Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Am Turme“ von Annette von Droste-Hülshoff stammt aus dem Jahre 1842 und ist somit den Epochen der Romantik bzw. des Biedermeiers zuzuordnen. Es behandelt die unerfüllten Vorstellungen und Wünsche des (weiblichen) lyrischen Ichs, welches sich nach der Freiheit sehnt, aufregende und für Frauen zu dieser Zeit äußerst unübliche Dinge zu tun, am Ende jedoch einsehen muss, dass es für es unmöglich sein wird, diese Träume wahrwerden zu lassen.
Das Gedicht ist in vier Strophen mit jeweils acht Versen unterteilt. Die ersten drei Strophen ergeben eine lange Aufzählung der Vorstellungen des lyrischen Ichs. Deutlich wird dies zum Einen daran, dass die Verse 9 und 17 mit einem „Und“ beginnen, sich also an die jeweils vorige Strophe anschließen, zum Anderen daran, dass sich gewisse Parallelen im Aufbau der Strophen finden: So gibt es im jeweils ersten Vers der zweiten und dritten Strophe die Formulierung „Und [in einer Richtung] seh' ich [...]“ (Vers 9, Vers 17), und die jeweils fünften Verse der Strophen 1 - 3 mit dem Ausruf „O“ beginnen.
All dies führt zu einer deutlichen Zäsur1 vor der letzten Strophe, in der das lyrische Ich gedanklich wieder in die Realität zurückkehrt.
Mit der Analyse des Reimschemas und der Kadenzen2 stößt man bereits auf ein zentrales Motiv des Gedichts: Den Kampf zweier klar voneinander abgegrenzten Seiten. Es herrscht ein ununterbrochener Kreuzreim, der in Verbindung mit den abwechselnd männlichen und weiblichen Kadenzen die Gegenüberstellung der männlichen mit der weiblichen Welt zur Lebzeit der Autorin in der Form des Gedichts auftreten lässt.
Die erste Strophe legt die Situation fest, in der sich das lyrische Ich während des gesamten Gedichts befindet: „auf hohem Balkone am Turm“ (Vers 1). Diese Formulierung ruft ein Gefühl der Einsamkeit hervor, welches jedoch in Vers 2 sogleich durch einen „schreienden Stare“, von dem sie „Umstrichen“ wird, relativiert wird. Das Wort „schreiend“ ist dabei schon dem Themenfeld des sich anbahnenden Kampfes zuzuordnen. Auch die leichte Berührung, die der Star durch sein „Umstreichen“ des lyrischen Ichs impliziert, kann als Vorbote dessen, was in den folgenden Versen passiert, aufgefasst werden.
Selbst das Versmaß stellt anschaulich dar, dass sich das lyrische Ich einen Kampf wünscht: „Ich steh' auf hohem Balkone am Turm“ ergibt für „Ich steh' auf“ einen Jambus mit nachfolgender Zäsur, die diesen Teil vom restlichen, daktylischen Vers abtrennt. Damit ist das lyrische Ich in einem ruhigen Jambus gefangen, wohingegen der Rest des Verses, sowie auch mit einigen Ausnahmen der Rest der ersten Strophe, im spannenderen Daktylus verfasst ist.
Einen Grund für diese strikte Trennung des lyrischen Ichs von allem, was in irgendeiner Weise spannend sein könnte, kann man ebenfalls aus dem ersten Vers herauslesen: Das weibliche lyrische Ich scheint eine Dame von „hohem Stand“ (vgl. „Ich steh' auf hohem [...]“, Vers 1) zu sein. Zur Zeit der Entstehung dieses Gedichtes war es für ebensolche Damen in der Tat nicht üblich, aufregende Leben zu führen.
Dass das lyrische Ich weiblich ist, wird schon in Vers 3 durch einen Vergleich desselben mit „einer Mänade“ recht deutlich. Auch in diesem Vers ist die Form der ersten Person Singular des Verbs „lassen“ apostrophiert und dadurch in einem Jambus geschrieben, wohingegen der Rest, analog zu Vers 1, einem Daktylus folgt. Der Effekt dessen bleibt derselbe wie in Vers 1. Allerdings folgt aus dem Vergleich mit einer Mänade auch, dass das lyrische Ich wild zu sein scheint. Ein Schluss, der zunächst unangebracht scheint, auch weil durch das Wort „lassen“ dem lyrischen Ich eine Passivität zugeordnet wird, deren Gegenteil der (grammatisch männliche) Sturm ist. Das Enjambement3 trägt dazu bei, dass die Böen des Sturms verlängert werden und dadurch ein bedrohlicheres Bild desselben gezeichnet wird.
