Ansicht des Burkhard Spinnen von der tatsächlichen Handlungsweise Innstettens entfernt liegt. Zu diesem Eindruck trägt auch der Superlativ „miserabelsten“ (Z. 23) bei, der wiederum die Kritik am Verhalten dieser Hauptfigur des Romans untermauert. Dies wird auch deutlich durch die ironische Parenthese „ach, man weiß ja, wie die Leute sind!“ (Z. 28f.), die gleichzeitig auch den Eindruck vermittelt, dass mit der Kritik an den Figuren im Roman durch den vom Autor festgestellten Gegenwartsbezug auch die moderne Gesellschaft und ihre Verhaltensweisen kritisiert werden. Aber der Autor verwendet auch sprachliche Gestaltungsmittel zum Ausdruck von Lob und Anerkennung. So zeigen beispielsweise die Antithese oder Paradoxon8 „offenbares Geheimnis“ (Z. 42) und Metaphern wie „dichtes Gewebe von An- und Vorausdeutungen“ (Z. 39f.) die herausragende Art und Weise, wie der bekannte Schriftsteller Theodor Fontane sein Werk Effi Briest geschrieben hat, weshalb Burkhard Spinnen dieses Werk sehr honoriert und deshalb Effi Briest als die wichtigste Lektüre aus der Literaturepoche des Realismus darstellt. Doch der Autor dieses Sachtextes liefert auch eine These, die Grund zur Diskussion und auch zu der nachfolgenden Erörterung ist.
Denn der Autor Burkhard Spinnen meint, dass die Figuren des Romans Effi Briest „von bestürzender Gegenwärtigkeit“ (Z.10f.) seien. Die von ihm angeführten Argumente und Beispiele sind jedoch eher wenig überzeugend. So nennt der Autor die Hauptfigur Effi eine Frau, die nicht weiß, „was sie will“ (Z. 17) und setzt dieses Verhalten mit dem eines modernen Menschen gleich. Doch diese Behauptung stimmt nur teilweise. Effi ist zwar zu Beginn naiv und kindlich dargestellt, die ohne eigenen Willen die Ehe mit Innstetten eingeht, aber im Verlauf des Romans wird deutlich, dass Effi immer selbstbewusster wird und versucht, aus ihrem Unglück zu entfliehen. Effi ist also sehr wohl eine zielstrebige Frau, da sie immer nach einem glücklichen Leben strebt, doch zu dieser Zeit, in der der Roman spielt, hat eine Frau wenige Rechte und ist dem Ehemann untergeordnet. Effi kann deshalb ihre Ziele nicht verfolgen, weil sie, eingeengt von Konventionen und ihrem Ehemann, keinen Spielraum hat, sich zu entfalten. Das beste Beispiel dafür ist die Liaison mit Crampas (Buch S. 136), mit der Effi versucht, ihr Glück zu finden und dem tristen Alltag in Kessin zu entfliehen. Damit wäre auch das Argument von Spinnen widerlegt, dass Effi „[u]nglücklich“ ist, aber „nichts dagegen tu[t]“ (Z. 35). Denn durch die Liebesbeziehung versucht sie ja aus den veralteten und beängstigenden Strukturen auszubrechen, um nicht mehr unglücklich zu sein. Aber durch den äußeren Druck der Traditionen und Sitten kann sie schlussendlich nicht glücklich werden. Burkhard Spinnen nennt auch die Parallele Effis zur modernen Welt, indem er sie als „unglückliche[] Konsument[in]“ (Z. 19) in der Moderne bezeichnet, weil sie sich vermeintlich nicht für etwas entscheiden kann oder nicht weiß, was sie wirklich will. Damit und wegen des von Spinnen festgestellten Realitätsbezugs wird eigentlich schon initiiert, dass viele Menschen heutzutage unglückliche Konsumenten sind, was aber nicht stimmt. Vor allem durch den in den letzten Jahren gestiegenen Wohlstand, hinter dem schon eine große Zielstrebigkeit und Wissen nach dem, was man will, steckt, ist vielen Menschen heutzutage ein viel größeres Spektrum an Zielen und Sehnsüchten erreichbar geworden. In der heutigen Zeit strebt jeder Mensch nach Größerem und Besserem. Unglücklicher Konsument im heutigen Sinn bedeutet eigentlich, dass es nicht möglich ist, ein bestimmtes, aber vorhandenes, Ziel zu erreichen. Beispielsweise hat heutzutage schon jeder von Kindheit an das Ziel, durch Schule und Ausbildung später ein gutes und vielleicht auch erfolgreiches Leben zu führen und ist somit kein unglücklicher Konsument mehr, der nicht weiß, was sein Ziel ist. Auch Innstetten nennt der Autor als Beispiel für einen Realitätsbezug des Romans. Denn nach Ansicht des Autors ist es noch heutzutage der Fall, dass zwar die Gesellschaft die „Konventionen tief verachte[t]“ (Z. 32), aber schlussendlich nicht weiß, „wie es anders zugehen könnte“ (Z. 33), so wie es auch Innstetten im Roman Effi Briest hält. Aber genau betrachtet ist in der Realität genau das Gegenteil der Fall. Denn in der heutigen schnelllebigen Welt wird nicht mehr auf Sitte oder Konvention geachtet. Zudem hat das Individuum praktisch keinen Stellenwert