Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das zu analysierende Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein aus dem Jahre 1914, aus der Epoche des Expressionismus, handelt von der mit dem Großstadt-Leben einhergehenden Einsamkeit und Anonymität.
Das aus vier Strophen bestehende Gedicht, welches sich in zwei Quartette [mit jeweils vier Versen] und zwei Terzetten [mit jeweils drei Versen] untergliedern lässt, weist ein als umarmenden Reim (abba) identifizierbares Reimschema auf, das sich in den beiden Terzetten zu efggef verändert. Das Metrum1 ist der fünfhebige Trochäus, welcher regelmäßig ist.
In den ersten beiden Strophen handelt es sich um eine allgemeine Beschreibung der Stadt, dabei bezieht sich die erste Strophe auf das Aussehen der Straßen mit einem Schwerpunkt auf die Betrachtung von Fenstern und Häusern, wobei die zweite Strophe die Straßenbahnen mit ihren Fahrgästen als Szenerie beschreibt. Die letzten beiden Strophen fokussieren sich auf die Gefühle der in der Stadt lebenden Menschen, wobei in der dritten Strophe ein besonderer Fokus beim lyrischen Ich liegt.
Der Leser wird mit einem Vergleich in die Szene eingeführt. Fenster stünden sich so nah wie Löcher eines Siebes (vgl. V. 1). Somit wird direkt eine bildhafte Vorstellung von einer sehr zugebauten Gegen erzeugt. Die Personifikation2 „drängend fassen Häuser sich so dicht an“ (V. 2 ff.) unterstützt dieses Bild, besonders unter Berücksichtigung der Adjektive „[n]ah“ (V. 1), welches die Szene lebendiger und realer erscheinen lässt und „dicht“ (V. 2), welche eine Ähnliche Wirkung erzielen, sodass eine gewisse Enge herbeigeführt wird. Die Stimmung wirkt eher bedrückend und trist, was vor allem durch die rhetorischen Mittel zustande kommt. Der Vergleich und die gleichzeitige Alliteration „[g]rau geschwollen wie Gewürgte“ (V. 4) verstärkt das Gefühl, beengt zu sein. Mit der Farbe Grau werden eher negative Dinge assoziiert, wie auch mit den Wörtern „geschwollen“ und „Gewürgte“, sodass ein hässliches Bild der Straßen und somit der Stadt entsteht. Man hat das Gefühl, die Städter hätten kein Rückzugsort. Durch die Enjambements3 verschnellert sich der Lesefluss, sodass Hektik und Bewegung, welche das Stadtleben widerspiegeln sollen, ins Gedicht gebracht werden.
In den Versen fünf und sechs wird die überfüllte Stadt nochmals aufgegriffen, dieses Bild wird durch die Formulierung „[i]neinander dicht eingehakt“ (V. 5) unterstützt. Die in den Trams sitzenden Fassaden (vgl. V. 6) symbolisieren die Städter, die hier depersonifiziert werden und mit Gegenständen gleichgesetzt werden. Diese Verdinglichung durch die Depersonifikation spielt auf eine Oberflächlichkeit seitens der Leute und Gefühlskälte zwischen den Menschen an. Auffällig ist die häufige Verwendung von Dingen, wie zum Beispiel Sieb, Fenster, Häuser, Straßen, Trams und Fassaden in den beiden ersten Strophen, welche deutlich zeigt, dass das Stadtleben nicht durch zwischenmenschliche Aktionen, sondern durch Sachlichkeit und fern jeglicher menschlicher Emotionen geprägt ist. Die herrschende Kälte wird durch die ausladenden Blicke der Leute (vgl. V. 7) verdeutlicht. Die Menschen passen sich immer mehr der tristen, anonymen Stadt an, was besonders im letzten Vers der Strophe deutlich wird, weil sie trotz einer „Begierde“ (V. 8) nicht miteinander kommunizieren. Somit ist das Leben in der Stadt und das Miteinander-Leben der Städter sehr durch eine gestörte Kommunikation, Desinteresse und fehlende Wärme zwischen den Menschen geprägt.