Im folgenden Vers wird der Sturm zusätzlich personifiziert („mir wühlen im flatternden Haare“, Vers 4). Diese Personifikation4 wird in Vers 5 weitergeführt, allerdings in Form einer Metapher5. Der Sturm wird zu einem jungen Mann, der sich offen wild verhält: „O wilder Geselle, o toller Fant“. Der doppelte Ausruf „O“ kann als Zeichen der Bewunderung seitens des lyrischen Ichs interpretiert werden, das sich danach sehnt, sich ebenso wild gebärden zu können. Des Weiteren bricht das Wort „Fant“ in derselben Weise wie zuvor die Verben der ersten Person Singular den vorherrschenden Daktylus auf. So wird eine Assoziation zwischen dem lyrischen Ich und dem hier beschriebenen, starken Sturm hergestellt, die dazu dient, ihn und das lyrische Ich auf derselben Ebene, also als gebührende Gegner, gegeneinander antreten zu lassen.
Vers 6 bringt mit der Formulierung „kräftig umschlingen“ nun ein Gefühl fern der erwartbaren Feindseligkeit zweier Gegner hervor; es scheint ein fast liebevolles, aber nichtsdestotrotz auf den Wettkampf („kräftig“) bedachtes Verhältnis zu sein. Gleichzeitig wird durch „Ich möchte“ am Anfang des Verses 6 klar, dass das Verhältnis nicht tatsächlich in der beschriebenen Weise ausgelebt wird, sondern nur in den Gedanken des lyrischen Ichs.
„Sehne an Sehne“ (Vers 7) steigert das kampfeslustige Gefühl der Nähe der beiden Gegner ein wenig, und „zwei Schritte vom Rand“ (Vers 7) deutet auf den im nächsten Vers ausgesprochen Tod hin. In Vers 7 wird also das Verhältnis der beiden Gegenspieler noch extremer dargestellt, was dann schließlich im nächsten Vers auf einen Höhepunkt gebracht wird. „Auf Tod und Leben“ (Vers 8) lässt das Wort „Tod“ in wieder derselben Weise wie schon in den Versen 1, 3 und 5 beobachtet das Reimschema durchbrechen, wodurch nun dieses als höchste Stufe der Spannung die Relation zwischen weiblichem lyrischem Ich und männlichem Sturm charakterisiert.
Die erste Strophe abschließend wird im Wort „ringen“ der bisher unausgesprochene Kampf eröffnet, in dem das lyrische Ich auf eine später beschriebene Art kämpft.
Zunächst wird in der zweiten Strophe allerdings eine Antithese6 zur ersten errichtet: „Und drunten“ (Vers 9) setzt den hohen Balkon aus Vers 1 in einen Gegensatz zum Strand darunter. Damit ist auch absehbar, dass das lyrische Ich das Meer vor Augen hat. Mit „frisch“ (Vers 9) gibt es einen weiteren Gegensatz zur ersten Strophe, die auf den Tod hinweist.
Die Wellen in Vers 10 werden mit „spielende[n] Doggen“ (Vers 10) verglichen, deren Spiel durch ein Enjambement von Vers 9 auf Vers 10 mehr Geschwindigkeit und Lebensfreude erhält. Auch dies bildet einen Kontrast zu der wesentlich dunkler gefärbten ersten Strophe. Das lyrische Ich scheint von der Größe und Macht der Wellen fasziniert zu sein,
weswegen es den Vergleich mit Doggen wählt. Die Beschreibung als „mächtig“ oder „stark“ gewinnt durch die Personifikation der Wellen in Vers 11 („sich tummeln“) an Bedeutung, wobei ebendiese Personifikation auch eine befreite Leichtigkeit hervorruft, welche von einem weiteren Enjambement unterstützt wird.
Vers 13 präsentiert mit „O, springen möcht' ich“ einen Teilsatz, der, gerade in Verbindung mit „zwei Schritte vom Rand“ (Vers 7), suizidale Anklänge haben mag, die aber vom unübertrefflich lebensbejahenden Rest der zweiten Strophe neutralisiert werden: Das lyrische Ich möchte zwar tatsächlich in die Wellen springen, allerdings nicht um zu sterben, sondern weil es einfach gerne dort wäre. Belegen lässt sich dies am wiederauftretenden „O“ (Vers 13) der Bewunderung für diesen Ort.
Einen Grund dafür gibt der nächste Vers: Das lyrische Ich möchte Teil des Vergnügens sein, „Recht in die tobende Meute“ (Vers 14) springen, was das Bild der spielenden Doggen nun zu einem eines Rudels begeisterter – „tobende®“ (Vers 14) – Jagdhunde weiterentwickelt. Vom Ringkampf aus Strophe 1 begibt sich das lyrische Ich nun also gedanklich auf eine vergnügliche Jagd mit vielen Freunden, die im „korallenen Wald / Das Walroß, die lustige Beute“ (Verse 15f.) verfolgen.