mehr. Zum Beispiel sieht man diese Entwicklung in der Art des Heiratens. Früher war es üblich, in der Kirche und mit Gottes Segen zu heiraten, wohingegen heutzutage, wenn überhaupt noch,standesamtlich geheiratet wird. Übliche Bräuche spielen also in der modernen Welt keine Rolle mehr und damit herrscht auch kein Zwang mehr, sich daran zu halten, wie es vielleicht noch zu Zeiten von Effi Briest üblich war. Des Weiteren nennt der Autor als Grund des Realitätsbezugs die Verhaltensweise im Roman, „[n]ichts wirklich gut zu finden und genau deswegen das letztlich Angesagte irgendwie mitmachen“ (Z. 34f.), die angeblich auch heutzutage noch angewendet wird. Doch gerade in der modernen Welt gibt es vielfältigste Lebensweisen und Orientierungen im Leben. Einheitliche Lebenswelten brechen auf, es bilden sich Subkulturen und schlussendlich gibt es nicht mehr etwas „Angesagtes“ (Z. 34f.). Dieses Aufbrechen von Strukturen fördert im Gegenteil sogar die eigene Entscheidung nach einer selbstständig ausgewählten und praktizierten Lebensweise. Bei dieser Entwicklung ist es unersetzlich, irgendetwas „gut [zu] finden“ (Z. 34) und sein eigenes Leben zu gestalten, das eben nicht vom „Angesagten“ (Z. 34f.) abhängt, sondern immer eine eigene persönliche Tendenz enthält, die man an den unterschiedlichen Persönlichkeiten und Lebenswelten der Menschen sehen kann. Beispielsweise gab es zu Zeiten Effis grundsätzlich in Deutschland nur die evangelische und katholische Kirche. Dies hat sich aber insofern geändert, als es heutzutage zahlreiche Untergruppen und Splitterkirchen gibt, die viel Zulauf bekommen. Es gibt also nicht mehr eine „angesagte“ Kirche oder Religion, sondern vielfältige Arten, für die sich jeder frei entscheiden kann. Zusätzlich zu der Widerlegung der Argumente des Autors lassen sich auch weitere Argumente dafür finden, dass Effi Briest und auch die anderen Romanfiguren keinen Bezug zur Gegenwart haben. So wird im Buch Effi als eine naive, unterdrückte, nicht selbstbewusste und vom Ehemann eingegrenzte Frau dargestellt. Dieses Frauenbild war zu der Zeit, in der Effi Briest im Roman gelebt hat, zwar sehr verbreitet, hat aber mit dem heutigen Bild der Frau rein gar nichts mehr zu tun. Seit dem letzten Jahrhundert findet eine stetige Emanzipation der Frau statt, damit sie als gleichwertiges Mitglied in der Gesellschaft und im Eheleben angesehen wird. Gleiche Rechte und das Abbauen vielfältiger Barrieren wurden eingeführt, die mit Effi Briest nichts mehr gemeinsam haben. Beispielsweise sind heutzutage Frauen bei Scheidung gleichberechtigt und erhalten einen Teil des Vermögens. Dieses Scheidungsrecht hätte Effi Briest sicherlich geholfen, nach der Scheidung von Innstetten ihren sozialen Stand zu halten und ein gutes Leben zu führen. Schlussendlich kann man sagen, dass Effi Briest nicht wirklich Bezug zur Realität hat. Zwar sind einige Argumentationsverläufe des Autors nachvollziehbar und treffen vielleicht auch zu, aber nur auf einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, wenn überhaupt. Größtenteils sind die Beispiele aber schlichtweg falsch und weisen eine gewisse Realitätsfremde auf, was man vor allem daran sieht, dass der Autor betont, dass „alle“ (Z. 12) Figuren „von bestürzender Gegenwärtigkeit“ (Z. 10f.) sind, aber schlussendlich nur zwei einzelne Figuren aufzählt. Dies deutet nicht nur auf eine gewisse Unkenntnis des Autors gegenüber dem Roman Effi Briest hin, sondern entkräftet auch seine Argumente und lässt seine Glaubwürdigkeit sinken. Somit darf man Werke aus der Epoche des Realismus nicht direkt als realistisch in Bezug auf die Gegenwart nehmen, wie es der Autor vermutet.
Letztlich ist die Frage nach dem Sinn von Schullektüren dieser Art jedoch noch immer nichtausreichend beantwortet worden. Wenn viele Werke wie Effi Briest keine auf die Realität übertragbaren Elemente enthalten, weshalb liest man sie dann? Nur wegen des Lehrplans?Wahrscheinlich nicht. Denn die wichtigste Funktion solcher Lektüren ist die Vermittlung von Allgemeinwissen, Textverständnis und das Erlernen von Arbeitstechniken aus der Literatur. Dieses Wissen sollte nicht nur in der Schule Anwendung finden und sich als nützlich erweisen, sondern auch im späteren Leben vielfältig einsetzbar sein und das Leben zu mindestens in Teilen vereinfachen. Somit ist eine gute Schulbildung auch in diesem Bereich unersetzlich. Denn wie schon Seneca in umgekehrter Weise gesagt hat: non scholae, sed vitae discimus.