Autor/in: Alfred Wolfenstein Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams1 die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ...
- Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine
Anmerkungen
1
Altmodisches Wort für Straßenbahn.
„Städter“ vorgelesen von Hörspielsprecher Fritz Stavenhagen
Die Literaturepoche des Expressionismus: Die verschollene Generation? Diese und andere spannende Fragen beantwortet euch der Germanist Dr. Tobias Klein von Huhn meets Ei: Katholisch in Berlin im Gespräch mit dem Podcaster Wilhelm Arendt.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Ernst Ludwig Kirchner: Leipziger Straße (1914)
Das Gedicht Städter von Alfred Wolfenstein stammt aus dem Jahr 1914, gehört zu der literarischen Strömung des Expressionismus (1910-1920/25) und thematisiert die Großstadt. Die in der Zeit zunehmende Bedeutung der Großstadtthematik ist bedingt durch die wachsende Bedeutung der Städte mit der einhergehenden Landflucht. Seit der Reichsgründung 1871 durchliefen deutsche Städte eine später einsetzende und dafür schneller verlaufende Industrialisierung und Urbanisierung, in der Berlin Ende des 19. Jahrhunderts zu der am schnellsten wachsenden Stadt Europas avanciert. Teils wurden sehr schnell neue Stadtviertel für die Zuwanderer vom Land gebaut, in denen die Arbeiter auf engem Raum und unter erbärmlichen Umständen lebten. Zu dieser neuen Konzentration von Menschenmassen kamen technische Entwicklungen wie die Eisenbahn, das Automobil und die Straßenbahn, die das Lebenstempo der Menschen beschleunigten. Ferner wurden die Menschen nun mit Verkehrslärm, Abgasen und neuen irritierenden Sinneseindrücken wie elektrischer Beleuchtung oder Neonreklamen konfrontiert. Sie nahmen all diese neuen Eindrücke teils zunächst mit großer Skepsis auf. Die Wahrnehmung der Großstadt war im Expressionismus nach Vietta höchst ambivalent, es überwiegt aber eine skeptische Einstellung zur modernen Großstadtwelt und zur Zivilisation und so beschreiben die Autoren besonders ihre Schattenseiten, wie zum Beispiel in Georg Heyms Der Gott der Stadt und in Alfred Lichtensteins Die Stadt oder in Punkt. Wolfenstein betont in Städter besonders die Enge und Anonymität der Großstadt und die Folgen auf die Psyche einzelner Menschen.
Das Gedicht ist in der traditionellen lyrischen Form des Sonetts geschrieben, das häufiger in dieser Strömung verwendet wurde. Die beiden Quartette heben sich nicht nur optisch von den Terzetten ab, auch inhaltlich lässt sich eine Zäsur2 ausmachen. Die ersten beiden Strophen beschreiben die geballte Situation in der Stadt und deren Einwohner, während das lyrische Ich in den Versen 9–14 auf sein Leid durch die Stadt zu sprechen kommt. Dabei bilden die ersten beiden Strophen umarmende Reime. Die Verse der dritten Strophe reimen sich jeweils auf eine der vierten Strophe (efg, gef). Die Reimabfolge ist also in den Quartetten gewöhnlich und in den Terzetten ungewöhnlich. Der umarmende Reim verstärkt den Eindruck der Enge in der Stadt und die unübersichtlichen Reime der Terzette stehen für die widersprüchlichen Gefühle, die das lyrische Ich in diesem Raum erlebt. Die formalen Merkmale passen also gut zum Inhalt. Der Inhalt wird noch durch eine Fülle weiterer künstlerischer Mittel unterstützt. Typisch expressionistisch sind die Personifikationen3 von Objekten (Fenster, Häuser, Straßen), während Menschen verdinglicht werden (Menschen = Fassaden). Am Anfang finden sich viele Enjambements4, besonders in der ersten Strophe, die den Lesefluss beschleunigen. Sehr ausdrucksstark und gut vorstellbar sind die teils extremen Vergleiche („wie die Löcher eines Siebes“ (V. 1), „wie Gewürgte“ (V. 4), „wie Haut“ (V. 9), „wie in dick verschlossner Höhle“ (V. 12)), die Metaphern5 (Häuser „fassen sich … an“ (V. 2 und 3), die Blicke baden ineinander (V. 7 und 8)) und damit häufig verbundenen Personifizierungen. Auch die Alliteration6 „Grau geschwollen wie Gewürgte“ (V. 4) unterstreicht anschaulich die inhaltliche Aussage. Zum Ende des Textes verwendet Wolfenstein weniger Enjambements, wodurch sich der Lesefluss verlangsamt und ins Stocken gerät, was durch Verzögerungen in Form von mehreren Punkten (V. 11) und einen Gedankenstrich (V. 12) gestützt wird. Dies passt zum resignierenden Ton am Ende und könnte dafür sprechen, dass die Äußerungen dem Sprecher schwer fallen.