In dieser Strophe gibt sich das lyrische Ich also einer glücklichen Vorstellung hin, wie es sein Leben gerne mit Aktivitäten füllen würde: In Gesellschaft vieler Freunde, in „frisch[er]“ (Vers 9) Umgebung.
Der erste Vers der dritten Strophe impliziert mit dem Wort „drüben“ (Vers 17) eine noch weiter entfernte Vorstellung. Der zu Vers 9 teilweise parallele Aufbau, angefangen jeweils mit dem Wort „und“, führt dazu, dass die verschiedenen Vorstellungen wie eine große Menge wirken und so die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach ihnen in der Wahrnehmung des Lesers verstärken.
Der „Wimpel“ (Vers 17) erinnert an Kriege, in denen Fahnen und Wimpel genutzt wurden, um die verschiedenen Seiten klar voneinander abzugrenzen. Gleichzeitig ist durch die Präposition „drüben“ (Vers 17) und das Wissen, dass sich das lyrische Ich am Meer befindet, klar, dass der Wimpel ein Boot oder Schiff ankündigt. Im nächsten Vers wird die Funktion des Wimpels noch weiter ins Kriegerische gerückt, indem er mit einer „Standarte“ (Vers 18) verglichen wird. Doch durch das Adjektiv „keck“ (Vers 18) wird das Kriegerische verniedlicht und der Wimpel so wieder eher zum Zeichen eines vergnüglichen Kräftemessens als eines brutalen Krieges.
In Vers 19 bestätigt der „Kiel“, dass es sich um ein Schiff handelt, das das lyrische Ich vor Augen hat. Das „auf und nieder“ (Vers 19) des Kiels beschreibt starken Seegang, wieder ein Aspekt, der der folgenden Vorstellung Aufregung verleiht: „O, sitzen möcht' ich im kämpfenden Schiff“ (Vers 21). Hier wird auch deutlich, wogegen das lyrische Ich kämpfen will: Das Schiff hat mit dem Seegang zu kämpfen, und das lyrische Ich will „Das Steuerruder ergreifen“ (Vers 22), den Kampf selbst führen, also letztendlich gegen den Sturm, der in der ersten Strophe als Mann personifiziert wurde, kämpfen.
Auch „das brandende Riff“ (Vers 23), das dem Schiff gefährlich werden kann, möchte das lyrische Ich „besiegen“, also „wie eine Seemöve“ (Vers 24) darüber hinwegfliegen.
Strophe 4 beginnt mit der Konjunktivform „wär'“ (Vers 25) und stellt damit unmissverständlich klar, dass das Folgende nicht zutrifft: „ein Jäger auf freier Flur“ (Vers 25), „Ein Stück nur von einem Soldaten“ (Vers 26), „ein Mann“ (Vers 27), all dies ist das lyrische Ich nicht. Die ersten zwei Ausdrücke nehmen Bezug auf die zweite bzw. dritte Strophe, in denen das lyrische Ich jagen bzw. kämpfen möchte, der letzte Ausdruck hingegen erbringt gerade einmal die Mindestanforderung dafür, überhaupt in seinem Leben etwas Spannendes erleben zu dürfen. Doch das lyrische Ich ist kein Mann, wie der Konjunktiv in Vers 25 bereits verrät. In Vers 28 findet sich eine Ellipse7, die den Leser dazu anhält, sich noch einmal vor Augen zu führen, was sich das lyrische Ich alles wünscht, und lässt diese Wunschvorstellung in Unsicherheit bis zu den nächsten Versen, in denen in einem Vergleich die Antithese zur Mänade, ein „artige[s] Kind“ (Vers 30) und dessen Pflichten, „sitzen so fein und klar“ (Vers 29), dem lyrischen Ich übergestülpt wird und damit sein Traum zerplatzt.
Die einzige Genugtuung findet das lyrische Ich darin, „heimlich [zu] lösen mein Haar, / Und lassen es flattern im Winde!“ (Verse 31f.). Für Frauen war selbst das zur Entstehungszeit dieses Gedichts ein nicht selbstverständlicher Akt, deswegen zeigt es, wieso das lyrische Ich trotz aller externen Restriktionen eine Mänade genannt werden kann.
Mithilfe eines häufigen Gebrauchs von Inversionen8 erzielt die Autorin den Ausdruck des Wunsches, die vorherrschenden Verhältnisse für Frauen umzukehren oder zumindest zu verändern. Angesichts der aktuellen Debatte um Gender-Identitäten kann man der Autorin ein ihrer Zeit weit vorausgehendes Denken zusichern, was weiterhin in sich ein Grund ist, Frauen dieselben Freiheiten einzugestehen wie Männern.
Der Autorin gelingt also eine Kritik der damaligen Geschlechterverhältnisse, und gleichzeitig aus heutiger Perspektive ein wertvoller Beitrag zu einem aktuellen und wichtigen Thema.