Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein, aus dem Jahr 1914, thematisiert die Stadt, in der man sich zuggleich beengt und einsam fühlt.
Das Gedicht lässt sich in die Epoche des Expressionismus einordnen.
Es besteht aus vier Strophen, von denen die ersten beiden jeweils vier und die letzten beiden drei Verse haben. Dies entspricht dem traditionellen Aufbau eines Sonetts.
Das Reimschema hingegen entspricht nicht dem typischen Reimschema eines Sonetts.
Die erste und zweite Strophe sind im umarmenden Reim verfasst (abba;cddc).Das für ein Sonett typische Reimschema ist aber ein umarmender Reim, der sich in der zweiten Strophe fortsetzt (abba; abba). Auch das Reimschema der dritten und vierten Strophe ist untypisch (efg, gef).
Eine weitere Abweichung vom traditionellen Aufbau eines Sonetts ist das Metrum1, das in diesem Fall ein fünfhebiger Trochäus ist. Die meisten Sonette2 haben aber als Metrum einen fünfhebigen Jambus.
Somit entspricht nur der äußere Aufbau, vier Strophen mit jeweils vier und drei Versen, dem traditionellen Aufbau eines Sonetts.
Das Gedicht hat sowohl männliche, als auch weibliche Kadenzen3. In den ersten beiden Strophen entsprechen die Kadenzen dem Reimschema. Der jeweils erste und letzte Vers ist männlich und der zweite und dritte Vers weiblich.
Die Kadenzen des ersten Terzetts sind männlich, weiblich, weiblich und die der letzten Strophe weiblich, männlich, weiblich.
Jede Strophe bildet für sich einen Sinnabschnitt, wobei die erste und zweite Strophe eng miteinander verbunden sind, ebenso wie die dritte und vierte.
Die erste Strophe beschreibt gleich im ersten Vers die Beengtheit in der Stadt. Die Enge wird dem Leser sofort durch den vergleich „nah wie Löcher eines Siebes“ (V.1) bewusst. Auch das erste Wort des Gedichtes, dass Adjektiv „nah“ (V.1), weißt auf Enge hin. Allerdings hat dieses Adjektiv auch positive Konnotationen4, wie zum Beispiel die Nähe und Verbundenheit zwischen zwei Menschen. Somit ist die beschriebene Nähe zunächst noch positiv. Allerdings verliert sich diese positive Wirkung, auf Grund des Vergleiches mit „Löcher(n) eines Siebes“ (V.1). Die dabei hervorgerufenen negativen Konnotationen des Nomen „ Löcher“, wie zum Beispiel Leere und Zerstörung nehmen dem Gedicht den zunächst positiven Eindruck.
Im zweiten Vers zeigt sich dann noch deutlicher, dass die Nähe in dem Gedicht eher Enge ist. Sie bezieh sich nicht auf die Nähe zwischen zwei Menschen, sondern auf Fenster, die sich dicht „beieinander“(V.2) befinden.
Dies lässt den Leser sofort an die riesigen Fensterfronten in den Großstädten denken. Auch der vergleich des ersten Vers bekommt einen neue Bedeutung. Denn auch die Fenster der Hochhäuser wirken wie dunkele „ Löcher“(V.1), hinter denen es nur Leere gibt.
Die Leere und Trostlosigkeit dieser Situation wird besonders durch „nah“(v.1) und „beieinander“(v.2) betont. Diese werden normalerweise im Zusammenhang mit einer menschlichen Beziehung genannt. Der entstandene Eindruck von Beengtheit wird noch im weiteren Verlauf der ersten Strophe verstärk. Denn nicht nur die Fenster, sondern auch die Häuser stehen dicht zusammen. Auch hier unterstreicht die Wortwahl den Eindruck von enge. Besonders die Adjektive W“ drängend“ (V.29 und „ dicht“ (V.3) rufen den Eindruck von Beengtheit hervor. Verstärkt wird dieser Eindruck bei dem Adjektiv „dicht“ (V.3)durch das vorrausgehende Adverb „so“ (V:3). Die Häuser sind extrem dicht aneinander gedrängt und zwar so eng, „Dass die Strassen (…) wie Gewürgte sehn“ (V.3f). Durch die negativen Konnotationen des Wortes „ gewürgte“ (V. 4) wirkt die ganze Situation noch bedrückender. Die Straßen der Stadt sind „ grau geschwollen“ (V.4) und wirken deshalb wie Tote. Um diesen vergleich, der die trostlose Situation noch verstärkt, zu betonen, wird die Alliteration „ grau geschwollen wie Gewürgte“ (V. 4) benutzt.
Die beiden Vergleiche (vgl. V. 1/4) machen das Gedicht lebendiger und realer.
Alles in allem enseht in der ersten Strophe ein sehr negativer Eindruck von der Stadt.
Dies ändert sich aauch in der zweiten Strophen nicht, sondern wird sogar noch verstärkt.
Der erste Vers der zweiten Strophe, „ineinander dicht hineingehakt“ (V.5) betont nochmals sehr stark die Beengtheit, da sämtliche Wörter des ersten Vers auf Enge hinweisen.
Allerdings bezieht er sich in dieser Strophe nicht mehr auf die Häuser, sondern auf die Menschen „ in den Trams“ (V.6). Diese Menschen bilden in der Straßenbahn „ zwei Fassaden“ (V.69, wodurch eine Verbindung zu den Häusern in der ersten Strophe gezogen wird. Außerdem zeigt dies auch, dass die Menschen kein Gesicht haben, sondern nur als Reihe von Menschen wahrgenommen wird. Es wirr kein Unterschied gemacht zwischen den Häusern und den Menschen.
