Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Brief „Brief an die Familie“ wurde von Georg Büchner am 28. Juli 1835 in Straßburg verfasst und thematisiert die Aufgabe eines Geschichtsschreibers in Abgrenzung von der eines Dichters. Anlässlich der Kritik an seinem Drama „Dantons Tod“ geht er auf die Kritik ein.
Zunächst erklärt Büchner, dass die Aufgabe des dramatischen Dichters darin besteht, lebenswirkliche, reale Geschehnisse wiederzugeben. Der Dramentext ist zudem nicht für bloße Unterhaltung konzipiert. Büchner zufolge sollen die Figuren die Charakterzüge vorweisen, welche sie tatsächlich haben. Danach schildert der Autor, dass der Dichter keine Moral lehren soll, sondern das Publikum es selber lernen muss. Später erklärt der Verfasser, dass der Dichter nicht normative Werte für die Welt vorschreibt, da dies die Aufgabe Gottes ist. Daraufhin kritisiert Büchner Idealdichter, welche zu idealen und pathetischen Ausführungen neigen. Schließlich unterstützt der Verfasser die Ausführungen Goethes und Shakespeares, kritisiert dafür aber die von Schiller.
Zunächst lässt sich dem Brief eine Argumentationsstruktur entnehmen. Büchner nennt erst den Kritikpunkt und verteidigt seine Position mit Gegenargumenten, welche mit Beispielen unterstützt werden (vgl. Z. 1 – 15). Danach erklärt er systematisch die Aufgabe des Dichters, deskriptive und realitätsgetreue Nachahmungen zu konzipieren (vgl. Z.15 – 20). Schließlich äußert er selber Kritik an Idealdichtern wie Schiller und beleuchtet, dass er sich den Ausführungen Goethes und Shakespeares anschließt (vgl. Z.27 - 31). Somit argumentiert Büchner thematisch, kausal und kritisch.
Zudem gilt es den Brief hinsichtlich der Aufgabe eines Dichters im Gegensatz zu einem Geschichtsschreiber zu erläutern. Die dabei verwendeten sprachlichen Mittel sollen ebenfalls erklärt werden. Hierbei folgt Büchner dem Grundprinzip der Nachahmung von Realität und Lebenswirklichkeit (vgl. Z. 4 f., 18 f.). Somit sollen die „vergangene[n] Zeiten wieder aufleben“ (Z. 18 f.). Darüber hinaus sollen die Figuren so konzipiert sein, dass sie „statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten“ (Z. 5) sind. Folglich seien die Figuren nicht in Gut und Böse einzuordnen, sondern mehrdimensional und somit zum Teil nach historischen Vorbildern gestaltet (vgl. Z.6). Dabei entstehen Figuren, die weder perfekt noch idealtypisch seien. Dies fordert die Identifikation mit ihnen, vor allem da sie realitätsgetreue Charakterzüge (vgl. Z. 10 f.) und de facto historischen Modellen folgen (vgl. Z. 10 f.). Dies wird durch eine Anapher1 (vgl. Z. 11 – 15) und einen Ausruf (vgl. Z. 10 f.) unterstützt. In diesem Sinne fordert Büchner, dass „Menschen von Fleisch und Blut“ (Z. 29) sind. Durch jene Metapher wird somit die Mehrdimensionalität suggeriert und dargestellt. Hierbei untermalt die Antithese „Leid und Freude“ (Z. 29) diese diversen und realitätsgetreuen Charakterzüge. Infolgedessen müssten die Figuren durch ihr Leid und ihre Freude beim Zuschauer dieselben Gefühle auslösen, sodass dieser sich identifiziert. Mit deren „Tun und Handeln [soll dem Zuschauer] Abscheu oder Bewunderung eingeflößt“ (Z. 30) werden. Dies ist somit eine Auflehnung an den Ausführungen Goethes und Shakespeares, da diese ebenfalls für lebenswirkliche Nachahmungen und Figuren plädieren. Des Weiteren lässt sich zu den Formmerkmalen konstatieren2, dass sich Büchner, ähnlich wie Goethe, von den Einheiten der Handlung, Ort und Zeit abkehrt (vgl. Z. 4) und somit eher die offene Form unterstützt. Hinsichtlich der Aufgabe des Dichters erklärt Büchner, dass dieser ein Geschichtsschreiber sei (vgl. Z. 2), aber über diesen stehe. Der Dichter muss hierbei unmittelbar das Publikum „in das Leben einer Zeit [versetzen]“ (Z. 4 f.) und eine möglichst realitätsnahe und historisch akkurate Erzählung geben (vgl. Z. 4, 6), wobei diese nicht „trocken“ (Z. 4) sein darf. Durch jenes negativ konnotierte Adjektiv fordert Büchner also auf, dass das Theater einen lebhaften Charakter vorzeigen soll. Außerdem soll das Theaterstück „weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst“ (Z. 7). Die verwendete Antithese (vgl. Z. 7) unterstützt somit Büchners Aussage, dass die wiedergegebene Geschichte unverändert und authentisch sein muss. Sie darf nicht der Handlung oder der Figuren willen angepasst werden. Der Dichter hat nicht zur Aufgabe, eine einfache Unterhaltungslektüre zu verfassen (vgl. Z. 8) wie es der Geschichtsschreiber tue. Dies wird mit einem anschaulichen Beispiel (vgl. Z. 8) verstärkt. Zudem lehre der Dichter keine Moral, anders als der Geschichtsschreiber, der eine ethische Verantwortung trage (vgl. Z. 17 ff.). Da der Dichter Gestalten erfindet und vergangene Zeiten wiederaufleben lässt (vgl. Z. 18), hat er nicht die Aufgabe, normative Werte zu vermitteln, sondern muss deskriptive Geschehnisse widerspiegeln (vgl. Z. 25 ff.). Hierbei begründet Büchner, dass er nicht die Rolle Gottes einnehme (vgl. Z. 26). Der Geschichtsschreiber wiederrum könne die genannten Punkte erfüllen. Zudem verfolgt Büchner eine moralisch-didaktische Wirkungsabsicht. Die Zuschauer sollen selber an den vorgestellten Geschehnissen lernen (vgl. Z. 19). Sie sollen als Beobachter (vgl. Z. 20) erkennen können, dass das Stück und die nachgeahmten Geschehnisse zum Teil moralisch verwerfliche Werte miteinbringen, ähnlich wie es auch in der Realität sei (vgl. Z. 21). Somit plädiert Büchner dafür, dass das Publikum von der Vergangenheit und ihren Fehlern und Werten zu lernen hat. Der Zuschauer hat sich zudem bei der Darstellung von „Leid und Freude“ (Z. 29) sich zu identifizieren, was Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, fördert. Dies ist eine wichtige Komponente des Theaters, da sie nicht nur zur Lebhaftigkeit innerhalb des Stücks führt, sondern auch humane Werte inkarniert und an diese appelliert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Büchner für eine realitätsnahe, lebenswirkliche Nachahmung plädiert und so auch das gesamte Theaterstück konzipiert. Seine Ausführungen lehnen sich an den von Goethe und Shakespeare an, sodass es zu Überschneidungen der Aussagen kommt. Die hierbei verwendeten Metaphern3, Antithesen4 und Aufzählungen unterstützen die Darstellung Büchners, indem sie seinen Brief überzeugend und lebendiger machen sollen, was zu seiner allgemein kritischen und echauffierenden Attitüde passt.
Insgesamt ist es von besonderem Wert, Büchners Ausführungen im Gesamtkontext einzuordnen. Hierbei wird als zweiter Betrachtungswinkel die aristotelische Sichtweise genommen, um einerseits für einen Perspektivenwechsel zu sorgen. Andererseits wird man zusätzlich einen historischen Kontrast ermöglichen, da Büchner im 19. Jahrhundert und Aristoteles um 400 v. Chr. lebten. Vergleicht man somit die Aussagen hinsichtlich der Aufgabe von Geschichtsschreibern und Dichtern seitens Büchners und seitens Aristoteles, findet man einige gegensätzliche Ausführungen, ebenso aber auch Überschneidungen.
Zunächst beleuchtet Aristoteles das Grundprinzip, welche die Nachahmung von Handlung und Lebenswirklichkeit ist. Ähnlich erklärt dies auch Büchner, da er von einer Nachahmung der Lebenswirklichkeit spricht (vgl. Z. 3).
Bezüglich der Figuren erklärt der griechische Philosoph, dass diese um der Handlung Willen agieren und entweder gut (in Tragödien) oder schlecht (in Komödien) sind. Hierzu besagt er, dass „in Tragödien bessere Menschen, in Komödien schlechtere nachgeahmt werden, als sie in der Wirklichkeit gibt“. Nach Aristoteles sollen negative Helden in Komödien unterhalb der Schmerzesgrenze bestraft und positive Helden belohnt werden. Als Zuschauer hat man eine große Distanz zu den Figuren und schaut auf Sie herab. In Tragödien wird der Held erlegt aufgrund einer selbstverursachten Katastrophe. Als Zuschauer schaut man zu ihm auf, was an der geringen Distanz und der damit ermöglichten Identifikation liegt.
Büchner zufolge sollten die Figuren nicht eindimensional sein, sondern lebenswirkliche und somit vielfältige Charakterzüge aufweisen. Damit seien auch negative Helden vorzufinden (vgl. Z. 11). Folglich wurden sie nicht verändert, um den Handlungsverlauf zu unterstützen. Nichtsdestotrotz fühlt der Zuschauer mit, wodurch die Identifikation mit den Figuren ermöglicht wird. Zudem gilt nach Aristoteles, dass das Theaterstück neben einem Wendepunkt bzw. einer Peripetie5, einer geschlossenen Form und der Einheit von Ort, Zeit und Handlung ebenfalls Grundsätze, also einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, nach dem Prinzip der durchgängigen Kausalität vorweisen solle. Das heißt, man findet hier eine Anlehnung an dem pyramidalen Dramenaufbau von Gustav Freytag, der sich an dem klassischen Drama der Antike bedient. Büchner hingegen kehrt sich ähnlich wie Goethe und Shakespeare von der geschlossenen Form ab. Er unterstützt die offene Form und damit die Abkehr von der Einheit von Ort, Zeit und Handlung (vgl. Z. 31).
Schließlich begründet Aristoteles die Wirkungsabsicht und das Ziel des Theaters darin, dass die Tragödie durch Jammern und Schaudern eine Reinigung (Katharsis) von negativen Affekten beim Zuschauer hervorrufen soll.
In diesem Zusammenhang erklärt Büchner, dass der Zuschauer an den historischen Ereignissen lernen soll, die hierbei unmoralische Werte verkörpern können. Dadurch erkennt das Publikum die Fehler der Vergangenheit und kann daraus nachhaltig Schlüsse ziehen, die diesem zu einem realistischen Menschen- und Weltbild verhelfen. Summa summarum kann der Zuschauer dadurch abgehärtet werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Büchner und Aristoteles zwei verschiedene Ansätze für ihre dramentheoretische Ausführungen nehmen und somit recht ambivalent sind. Während Aristoteles für idealtypische Figuren und Verhaltensweisen plädiert, soziale Verhältnisse kritisiert und dem Publikum zur Katharsis verhelfen möchte, steht Büchner für realitätsnahe, imperfekte und vielschichtige Figuren, wobei der Zuschauer von der Vergangenheit und der inhärenten moralischen Verwerflichkeit eigenständig lernen soll. Beide verfolgen jedoch das Prinzip der Identifikation, um die gezielte didaktische oder katharische Wirkung zu erzielen.