Autor/in: Alfred Wolfenstein Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Dicht wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams1 die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
Ineinander, ohne Scheu befragt.
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken ... wird Gegröle ...
- Und wie still in dick verschlossner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine
Anmerkungen
1
Altmodisches Wort für Straßenbahn.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Sonett1 „Städter“ von Alfred Wolfenstein wurde im Jahre 1914 geschrieben. Daher gehört es zu den Gedichten des Expressionismus (lateinisch: expressio-Ausdruck), welcher in den Jahren 1910- 1925 eine große Kunstepoche war. Die jungen Dichter entschieden sich gegen die Oberflächlichkeit des Impressionismus und fingen an ihre Gedichte mit der „Wahrheit des schrecklichen Lebens“ gefühlvoll zu beschreiben. Dies war in der Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschichte. Die für den Expressionismus typischen Merkmale (z. B. schwarz, Nacht, rot, Blut, Raben usw.). Alfred Wolfenstein schrieb sein Gedicht- wie viele andere bekannte Dichter über die Stadt. Etwas Typisches sind die Vergleiche.
Das Sonett besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten. Das Thema ist die Stadt, wie der Titel schon verrät. Das Motiv des Dichters ist sicher die Kritik an der Stadt und an den Menschen, die zwar hören, wie der Andere weint, aber nicht helfen (V. 10-14). Das erste Quartett sagt aus, dass die Häuser und Fenster sehr dicht beieinander sind. Dies ist die Einleitung des Gedichtes. In den anderen Strophen wird alles genauer erklärt bzw. beschrieben. Im zweiten Quartett wird berichtet, wie viele Leute in den Trams sitzen, sich gegenseitig anschauen und schließlich doch schweigen. Im ersten Terzett erzählt der Dichter über die anderen Mitbewohner, die alles mithören, weil die Wände so dünn wie Haut sind (V. 9). Im zweiten Terzett wird uns über das Gefühl der Bewohner berichtet: „-Und wie still in dick verschloßener Höhle“ (V. 12), „Steht ein jeder fern und fühlt alleine.“ (V. 14). Der Dichter Wolfenstein will uns etwas über die Tragik im Krieg erzählen. Das Reimschema ist im ersten Quartett abba, im zweiten Quartett cddc (umarmende Reime), im ersten Terzett reimt sich der erste Vers des ersten Terzettes mit dem zweiten Vers des zweiten Terzettes. Der zweite Vers des ersten Terzettes reimt sich mit dem dritten Vers des zweiten Terzettes. Der dritte Vers des ersten Terzettes reimt sich wiederum mit dem ersten Vers des zweiten Terzettes. Also sieht das Reimschema so aus: efg gef.
Nun will ich etwas über das lyrische Bild des Gedichtes erzählen:
Im ersten Quartett ist ein Vergleich zu sehen: „Dicht wie Löcher eines Siebes stehn Fenster beieinander…“ (V. 1/2). Mit diesem Vergleich will er schon am Anfang die Enge der Stadt „andeuten“.
Noch in der gleichen Strophe finden wir noch einen Vergleich: „… die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.“ (V. 3/4). Dieser Vergleich hat die Wirkung, dass der Leser sich vorstellt, dass die Straßen wie Gewürgte trostlos in der Gegend stehen. Die Straßen der Stadt verlaufen also kreuz und quer und sind von hoher Anzahl.
Im ersten Terzett finden wir wieder einen Vergleich: „Unsre Wände sind so dünn wie Haut“ (V. 9). Da haut ja zart und dünn ist, vergleicht der die Wände der Häuser damit. Wenn wir diesen Vergleich lesen, dann können wir uns vorstellen, wie schrecklich diese Zeit war. Im zweiten Terzett gibt es noch ein Vergleich: „-Und wie still in dick verschloßener Höhle“ (V. 12), „Steht ein jeder fern und fühlt alleine.“ (V. 14). Dies ist der „Höhepunkt“ der Dramatik im Gedicht! Andere rhetorische Figuren sind die Personifikation2 und die Hyperbel3 bzw. Übertreibung. Die Personifikation ist gleich in der ersten Strophe: „…fassen Häuser sich so dicht an, …“ (V. 2/3). Der Dichter sieht somit die Häuser als Hände, die sich anfassen. So sieht er die Stadt als Körper. Die Hyperbel findet man im ersten Terzett, im 11. Vers: „…,Denken…wird Gegröhle.“ Diese Hyperbel wirkt auf den Leser bedrohlich, weil man sich beobachtet fühlt. Außerdem findet man im ersten Quartett eine Alliteration4: „Grau geschwollen wie Gewürgte“ (V. 4).
Unbedingt zu beachten sind die Enjambements5, die von Vers 1 bis Vers 4 führt. Wäre da nicht die strenge Anordnung des Sonetts, ergebe das Enjambement einen Satz. Das Gedicht besitzt überwiegend männliche Kadenzen6, welches Bedrohung und Angst bewirkt. Das zweite Quartett ist parataktisch. Denn ich sehe keine Konjunktionen, die einen Nebensatz erkennen lassen. Das lyrische Ich in diesem Gedicht ist nicht dem Autor gleichgestellt. Der Leser wird zum Beobachter des Geschehens.
Alfred Wolfenstein gehörte zu der großen Gruppe von Dichtern, die Vieles kritisierten. So kritisiert er die Stadt. Wenn man dieses Gedicht mit dem Gedicht „Die Stadt“ von Georg Heym vergleicht, dann ist da schon ein großer Unterschied. Georg Heym berichtet über die Stadt, wenn man sie von Außen betrachtet. Aber das Schönste an Wolfensteins Gedicht ist, dass man als Leser beobachten kann, was im Inneren der Häuser abläuft.
7;
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