Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Jahr 1912, dem Entstehungsjahr des vorliegenden Gedichtes, erreicht die Großstadlyrik ihre große Blütezeit im Expressionismus.
Gedichte, die sich mit der Problematik der Großstadt befassen tauchen mit zunehmender Verstädterung und Industrialisierung verstärkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als Folge eines Drangs nach einer Lyrik für und über die „neue Menschheit“ in einer „neuen“ technisierten Welt.
Seit der Entstehung erstmaliger Metropolen, wie London und Paris, spalten sich die Meinungen gewaltig über den neuartigen Lebensraum des Menschen. Diese Ambivalenz zwischen Positiv- und Negativ-Wertungen gilt als Topos der Großstadtlyrik. Während Hebbel und Kleist nach ihren ersten großstädtischen Besuchen von der Qualität des sozialen Miteinanders schwärmen, ekeln sich Heine und Arndt vor einer Überanspruchung des menschlichen Wahrnehmungsapparates.
Typisch expressionistisch schließt sich Alfred Liechtenstein mit „Sonntagnachmittag“ dem gemeinsamen Kampf der Künstler, Dichter und Musiker der expressionistischen Epoche gegen diese verlorene Menschheit an, welche geprägt ist von Gleichgültigkeit, Oberflächlichkeit, Gefühlskälte und Einsamkeit.
All diese Eigenschaften kommen nicht von ungefähr. Sie sind natürliche Abwehrreaktionen, ja sogar Überlebensstrategien gegen die vorhin genannte Überforderung der menschlichen Sinne. Diese wird sich jedoch als schädlicher denn je erweisen, indem sie das Individuum aussterben lässt.
Aufgrund dieser Anpassungsstrategie werden alle Menschen gleich und so kommt es, dass der einzelne Mensch zu einem ständig unbedeutenderem Tropfen einer einzigen, gleichfließenden Strömung wird.
Bedeutende Expressionisten, wie Paul Zech, Paul Boldt, Van Holdi oder Oskar Loerke machen sich dieses traurige Menschheitsbild in der ständig grauen, hässlichen Stadt zur bestimmenden Materie ihrer Werke.
Auch Alfred Lichtenstein versucht seine Umwelt ein klein wenig zu verändern, indem er einen passiven, sozialkritischen Aufruf in „Sonntagnachmittag“ stellt.
Lichtenstein wählt das traditionelle Lied als Gedichtform, auch das Reimschema ist keineswegs modern. Allen vier Strophen liegt ein Kreuzreim zugrunde, verstärkt wird der Lesefluss durch einen jambischen Versfuß.
Das Gedicht lässt eine Einteilung in vier Sinnabschnitte zu, welche jeweils mit den Strophen übereinstimmen. Diese Einteilung beruht primär auf der Erscheinung unterschiedlichster „Protagonisten“.
Während die erste Strophe sich auf das Tier in der Stadt konzentriert, zeigt die zweite Strophe die Beziehung des Menschen zur Stadt.
Indessen beschäftigt sich die dritte Strophe mit der Masse. Dabei ist es hier gleichgültig, ob es sich um Menschen, Tiere oder Objekte handelt.
Die vierte Strophe verläuft nicht mehr eindeutig nach diesem Muster. Wie sich später noch herausstellen wird, bildet sie eher das Fazit aus den vorherigen Strophen.
Wie schon erwähnt, veranschaulicht die erste Strophe das Leben des Tieres in der Stadt. Verstärkt wird dieses Bild durch die Personifizierung der Häuser, welche hier mit tierischen Merkmalen verseht werden. [„Häuserrudel“ (V. 1); „Buckel“ (V. 2)]. Der dritte Vers zeigt nun den grotesken Einfluss des Menschen auf das Tier. Der Pudel ist parfümiert. Hier zeigt Lichtenstein die Absurdität menschlicher Handlungen auf. Auch scheint der Pudel völlig irritiert zu sein. Typisch expressionistisch wird er hier von den verschiedensten Sinneseindrücken überfordert.
Die zweite Strophe beginnt ebenfalls mit einer Schilderung einer menschlichen grotesken Handlung. „In einem Fenster fängt ein Junge Fliegen“. Auch diese Aktion dient ausschließlich der Beschäftigung des Menschen, sie ist ein sinnfreies Spiel. Dieses „spielerische“ wird verstärkt durch die sprachliche Gestaltung in Form eines Stabreimes (V. 5: „Fenster fängt ein Junge Fliegen“).
All diese Handlungen treten simultan auf. Während sich Kinder auf der Erde langweilen und ärgern, erscheint am Himmel ein Flugzeug, hier in Form eines Zuges, welcher „langsam einen dicken Strich“ (V. 8) malt.
Die Veranschaulichung des Flugzeugs macht die Unerfahrenheit der Menschen in der vorhin genannten revolutionär technisierten Welt deutlich. Konträr zu dem Verhalten der Lebewesen, wird dieses Flugzeug hier als etwas überirdisches und mächtigeres dargestellt.
Die Maschine ist der Natur überlegen, trotz windger Wiesen (V. 7) ist dieser Zug stark genug um ihnen entgegen zu wirken.
Mit diesen beiden Versen wird eine äußerst umstrittene Thematik der expressionistischen Großstadtlyrik angerissen. Das Verhältnis zwischen Natur und Technik. Während die Mehrheit der Dichter die Überhand der Industrialisierung kritisiert, so sehen wiederum Großstadtlyriker, wie Julius Hart eben diesen technischen Fortschritt als menschlichen Sieg über die Natur an.
Die dritte Strophe beginnt zunächst mir einer Fortführung der eben dargelegten Thematik.