Der Inhalt und die formalen Mittel ergänzen sind also im ganzen Text sehr stimmig. Es besteht eine Diskrepanz7 zwischen den traditionellen lyrischen Mitteln und den neuen Motiven einer Großstadtlyrik, was in mehreren expressionistischen Texten der Fall ist, wie zum Beispiel in Der Gott der Stadt von Georg Heym. Andere Expressionisten wie Georg Trakl verwenden hingegen ganz andere Mittel wie Neologismen8 oder eine verschlüsselte Sprache.
In der ersten Versgruppe überwiegt wie bereits erwähnt der Eindruck der Enge in der Stadt, was durch ausdruckstarke Bilder, den umarmenden Reim und die Enjambements unterstützt wird. Die Fenster stehen „[d]icht wie die Löcher eines Siebes“ (V. 1), was die gedrängte Situation bildlich beschreibt. Der Vergleich erweckt den Eindruck, als ob die eng stehenden Häuser keinen Raum mehr für Parks oder Grünflächen zulassen würden. Fenster und Häuser verbindet man hier nicht mit einem Heim, sondern sie werden belebt, stehen scheinbar eigenständig und fassen sich an, was einen bedrohlichen Eindruck schafft, weil der Autor den Objekten eine gewisse Eigendynamik zuspricht. Um diese Wirkung zu verstärken, verwendet Wolfenstein eine Alliteration („Grau geschwollen wie Gewürgte“ (V. 4)), die das Beengende der Häuser auf geradezu beängstigende Weise deutlich hervorhebt, indem es so scheint, als würden die Straßen von den Häusern gewürgt werden. Die Enge der Stadt wird also äußerst ausdrucksstark mit einem gewaltsamen Übergriff verglichen. Die Gebäude stehen derart gedrängt, dass sie sogar eine Bedrohung für die Straßen - und damit auch für die Menschen - darstellen. Alle wichtigen Erscheinungen der Stadt (Fenster, Häuser, Straßen) werden personifiziert, was einen grotesken, unheimlichen und beengenden Eindruck des neuen Lebensraums Stadt schafft, der dadurch kritisiert wird.
Nachdem der Sprecher die Erscheinungsformen der Stadt beschrieben hat, kommt er erst in der zweiten Strophe auf deren Einwohner zu sprechen, als ob sie unbedeutender als ihr Lebensraum wären. Durch die Erwähnung der Menschen stellt der Sprecher zum ersten Mal einen Bezug zum Titel Städter her. Er beschreibt kritisch die enge Atmosphäre in den Trams, was ebenfalls durch den umarmenden Reim formal unterstützt wird. Auffallend ist, dass sowohl der erste als auch der vierte Vers mit dem Wort „ineinander“ beginnen, wodurch der Eindruck des Platzmangels verstärkt wird: Die Städter sitzen nicht nebeneinander, sondern ineinander und auch ihre Blicke „baden [i]ineinander“ (V. 7 und 8). Auch die Wendung „dicht hineingehakt“ (V. 5) verstärkt hyperbolisch die Enge in diesem Verkehrsmittel. Die einander gegenüber sitzenden Reihen von Menschen werden mit „zwei Fassaden“ (V. 6) verglichen und dadurch depersonifiziert, während die Erscheinungsformen der Stadt personifiziert werden, was einen paradoxen10 und grotesken Eindruck schafft sowie einen Kontrast zwischen dem ersten und dem zweiten Quartett. Der Vergleich mit den Häuserfassaden zeigt, dass die Menschen schon wie die Stadt geworden. Sie wirken kalt, leblos und vor allem oberflächlich. Die Fahrgäste sind nur äußerlich anwesend und sitzen gedrängt, aber sie zeigen keine Gefühle oder Wärme. Paradoxerweise führt diese Nähe in den Trams nicht zu einem sozialen Austausch, sondern es baden lediglich die „nahen Blicke“ (V. 7) ineinander. Wolfenstein verdeutlicht hier eine Atmosphäre, die man noch heute in Verkehrsmitteln vorfinden kann, in denen sich fremde Menschen gegenseitig mustern. Im Text scheint dadurch die Privatsphäre der Menschen zu leiden, sie haben zu wenig Platz und werden dementsprechend von den Blicken der anderen „ohne Scheu befragt“ (V. 8). Dieser Satz verdeutlicht aber auch, dass als Folge der emotionalen Kälte nur noch eine eingeschränkte Kommunikation stattfindet, obwohl sich die Städter nach mehr Nähe zu sehnen scheinen, da ihre „nahen Blicke“ sonst nicht ineinander baden würden (V. 7 und 8).
Erst die beiden Terzette bringen das lyrische Ich ins Spiel, die Perspektive wechselt zum „wir“ (V. 9) und „ich“ (V. 10), wodurch eine deutliche Zäsur zu bemerken ist. Es geht nun um die Gefühle der Menschen, die sich in einer solchen Stadt ergeben. Der Schauplatz ist nun der private Wohnbereich, wo die Städter auch nicht für sich sein können: Aufgrund der Wände, die „so dünn wie Haut“ (V. 9) sind, nimmt „ein jeder“ (V. 10) selbst an den intimsten Lebensäußerungen des Sprechers teil, wodurch das „Flüstern“, hyperbolisch betrachtet sogar das „Denken“ (V. 11) für den Nachbarn zum unangenehmen „Gegröle“ (V. 11) wird. Auch in der Wohnung, die eigentlich einen Rückzugsort darstellen sollte, hat der Städter keine Privatsphäre, sondern sein Innerstes wird vor den Nachbarn bloßgelegt.