Die Blicke der Menschen sind zugleich „ausladen(d)“ (V.7) und begierig (vgl. V.8). keiner dieser Leute hat das Bedürfnis, auf die anderen zuzugehen und mit ihnen zu kommunizieren, ihre Blicke sind „ausladen(d)“ (V.7).
Auch in dieser Strophe wird die Beengtheit durch die Wortwahl ausgedrückt wie zum Beispiel die Adjektive „eng“(v.7) und „ineinander“ (V.8) zeigen.
Zwischen der zweiten und dritten Strophe gibt es eine Zäsur5. Der Ort der Betrachtung wandert von außen nach innen, in die Häuser und Wohnungen der Städter. Dieser Bruch wird durch den äußeren Aufbau unterstützt, zwischen der zweiten und der dritten Strophe findet der Wechsel von Quartetten zu Terzetten statt.
Auffällig ist auch, dass sich das lyrische Ich erstmals mit zu den Städtern zählt. In der zweiten Strophe spricht es nur von den „ Leute(n)“(V.7). In der dritten Strophe bezieht es sich aber selbst mit ein und steht nicht mehr länger außen vor. Dies zeigt sich durch den gebrauch des Personalpronomen6 „Unsre“ (V.9). Damit schließt es seine Wohnung mit ein, in der die Wände „so dünn“ (V.9) sind. Auch hier, macht der vergleich „ wie Haut“ (V.9) dem Leser klar, wie extrem dünn die Wände wirklich sind. Auch das Adverb „so“ (V.9) betont dies nochmals. Die dünnen Wände haben zur Folge, dass jeder alles hören kann (vgl. V.10) und keine Privatsphäre vorhanden ist. Selbst „flüstern dringt hinüber“ (V.11). Das leiseste Geräusch ist für die Nachbarn vernehmbar „wie Gegröle“ (V.11). Hier verdeutlicht der Vergleich nochmals die extrem dünnen Wände, die flüstern wie Geschreiwirken lassen. Auffällig ist, dass die dritte Strophe statt mit einem Punkt, mit einem Doppelpunkt endet. Dadurch und durch den beginn der vierten Strophe mit der Konjunktion „Und“ (V.12) zeigt sich die enge Verbindung zwischen den beiden Terzetten.
Allerdings wird im ersten Vers der vierten Strophe ein Gegensatz aufgebaut. Durch die Adjektive „stumm“ (v.12) und „abgeschlossner“ (V.12) entsteht ein Gegensatz zur dritten Strophe, da diese Adjektive im Kontrast zu „Gegröle“ (V.11) und „teilnimmt“ (V.10)stehen. In Strophe drei heißt es, dass jeder Teil hat an dem leben der Anderen. Trotzdem lebt jeder für sich in „abgeschlossen(en) Höhle (n)“ (V.12).
Des Weiteren entsteht ein zur dritten Strophe gegenläufiger Eindruck von den Wohnungen der Städter. In der dritten Strophe werden diese als Räume beschrieben, in denen man den anderen ausgeliefert ist und keine Privatsphäre hat. Im Kontrast dazu steht die Darstellung als „Höhle“ (V.12) in der vierten Strophe, die den Eindruck von Geborgenheit und Schutz vermittelt.
Auch die Alliteration im folgenden Vers vermittelt diesen Eindruck („unberührt und ungeschaut“(V.13)). Es wirkt, als wäre jeder ungesehen in seiner Wohnung, die ihm Schutz bietet. Allerdings nur, da die Menschen „fern“ (V.14) voneinander stehen und sich deshalb „ alleine“ (V.14) fühlen. Diese Einsamkeit steht im Kontrast zum zuvor vermittelten Eindruck von Enge und Gedränge und zeigt, dass sich die Städter trotzdem alleine fühlen. Dies lässt sich auch auf die „ausladen(en)“ (V.7) Blicke beziehen. Zwischen den Menschen gibt es keine Verbinddung, deshalb fühlen sie sich trotz nächster Nachbarn einsam.
Besonders hervorgehoben wird diese Einsamkeit Durch den Formalen Aufbau des Gedichtes.
Zunächst einmal betont die vorangestellte Alliteration „fern und fühlt“ (V.14) diesen vers.
Des Weiteren zieht der Kontrast zwischen den Adjektiven „fern“ und „fühlt“ (V.14) und der zuvor vermittelten Enge und Gefühllosigkeit, die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Auch die Ellipse7 (vgl. V.14) und der Doppelpunkt lenken sämtliche Aufmerksamkeit auf das Adjektiv „alleine“ (V.14).
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Gedicht die Einsamkeit der Städter inmitten der Enge und den Menschenmassen betont. Die Bewohner der Stadt wohnen dicht an dicht, hören ihre Nachbarn durch die dünnen Wände und fühlen sich trotzdem alleine und verloren. Um dieses Problem zu verdeutlichen, benutzt der Autor viele vergleiche und Alliterationen8, damit die Leser sich besser in die Lage der Städter hinein versetzen können.
Außerdem spiegelt das Gedicht viele expressionistische Gedanken wieder. So kritisiert es zum Beispiel die Großstädte und die damit verbundene Einsamkeit der Menschen. Auch die Anonymität der Städter, von denen niemand jemand Anderen kennt, ist ein typisches Thema der Expressionisten.
Auch der äußere Aufbau, der stark vom traditionellen Aufbau eines Sonetts abweicht, ist typisch für den Expressionismus.