Der Klang einer Droschkenhufe wird mit dem einer neuartigen Erfindung, der Schreibmaschine verglichen (V. 9).
Nun geht es explizit um das Auftreten der Masse in der Stadt. Präsentiert wird ein „Turnverein“ (V. 10), „Kutscherkneipen“ (V. 11), „Droschkenhufe“ (V. 9). Aus komplett unterschiedlichen Genres stammen die vorgestellten Zielgruppen, doch trotzdem sind sie im Endeffekt alle gleich: laut.
Lichtenstein konzentriert sich in der dritten Strophe sehr stark auf ein Sinnesorgan, das Ohr.
In jedem einzelnen Vers erhalten wir akustisch dynamische Hinweise, wie „klappen“ (V. 9), „lärmend“ (V. 10) oder „brutale Rufe“ (V. 11).
Hier wird ebenfalls ein primärer Kritikpunkt der expressionistischen Epoche deutlich, der Individualitätsverlust. Anstatt die verschiedenen „Protagonisten“ anhand ihrer besonderen und einzigartigen Merkmale zu charakterisieren, würfelt Lichtenstein alle Menschen und Tiere abfällig in einen großen Topf, der nur noch ein Bild einer einzigen Masse darstellt.
Besonders interessant und herausstechend ist der letzte Vers dieser Strophe. Wie ein kurzer Lichtblitz, ja wie ein klitzekleiner Hoffnungsschimmer wirken „feine Glocken“ in dem Gedicht, welches doch bis jetzt konstant von negativ Wertungen der Stadt geprägt ist.
Den sozialkritischen Höhepunkt erreicht das Gedicht eben in diesem zwölften Vers in Kombination mit der letzten Strophe. Die „feinen Glocken“ bekommen hier die Funktion eines Symbols, welches hier auf Religion verweist.
Man beachte auch den Titel „Sonntagnachmittag“. Der Sonntag ist der besonderste Tag der Woche, ein religiöser Tag. Ein Tag an dem Menschen ruhen sollen.
Indem Alfred Lichtenstein jedoch in seinem „Sonntagnachmittag“ das komplette Gegenteil schildert, entblößt er auch noch die Machtlosigkeit der Religion, welche bis dato als ein höherer Sinn der Menschheit galt.
„Gott ist tot“. Nietzsches provozierender Ausruf, sowie Freuds „Psychopathologie des Alltags“ oder aber auch Einsteins „Relativitätstheorie“ starten eine wissenschaftliche Revolution, welche innerhalb von kürzester Zeit bisher undenkbare Fragestellungen in der Raum wirft. Der Sinn des Lebens, das Aussterben der Religion und die Aufhebung der bisher universal einsetzbaren Komponenten Zeit und Raum, sind wichtige Quellen für die Entstehung expressionistischer Kunst.
All diese Denkanstöße werden in Lichtensteins „Sonntagnachmittag“ miteinander verankert. Wenn Religion ein höheres Ziel des Menschenlebens ist, welchen Sinn hat das Leben noch, wenn sie nicht mehr existiert, bzw. kein Einfluss mehr hat? Die Konjunktion „Doch“ (V. 12) und das positive Bildnis der feinen Glocken, welche auf die Menschen eindringen (Vgl: V. 12), lässt den Leser aufmuntern. Dieser hofft nun, dass wenigstens die Religion dieser verlorenen, montonen, absurden Masse noch entgegenwirken kann. Umso härter trifft ihn die traurige Wahrheit, welche der allwissende lyrische Sprecher in der vierten Strophe ausspricht.
Diese resümiert die ersten elf Verse in Form eines Geschehnisses, welches auf den Leser zunächst sehr schockierend wirkt. Lichtenstein lässt es jedoch aussehen, als wäre es eine völlig gewöhnliche Alltagssituation, welche praktisch auch an jedem anderen Sonntagnachmittag in jedem anderen Ort dieser Welt auftauchen kann.
Die Dämmerung tritt ein, alles wird „dunkler schon und ungenau“ (V. 14). Und während all die Menschen ihren Aufgaben nachgehen und Spaß haben, ereignet sich eine Tragödie: „Ein Mann zertrümmert eine morsche Frau“ (V. 16).
Niemanden kümmert es, was mit dem einzelnen Menschen geschieht, denn der einzelne Mensch existiert ohnehin nicht mehr. Das Individuum ist tot. So kommt es, dass die Küchenmädchen, die singen (V. 15) oder die Athleten, die ringen (V. 13) das Leid der Frau nicht erkennen. Wie auch, in der Dämmerung, die doch alles verwischt...
Nur der Leierkasten „heult“ (V. 15) und passt sich der Situation an; das Objekt wird hier in dieser Hinsicht als erfahrener und flexibler als der Mensch selbst dargestellt.
Indem Lichtenstein aufzeigt, wie sehr das Individuum zu einem immer kleinerem Teil einer sich verselbständigenden Gesellschaft wird und wie sich der Mensch auf Grund einer kompletten Umstrukturierung seiner Umwelt verändert und immer tiefer in eine auswegslose Orientierungslosigkeit verfällt, verbündet er hier die prägnantesten Kritikpunkte seiner Epoche.
Er versucht die Menschheit zu verändern und benutzt dabei eine weit verbreitete Strategie, wie sie auch Oskar Loerke in „Blauer Abend in Berlin“ oder Paul Zech in „Fabrikstraße tags“ anwenden.
All diese Gedichte zielen darauf ab beim Leser Mitleid zu erwecken, indem sie ihm die Sinnlosigkeit seiner Existenz vor Augen führen...