Die letzte Strophe wird mit einem Gedankenstrich eingeleitet und steht im Gegensatz zu dem Vorangegangenen. Obwohl die Menschen dicht beieinander wohnen und alles mithören, bleiben das Beobachten in der Tram und das lästige Zuhören im Wohnhaus scheinbar die einzigen Kontaktmöglichkeiten an diesem Ort: „Ganz unangerührt und ungeschaut steht doch jeder fern und fühlt: alleine“ (V. 13 und 14). Wolfenstein betont die Einsamkeit der Städter, was er zusätzlich hervorhebt, indem er am Ende einen Doppelpunkt verwendet und dadurch das Wort `alleine´, das schon durch die Stellung am Satzende auffällt, zusätzlich abhebt. Dadurch könnte das Wort dem Leser regelrecht im Kopf nachhallen. Die letzte Strophe kehrt das Bild des ersten Quartettes um: Das Gedicht beginnt mit dem Wort „Dicht“ (V. 1) und endet mit dem Wort „alleine“ (V. 14), wodurch sich inhaltlich und formal ein paradoxer Eindruck zwischen der Enge und der Einsamkeit ergibt.
Die Städter sind hier kalt, aber auch sehnsüchtig und einsam. Der Eindruck der Kälte ergibt sich durch den Vergleich mit den Fassaden. Sie scheinen auf den ersten Blick teilnahmslos in den Trams neben Menschen zu sitzen, die man nie wieder sieht. Man hat den Eindruck, dass der Großstadtmensch in der Masse schlichtweg untergeht und dadurch nur noch an sich denkt und nicht mehr an seinen Nächsten, der doch so nah hinter der hautdünnen Wand lebt. In den ineinander badenden Blicken könnte man eine gewisse Sensationslust erkennen, weil sie einander beobachten und belauschen. Diese Sensationslust findet sich auch in Alfred Lichtensteins Gedicht Die Stadt, in dem sich die anderen Stadtbewohner über einen Wahnsinnigen lustig machen anstatt Mitleid zu verspüren. Andererseits kann man in den Blicken der Städter auch eine gewisse Sehnsucht nach mehr Nähe lesen, zu der sie scheinbar nicht fähig sind: Sie leben in einer eingeschränkten Kommunikation, verkriechen sich in ihre Räume, bzw. in ihre „dick verschlossen[en] Höhle[n]“ (V. 12) und leiden unter ihrer Einsamkeit. Diese Darstellung könnte dafür sprechen, dass sich die Menschen in der Stadt bereits so sehr sich selbst entfremdet haben, dass sie nicht mehr fähig sind, soziale Kontakte richtig zu pflegen. In diesem Raum kommt es scheinbar zu einem widersprüchlichen Verhalten: Die Menschen sind einerseits kalt, aber leiden auch unter der Einsamkeit.
In der vierten Strophe verwendet der Autor keine Enjambements mehr, wodurch der Lesefluss in der paradoxen, traurigen Feststellung stoppt, was durch die scheinbare Unstrukturiertheit der Reimpaare in den Terzetten unterstützt wird.
Insgesamt zeigt das Gedicht den Gegensatz von räumlicher Enge und innerer Ferne zwischen den Menschen, was sich beides belastend auswirkt. Wolfenstein kritisiert das Großstadtleben, die Anonymität, die Einsamkeit und Enge, den Verlust der Privatsphäre, die Kommunikationsfeindlichkeit, den Untergang des Individuums in der Masse und die städtische Entfremdung. Hier geht es weniger um die Entfremdung der Menschen zur Umwelt wie in Der Gott der Stadt von Georg Heym, sondern um die Entfremdung der Städter untereinander: Er verdeutlicht die paradoxe Situation, dass sich Menschen in der Großstadt zwar hautnah begegnen, aber dennoch einsam sind, wodurch Wolfenstein nach Große die äußerste Einsamkeit darstellt. Der Stadt wird eine zerstörerische Wirkung auf die Menschen zugesprochen, deren Kontaktunfähigkeit scheinbar auf das Leben in diesem Raum zurückzuführen ist. Es herrscht der Eindruck vor, dass der Mensch das Opfer seines eigenen Produkts geworden ist, was auch in Heyms Gedicht zu finden ist. Am Ende herrscht Hoffnungslosigkeit vor, wie auch in Der Gott der Stadt und in Die Stadt von Alfred Lichtenstein.
7;
Bewertungen
Bisherige Besucher-Bewertung: 14 Punkte, sehr gut (13,5 Punkte bei 141 Stimmen) Deine Bewertung: