Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
August Stramms (1874-1915) Gedicht Patrouille entstand zusammen mit anderen Kriegsgedichten zwischen 1914 und 1915. Der Autor verarbeitete darin seine eigenen Erfahrungen während des ersten Weltkriegs, bevor der 1915 fiel. Patrouille wurde 1919 zusammen mit anderen Texten von seinem Freund Walden veröffentlicht und gehört in die Epoche des Expressionismus (1910-1920/25).
Der Begriff Expressionismus stammt vom lateinischen Wort expressio (Ausdruck) und bedeutet ‚Ausdruckskunst‘. Die Expressionisten lehnten sich gegen die Tradition des 19. Jahrhunderts auf, das schon lange kritisiert wurde, aber bisher nicht in einer solchen Schärfe. Sie kritisierten aktuelle zeitliche Entwicklungen wie zum Beispiel die Industrialisierung und Urbanisierung und wollten vor allem Gefühle darstellen. In der Lyrik mischten sich Traditionsbruch und die Beibehaltung traditioneller lyrischer Formen. Ihre Gedichte waren durch eine extrem subjektive Sprache, Ekstase und Pathos gekennzeichnet und wiesen häufig eine große Metaphorik und Farbsymbolik auf. Oft fanden auch hässliche oder schockierende Elemente ihren Platz, wie z. B. in den Gedichten Gottfried Benns oder Georg Heyms. Manche Autoren machten Sprachexperimente, missachteten grammatische Regeln und verwendeten häufig Neologismen1. August Stramm zeichnete sich durch seine völlige Missachtung von traditionellen lyrischen Formen, der Grammatik und Sprache aus, was man auch in Patrouille sehen kann. Wichtige Expressionistische Themen waren die Großstadt, der Ich-Zerfall, der Weltuntergang, Tod, Krankheit und der Krieg.
Die Annahme, in einer apokalyptischen Zeit zu stehen, verband sich oft mit der Vorstellung und der Hoffnung, dass ein kommender Krieg all dem ein Ende setzen würde, was zu einer kritisierten Gesellschaft gehört. Der Krieg sollte vernichten, damit die Gesellschaft erneuert werden konnte. Schon 1911 machte sich in einigen expressionistischen Gedichten das Thema Krieg bemerkbar, zum Beispiel in Georg Heyms Gedicht Der Krieg (1911) und in Jakob van Hoddis’ Weltende (1911). Der Krieg lag seit der Marokkokrise (1905/06 und 1911) atmosphärisch in der Luft. Aus Heyms Gedicht Der Krieg geht hervor, dass die Expressionisten den Krieg visionär geschaut haben, ihn herbeiredeten oder vor ihm warnten. Der Krieg ist dabei keine Voraussehung der Katastrophe, sondern nach Große eine Metapher2, die für Veränderung und Aufbruch zu Neuem steht.
1914 herrschte eine kollektive Euphorie zu Beginn des Krieges vor, auch bei den Expressionisten. Der Kriegsausbruch wurde nach Vietta nicht nur in Deutschland begeistert gefeiert. Die meisten Dichter, die in den Krieg zogen, betrachteten ihn als die einzige Möglichkeit zur Veränderung der Welt und des Menschen. In den Gedichten vor 1914 findet man dementsprechend teils eine Kriegsfaszination. Der Krieg wurde nach Große auf zwei Arten beschrieben: als Purgatorium3, wie in Heyms Der Krieg oder in Georg Trakls Grodek und als Aufbruchsmetapher wie in Ernst Stadlers Der Aufbruch. Viele Expressionisten, die teils begeistert in den Krieg gezogen waren, fielen bereits in den ersten Monaten, wie beispielsweise Alfred Lichtenstein, Ernst Stadler, Ernst Wilhelm Lotz und August Stramm, während sich Georg Trakl nach der Schlacht bei Grodek das Leben nahm. Die Begeisterung schlug durch die grausame Realität schnell in Ernüchterung und Schrecken um, was in eine Orientierungslosigkeit mündete. Viele kamen aus dem Krieg als Pazifisten zurück und einige nahmen danach noch aktiv an der Novemberrevolution teil. In den expressionistischen Gedichten herrscht wie in den Stadtgedichten eine subjektive Erlebnisperspektive vor. Sie schildern meist Kriegsimpressionen, was auch in Patrouille der Fall ist.
Das Gedicht Patrouille besteht aus einem einzigen Satz mit 14 Wörtern, der sich über eine Strophe erstreckt. Die sechs Verse enthalten zwischen einem und vier Wörtern. Die Kürze des Textes lässt dem Leser einen breiten Raum für seine Imagination. Stramm verwendet den im Expressionismus häufig vorkommenden Zeilenstil4, ein Reimschema und ein erkennbares Metrum5 fehlen. Er missachtet die Grammatik und verwendet unvollständige Sätze durch das Weglassen von Artikeln und Präpositionen. Sein Text enthält nur am Ende einen Punkt, weist aber keine Kommata auf, obwohl es sich hierbei um eine Aufzählung von Eindrücken handelt. Die Wörter werden teils in ungewohnten Verbindungen verwendet (Fenster grinst Verrat (V. 2)), wodurch Stramm teils Neologismen schafft (feinden (V. 1), blättern (V. 4), raschlig (V. 4)). Auffällig ist, dass die wenigen Wörter, aus denen das Gedicht besteht, vor allem dazu verwendet werden, um Gegenstände zu personalisieren: „Steine feinden“ (V. 1), „Fenster grinst“ (V. 2), was immer eine negative bzw. bedrohliche Wirkung erzeugt.
Der Titel des Gedichtes Patrouille leitet den Inhalt ein. Ohne den Titel würde der Leser nicht verstehen, dass sich der Sprecher auf einer Patrouille befindet, wodurch sich Titel und Inhalt stimmig ergänzen. Das lyrische Ich schildert seine Wahrnehmung während einer Patrouille, ohne durch das Personalpronomen6 „ich“ in Erscheinung zu treten. Dadurch hat man den Eindruck, dass das lyrische Ich sogar formal wie ein Patrouillierender in Deckung geht und sich nicht hervorwagt. Die Eindrücke wirken alle bedrohlich. Der Leser erhält also Einblick in die Gefühle eines Soldaten, die hauptsächlich aus Angst bestehen. In dem ersten Vers heißt es „Die Steine feinden“ (V. 1). Die Steine stehen für die Natur, die in der Wahrnehmung des lyrischen Ich durch die Personifizierung zum bedrohlichen Gegner wird. Das Verb ‚feinden‘ (V. 1) stammt von ‚anfeinden‘ und wirkt in Verbindung mit der Natur ungewohnt und bedrohlich. Im Expressionismus stellt die Natur keinen Fluchtort zur kritisierten Stadt oder zum Kriegsgeschehen dar und wird demnach nicht neutral dargestellt. Da expressionistische Lyrik sehr auf das Ich bezogen ist, wird die Darstellung der Natur häufig der Wahrnehmung des Ich angepasst und zu Projektionen und Ausdrucksweisen des menschlichen Gefühls, wodurch die Landschaft oft bedrohlich personifiziert wird. Dieses Phänomen kann man im ganzen Gedicht beobachten.
In dem zweiten Vers grinst ein Fenster Verrat: „Fenster grinst Verrat“ (V. 2), was seltsam wirkt, weil der Autor keinen Artikel verwendet und der Leser ihn sich innerlich ergänzen muss. Man hat den Eindruck, dass die Wahrnehmung des lyrischen Ich direkt wiedergegeben wird und durch die massive Angst auf die wesentlichen Gedankengänge verkürzt ist, wodurch man eher von Gedankenfetzen sprechen könnte. Die Darstellung wird dadurch realistischer, weil man nachvollziehen kann, dass Artikel und Präpositionen unter dem Eindruck der Todesangst durchaus überflüssig werden. Durch den verkürzten Satz wirkt der Inhalt noch drängender und gehetzter. Form und Inhalt ergänzen sich also äußerst passend. Durch das in diesem Zusammenhang ungewöhnliche Verb ‚grinsen‘ denkt man an ein zersplittertes Fenster, welches das lyrische Ich anzugrinsen scheint. Das Verb scheint hier eher negativ besetzt zu sein, weil der Leser den Eindruck erhält, als würde das Fenster den Sprecher verhöhnen. Auch das Wort „Verrat“ (V. 2) weckt negative Konnotationen7, wodurch man vermuten kann, dass es sich um Häuser der Feinde handelt, an denen der Soldat vorbei kommt und die dementsprechend natürlich eine Bedrohung für das Ich darstellen.
In den folgenden zwei Versen wendet sich das lyrische Ich wieder der Natur zu: „Äste würgen / Berge Sträucher blättern raschlig“ (V. 3-4). Auch hier werden Gegenstände personifiziert und dadurch bedrohlich. An dieser Stelle ist die Textstruktur durch die fehlende Interpunktion nicht ganz eindeutig. In der Wendung „Äste würgen“ (V. 3) könnte das lyrische Ich versuchen seine Angst nicht nur durch das, was man sieht, sondern auch durch das Gehörte wiederzugeben: Das Aneinanderreiben der Äste könnte akustisch mit dem Würgen im Todeskampf in Verbindung gebracht werden. Dies verleiht dem Text erneut einen authentischen Eindruck, weil verschiedene Sinneswahrnehmungen angesprochen werden, was auch durch das Wort ‚raschlig‘ erzeugt wird, das ebenfalls die akustische Wahrnehmung betrifft. Das Verb könnte aber auch im Sinne von ‚jemanden erwürgen‘ zu verstehen sein, wodurch in dem Fall die Äste die Berge würgen, während die Sträucher rascheln. Die demnach gewaltsam beschriebene Natur würde zu der unter dem Eindruck des Kriegs und der Gefahr stehenden Wahrnehmung des Ich passen und vermutlich das ausdrücken, was der Sprecher befürchtet, eine Schlacht. Man könnte hier von einer durch die Angst gesteigerten Wahrnehmung sprechen, die zu leichten Halluzinationen führt. Es bleibt dem Leser überlassen, mit welchen Assoziationen er diese Stelle verbindet. Das Verb ‚würgen‘ verleiht dem Gedicht in jedem Fall eine abstoßende Wirkung, sei es im akustischen Bereich oder in irgendwelchen Fantasien.
Die ersten vier Verse enthalten noch einen weiteren Eindruck. Die Steine können einmal metaphorisch für die Gegner stehen, zum anderen die Mühe unterstreichen, die sich beim Durchstreifen der Natur auf einer Patrouille ergibt. Der Leser könnte sich den Soldaten durch die Erwähnung von Steinen in Zusammenhang mit Bergen beim beschwerlichen Anstieg einer Anhöhe vorstellen. Dabei kostet die Überwindung der Steine Anstrengung und kann zum Stolpern führen, wodurch Steine herabrollen könnten, die den Soldaten ebenso wie die raschelnden Sträucher beim möglichen hinter dem nächsten Strauch lauernden Feind verraten könnten.
Der folgende Vers besteht aus nur einem Wort: „Gellen“ (V. 5), was soviel wie schreien, laut ertönen, laut hallen, laut schallen bedeutet. Dieses Wort scheint sich noch auf die „Sträucher“ (V. 4) oder „Berge“ (V. 4) aus dem vorherigen Vers zu beziehen und verstärkt die Lautstärke der Blätter, Äste und Steine. In Zusammenhang mit den Bergen könnte man auch an ein Echo denken. Auch hier konzentriert sich das lyrische Ich also eher auf das Hör- als auf das Sichtbare.
Auch der letzte Vers besteht nur aus einem Wort: „Tod.“ (V. 6). Die Äste, Sträucher und Berge scheinen demnach verbunden mit der Angst des Soldaten nur eins zu gellen/schreien: Tod. Alles Vorherige läuft dadurch auf die elementarste Angst den lyrischen Ich hinaus, den Tod oder die Todesangst. Man könnte die Aussage des Gedichts in folgendem Satz wiedergeben: ‚Überall und zu jeder Zeit lauert auf einen Soldaten der Tod oder die Ruhe vor dem Sturm/Tod‘. Das Wort ‚Tod‘ wird besonders hervorgehoben, weil es allein und am Ende steht und nur hier ein Satzzeichen, ein Punkt, verwendet wird. Der Punkt ist ein Satzschlusszeichen und steht für ein Ende, genau wie der Tod. Der Punkt scheint in dem Fall die inhaltliche Dimension treffend zu unterstützen.
Stramm zentriert die Gefühle eines Soldaten im Krieg in extrem komprimierter Form. Sein Gedicht verdeutlicht die Angst trotzdem äußerst ausdrucksstark und lässt breite Assoziationen zu, was bei der Kürze des Textes eine beeindruckende Leistung ist. Die Dinge, die das Ich sieht, sind eigentlich weder bedrohlich noch gefährlich (Steine, Fenster, Äste, Berge und Sträucher), doch durch die Tatsache, dass sich das Ich im Krieg und damit in großer Gefahr befindet, fügen sie sich in der Wahrnehmung des Soldaten zu einem bedrohlichen Umfeld zusammen: Alles wird zum personifizierten, bedrohlichen Feind. Dies verdeutlicht besonders ausdrucksstark die Angst des Ich. Die akustischen Elemente steigern die Eindrücke und machen den Text realistischer und die Angst noch nachvollziehbarer, weil der Leser sich dadurch noch besser in die Situation des Ich hineinversetzen kann. Die persönlichen Gefühle und die Angst des Ich werden somit für den Leser fast greifbar. Stramm diente wie bereits erwähnt als Offizier in der deutschen Armee und fiel am 1. September 1915 bei Horodec an der Ostfront. Er spricht vermutlich von seinen eigenen Erfahrungen, wodurch sich der realistische Eindruck der Gefühle erklären ließe. Das Gedicht wirkt verstörend und regt in jedem Fall, auch durch die verfremdete Sprache und Grammatik, zum Nachdenken an. Stramm ging in der Lyrik sprachlich, abgesehen von den Dadaisten, am weitesten. Durch die Vernachlässigung und Zerstörung grammatischer und syntaktischer Regeln erzielte er eine starke Ausdrucksintensität und setzte einen Reichtum an Assoziationen frei. Abschließend lässt sich festhalten, dass Stramm durch ein Minimum an sprachlichem Aufwand ein Maximum an Bedeutung erzeugt.