Die Zäsur4 zwischen dritter und vierter Strophe deutet einen Wechsel von der Außensicht zur Innensicht an, das vorerst Äußerlichkeiten der Stadt beschreiben worden sind und nun auf die Gefühlswelt der Menschen eingegangen wird. Dabei wechselt die Rolle des lyrischen Sprechers vom Betrachter zum Bewohner. Dieser Perspektivwechsel wird vor allem durch die Pronomen „[u]nsere“ (V. 9) und „ich“ (V. 10) verdeutlicht. Durch den Vergleich der [so] dünnen Wände mit Haut (vgl. V. 9) wird die Enge, die zu einer nicht vorhandenen Privatsphäre führt, angesprochen. Das damit entstandene bedrückende Gefühl wird besonders durch die Hyperbel5 (V. 9) und das Adverb „so“ (ebd.) betont. Interessant ist, dass die Stadt menschliche Eigenschaften annimmt, indem humane Organe auf sie übertragen werden (vgl. V. 9). Es kommt somit zu einer Vermischung, die letztendlich zu einer Entmenschlichung führt, der Mensch wird enthumanisiert und geraubt von der Stadt. Der lyrische Sprecher beklagt sich, dass „ein jeder“ (V. 10), was für Anonymität steht, mitbekommt, wenn er weint, was etwas sehr Intimes ist, sodass der lyrische Sprecher Schamgefühle verspürt. Durch diese Scham ist der lyrische Sprecher übersensitiv, was das Verhalten beziehungsweise die Reaktionen anderer betrifft, weil er Flüstern wie Gegröhle (vgl. V. 11) wahrnimmt. Dieser Vergleich ermöglicht ein Eindringen in die Gefühlswelt des lyrischen Sprechers, der das Gefühlt verspürt, aufgrund seiner bitteren Traurigkeit und leicht zum Vorschein kommender Emotionen von der Gesellschaft verachtet zu werden. Dem lyrischen Sprecher scheint dies höchst unangenehm zu sein, sodass er die stimmen übersteigert laut wahrnimmt. Das Gegröhle steht außerdem für das turbulente Stadtleben, in dem es keine Refugien gibt. Die vielen Sinneseindrücke führen zu einer Überflutung der Sinne, sodass sich das lyrische Ich wie betäubt fühlt. Durch die Antithese6 (V. 11) wird die Vielfältigkeit der Stadt und somit ihre starke Präsenz unterstrichen. Gegensätzlich zur dritten Strophe steht die vierte Strophe. Der Scheinwiderspruch besteht darin, dass man nur unberührt, ungeschaut und stumm in seiner abgeschlossenen Höhle, die ja eher für Schutz und Geborgenheit steht, sei (vgl. V. 12 ff.). Die Alliteration „unberührt und ungeschaut“ ironisiert dieses Paradoxon7, da zuvor ein privates Leben nicht möglich ist. Durch den Doppelpunkt im dritten Vers kann ein Bezug zwischen den Strophen hergestellt werden, sodass das Gegröhle und das Adjektiv „stumm“ als Antithese verstanden werden kann, sodass die Antiklimax8 die städtische Einsamkeit und Anonymität symbolisiert. Die „Höhle“ kann als Metapher9 verstanden werden, die für Entwicklung von unangenehmen Gefühlen bis hin zur Isolation gezeichnet, diese Klimax unter Berücksichtigung der Antiklimax verdeutlicht die Hektik und stellt das komplette Leben in der Großstadt hinsichtlich des Lebenssinnes in Frage. Die Alliteration „fern und fühlt“ im letzten Vers verdeutlicht die deutliche Entfremdung der Menschen. Die Ellipse10 „allein“ (V. 14), angekündigt durch den Doppelpunkt, kann als Fazit verstanden werden, das heißt dass jeder nur für sich lebt in einer ganz anonymen Welt.
Das regelmäßige Metrum weist auf eine gewisse Großstadt Monotonie und Leere unter der die Leute leiden hin. Untypisch für ein klassisches Sonett11 ist der fünfhebige Trochäus, da meistens fünfhebige Jamben verwendet werden. Dies deutet auf eine Befremdlichkeit des Großstadt Lebens hin, der die Menschen ausgesetzt sind.
Das Gedicht weist viele Epochenmerkmale des Expressionismus auf, wie die Großstadt, die sehr negativ dargestellt wird, als zentrales Thema des Werkes. Weitere zentrale Motive sind die Entmenschlichung, die Anonymität in der großen Masse und die damit einhergehende Einsamkeit. Auch das Sonett als Gedichtform ist typisch für diese Zeit.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Menschen in ihrer Menschlichkeit von der Großstadt beraubt werden, was zu fehlender Wärme zwischen den Wesen, einer stark herrschenden Anonymität und Einsamkeit sowie ein Gefühl des eingeengt Seins führt. Durch das Gedicht werden das damalige Zeitgefühlt und die damals herrschende Situation geprägt durch die Industrialisierungs- sowie Urbanisierungswelle angemessen dargestellt. Dies wird besonders mittels der vielen Vergleiche und Alliterationen12 erreicht. Auch wenn das Sonett schon älter als 100 Jahre alt ist, so ist es doch noch zeitgemäß, da noch heute die Menschen in einer sehr anonymisierten Welt leben (insbesondere in den Großstädten), auch die herrschende Kälte, Einsamkeit und gestörte Kommunikation bis hin zur Kommunikationsfeindlichkeit sind heutige Probleme, die beispielsweise auf sozialen Netzwerken deutlich werden. Viele Großstädter leben nur für sich in ihrer eigenen anonymen, entfremdeten Welt, in der sie nicht ihre Nachbarn kennen.