Kurzgeschichte: Auf dem Balkon (1936)
Autor/in: Alfred PolgarEpoche: Wiener Moderne
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Täglich ereignet sich Leid auf dieser Welt. Dennoch wird dieses durch das Betrachten aus der Ferne oft heruntergespielt und berührt den Einzelnen kaum noch. Genau dieses Thema greift Alfred Polgar in seiner 1936 publizierten Parabel „Auf dem Balkon“ auf.
Der Prosatext handelt von einer gehobenen Gesellschaft, bestehend aus dem Hausherrn, einer Dame, einem Schriftsteller und einigen anderen Personen in einer noblen Runde auf einem Balkon. Beim Anbruch der Nacht werden sie während ihrer Konversation Zeuge eines Zugunglücks. Nachdem sie sich vergewissert haben, niemanden aus den Zügen gekannt zu haben, kehren sie beruhigt zu ihrer vorherigen Konversation zurück.
Das Verhalten dieser Personen soll im Folgenden Interpretationsteil kritisch untersucht werden.
Zu Beginn der Parabel wird aufgrund der geschilderten Raum-Zeit-Gestaltung eine gemütliche Atmosphäre geschaffen: Die Gesellschaft befindet sich auf einem Balkon eines „friedevollen Häuschens“ hoch über einem See (Z. 1) im Sommer (vgl. Z. 2).
Auf diesem Balkon „tranken gute Menschen guten Wein“ (Z. 3). Bereits hier wird dem Leser klar, dass etwas an dieser Aussage nicht stimmen kann. Der Autor fordert an dieser Stelle indirekt dazu auf, nach Fehlern zu suchen, die diese fast schon anmaßende Aussage impliziert. Die Gesellschaft wird als „geistig anspruchsvoll“ (Z. 3f.) beschrieben, die die bestehenden Verhältnisse hinterfragen und sich und sich daran erfreuen kann (vgl. Z. 4.ff.). An dieser Stelle wird nun deutlich, dass diese Gesellschaft tatsächlich zur gehobenen Schicht gehört und dabei über allen anderen thront. Dies lässt sich mit Bezug auf den Titel und der Raumgestaltung erkennen. Es ist ein Anwesen, welches „hoch“ (Z. 1) gelegen ist und damit die „geistige Überlegenheit“ gegenüber den normalen Bürgern symbolisiert.
In den nächsten Zeilen wird auf das Wesen dieser Personen eingegangen. Sie sind „nicht taub für den Jammer der Welt“ (Z. 7), dennoch berührt es sie nicht: „…und wenn ihr Herz auch zuweilen, müde des Gefühls, in harten Schlaf sank…, so war es doch ein Schlaf, der sich mit qualifizierten Träumen ausweisen konnte, Träumen von Gutsein oder zumindest ein Gutseinwollen“ (Z. 7-10).
Ihr „Herz“ (Z. 7), welches für Mitgefühl und Emotionen steht, befindet sich in einem „harten Schlaf“ (Z. 8), kann sich aber „mit qualifizierten Träumen ausweisen“ (Z. 9f.). Das Adjektiv „qualifiziert“ spielt hierbei wieder auf die Arroganz der gehobenen Gesellschaft an. Diese Träume handeln „von Gutsein oder… Gutseinwollen“ (Z. 10). Dieser Satz entlarvt die Gesellschaft. Da sie lediglich vom Gutsein träumen, widerspricht dies der Aussage in Zeile 3 („gute Menschen). Des Weiteren ist das Modalverb „wollen“ ein Indikator dafür, dass diese Gesellschaft noch weit vom „Gutsein“ entfernt ist. Außerdem findet dieses Streben nur in ihren „Träumen“ statt und wird von ihnen im realen Leben nicht angestrebt. Anhand dieser Analyse wird deutlich, dass die Gesellschaft das Leid zwar wahrnimmt, es sie aber nicht berührt. Das ist der zentrale, charakterliche Defizit der Gesellschaft, den der Autor anführt. Der Hausherr, bei dem die Gesellschaft eingeladen ist, wird als reicher Mann beschrieben, der vom Balkon aus „über den kleinen europäischen See hinüber bis nach Südafrika [sah], wo ihm in blühenden Kupferminen die Dividende reifte“ (Z. 13 ff.). Diese Übertreibung verdeutlicht, „wie hoch oben“ der Hausherr charakterlich ist und sieht somit vermutlich mit seinem geistigen Auge seinen Profit in den „blühenden Kupferminen“ (Z. 14) Südafrikas.
Diese Metapher1 erscheint grotesk2, hiermit wird ein Bild vom Hausherrn geschaffen, welches von Geldgier und Stolz geprägt ist. Dies stellt den zweiten Hinweis dafür dar, dass diese Gesellschaft nicht gut ist (Z. 3).
Als es nun Nacht und das Licht eingeschaltet wird, wird eine zynische Bemerkung gemacht, die ebenfalls den verdorbenen Charakter der Gesellschaft untermauert. Wenn es „nicht Licht von Glühbirnen gewesen wäre“ (Z. 18 f.) wären die Falter [g]ewiß hineingeflogen“ und wären durch Verbrennen den „poetischen Faltertod“ gestorben (Z. 18f.).
Einen Tod als „poetisch“ zu bezeichnen erfordert eine hohe Distanzierung von der
Gefühlswelt. Hierbei erinnere man sich an das schlafende Herz aus Zeile sieben und acht.
Nun beobachtet die Gesellschaft einen Zug am anderen Ufer des Sees. Er wird als „gliederreiches Würmchen, jetzt Glühwürmchen“ (Z. 22 f.) durch einen Correctio3 verniedlichend beschrieben, was die Ferne zur Realität verdeutlicht. Der auktoriale Erzähler spricht auch hier das Unausgesprochene aus und gibt dem Leser das Gefühl, außen zu stehen und doch dabei zu sein.
Auch die Dame in der Runde beschreibt den Zug als „Spielzeug“ (Z. 26). Durch diesen kindlich-naiven Ausdruck fügt sie sich dem Bilde, geistig vom Geschehen entfernt zu sein.
Weiter im Text unterhält sich die Gesellschaft nun über leidvolle, schreckliche Ereignisse im
Nachbarland und der Schriftsteller äußert: „Wer seine Kinder liebt, setzt sie nicht in die Welt“ (Z. 39f.). Hieran erkennt man das Weltbild der Gesellschaft, welches ausschließlich negativ ist, ein weiterer Gast stimmt dieser Aussage zu (vgl. Z. 40).
Interessant ist hierbei, dass die Gesellschaft sich trotzdem über das Leid unterhält, zumal
„es fast wie Taktlosigkeit gegen sie erschien, sich seiner zu erinnern“ (Z. 30f.) Allein diese
Aussage zeugt vom bürgerlich-gehobenen Stolz und dessen Realitätsferne. Jetzt wird der Fokus wieder auf das zuvor als „Maulwurf“ (Z. 34) bezeichnete „Bähnlein“ (Z. 4 2) gelenkt. Die Verniedlichung dieser sonst imposanten Maschine findet ihren Höhepunkt in „Putzig und lieblich war das“ (Z. 42).
Ferner könnte die Gesellschaft dem bevorstehenden Unglück nicht mehr sein. Der jetzt entgegenkommende Zug „sah aus wie eine Schlange“ (Z. 45f.) und kracht „Kopf gegen Kopf“ (Z. 48) mit dem anderen Zug zusammen. Interessant ist hierbei, dass die Schlange das biblische Motiv für das Böse ist und scheinbar absichtlich mit dem anderen Zug zusammenstößt. Im Kontext des Erscheinungsjahres der Parabel, der „aus allen Fugen geratene[n] Wirtschaft und aus allen Fugen geratenen Zeit“ (Z. 12f.), der Gräueltaten im Nachbarland (vgl. Z. 35) und dem bewussten Zusammenstoßen des „Bösen“ mit dem anderen Zug, lässt sich vermuten, dass Polgar hier auf den kurz bevorstehenden zweiten Weltkrieg anspielt, zumal dies auch die „Gräueltaten im Nachbarland“ beispielsweise durch die Nationalsozialisten erklären ließe. Die Züge können hierbei also Weltmächte und deren
Krieg symbolisieren. Als die Gesellschaft das Unglück sieht, springt sie auf und stellt sich an die Brüstung des Balkons. Die absolute Widerlegung der Aussage, die Gesellschaft bestünde aus „guten Menschen“ (Z. 3) findet sich in folgendem Ereignis. Die Gesellschaft vergewissert sich, dass sie niemanden in den beiden Zügen gekannt hat und fühlt dies „mit Beruhigung und Dankbarkeit“ (Z. 57).
Bereits hier sieht man, wie sie das Ereignis herunterspielen. Nun wird durch das Trikolon „Tote und Verstümmelte- Schmerz und Qual-, Jammer und Hilferufe-,…“ (Z. 59 f.) zum einen das Ausmaß der Katastrophe geschildert, zum anderen aber auch das Glück, das die Gesellschaft empfindet, da sie nicht mehr mitbekommen und sie es nicht betrifft.
Der Gipfel der Gefühllosigkeit ist erreicht, der Charakter der Gesellschaft liegt nun offen dar, denn nun „verblaßten die Unglücksbilder bald wieder“ (Z. 61). Sie kehren alle seelenruhig zu ihrem vorherigen Treiben zurück, als wäre nichts geschehen und lassen sich davon auch nicht die Laune verderben, was auch der Wein verdeutlicht, der durch sie „nicht sauer“ geworden ist (vgl. Z. 61f.). Die Dame empfindet den Zusammenstoß als „Spielzeug-Affaire“ (Z. 65f.) und der Hausherr „präzisierte“ (Z. 66) diesen Eindruck. Auf diese Weise wirke „auch das Grausige nicht grausig“ (Z. 67).
Die Gesellschaft schafft dadurch eine komplette Distanz, welche sich nicht nur körperlich, sondern besonders geistig und emotional äußert. Daher auch der Titel „Auf dem Balkon“.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die gehobene Gesellschaft nicht so ist, wie es der Autor zunächst zu vermitteln versucht. Der weite Ausblick, den die Gesellschaft vom Balkon aus genießt, ist ein Symbol von Gefühls- und Realitätsferne. Zudem symbolisiert die Höhenlage des Anwesens die scheinbare Erhabenheit dieser „geistig anspruchsvollen
Leute“ (Z. 3f.), welche auf Einbildung und Arroganz der Gesellschaft beruht und auch eine Kritik an Leute gleichen Wesens darstellt. Das Zugunglück, welches auf den bevorstehenden zweiten Weltkrieg anspielt, lässt die Gesellschaft kalt, viel mehr noch, sie freuen sich sogar, dass sie darunter nicht zu leiden haben. Auf den ersten Blick ist das Freuen eine verständliche Reaktion, dieses beruht nach den bisherigen Analyseergebnissen jedoch auf Selbstsucht und fehlender Empathie. Problemlos lässt sich diese Parabel, die typischerweise auf moralisch-ethische Grundsätze abzielt, auf heute übertragen. Vor allem zu Zeiten der Flüchtlingskrise wird dieses Leid nur aus der Ferne mit wenig Empathie durch die Medien betrachtet- wie auf einem Balkon.