Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Am 10. Juli 1914 veröffentlichte der deutsche Schriftsteller Alfred Lichtenstein das Gedicht „Doch kommt ein Krieg“, welches die Vorhersage eines ausbrechenden Krieges beinhaltet und dieses bevorstehende Ereignis mit dessen Folgen für die Bevölkerung näher beschreibt. Aufgrund der zeitlichen Veröffentlichung und der im weiteren Verlauf dieser Interpretation näher erläuterten Thematik lässt sich dieses Werk dem Expressionismus zuordnen, eine von drastischen Veränderungen geprägten Epoche, in welcher die zeitgenössischen Lyriker oftmals das herannahende Weltende thematisierten und diese schockierende Realität schonungslos darstellten.
Interessant zu wissen ist dabei, dass Lichtenstein, welcher am 23. August 1889 in Berlin geboren wurde, nach seinem Studium der Rechtswissenschaft in Berlin und Erlangen 1914 als einjähriger Freiwilliger von München aus zum Kriegseinsatz nach Frankreich zieht, wo er schließlich am 25. September desselben Jahres stirbt. Somit besitzt dieses Gedicht einen stark biografischen Einfluss, sodass zum besseren Verständnis für dieses auf den Ersten Weltkrieg fokussierten lyrischen Werkes im Folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Geschehnisse zu Beginn dieses Krieges geliefert wird.
Die ersten Anfänge sind bereits im späten 19. Jahrhundert zu erkennen, als alle europäischen Großmächte ihr Besitz an Landrechten auf andere Gebiete, auch außerhalb des europäischen Kontinents ausdehnen wollten, wobei erste territoriale Machtspielchen und Vereinbarungen stattfanden (vgl. Imperialismus1). Eine wichtige Rolle wird später außerdem Kaiser Wilhelm II. zuteil, welcher den Reichskanzler Bismarck 1890 entließ. Sah Bismarck Deutschland im Falle eines Kriegsausbruchs zuvor noch als chancenlos an aufgrund der Bedrohung von westlicher (Frankreich) sowie von östlicher (Russland) Seite, so verfolgte Kaiser Wilhelm II. den Plan, Deutschland zu einer Großmacht zu formen. Dafür verlängerte er zunächst den Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht, welcher ein geheimes Neutralitätsabkommen darstellte. So entwickelte sich nach und nach eine Aufrüstung der deutschen Flotte durch den damaligen Kaiser, um seinem eigenen Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“ für das Deutsche Reich gerecht zu werden, sodass durch diese riskante Außenpolitik die europäischen Staaten alarmiert wurden und sich die Staaten auf kriegerische Auseinandersetzungen vorbereiteten. Es bestanden bereits vor dem Ersten Weltkrieg unterschiedliche und ineinander verstrickte Bündnissysteme. Hervorzuheben sind dabei die beiden größten Bündnisse: Zum einen die „Triple Entente“, bis zum ersten Kriegsjahr ursprünglich bestehend aus Frankreich, Russland und Großbritannien, und zum anderen die Achsenmächte (Mittelmächte) mit Deutschland und Österreich- Ungarn. Hierbei sei aber zu erwähnen, dass sich diese Zusammensetzung im weiteren Kriegsverlauf noch um einige weitere Staaten erweiterten. Im Falle eines ausbrechenden Krieges verpflichteten sich die beteiligten Staaten nun zur gegenseitigen Unterstützung ihrer Bündnispartner.
Am 28.06.1914 kam es schließlich zum auslösenden Ereignis, als der österreichisch- ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau bei einem Attentat (auch bekannt als das „Attentat von Sarajevo“) von einem serbischen Studenten ermordet wurden. Die zuvor rein politischen und diplomatischen Konflikte wandelten sich so in eine militärische Auseinandersetzung, wodurch die zuvor verhandelten Bündnissysteme somit nun Inkrafttreten mussten. In der im Monat darauf folgenden sogenannten „Julikrise“ spitzten sich die Ereignisse zwischen den Großmächten sowie Serbien nach dem Attentat in Sarajevo zu, bis es schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam. Und genau während dieser „Julikrise“ veröffentlichte Alfred Lichtenstein am 10. Juli 1914 das hier vorliegende Gedicht.
Es besteht aus nur einer Strophe mit zehn Versen, welche in einem Prosastil angeordnet sind und somit ein wenig bedrückend und gedrungen wirken, zugleich aber auch die Unordnung und Zerstörung der vom lyrischen Ich beschriebenen Umgebung unterstreichen (vgl. V. 6 „Kirchtürme stürzen“, V. 7 „Große Städte krachen“). Auch die parataktische Schreibweise in Verbindung mit den Reflexivpronomen im Dativ (V. 3f., 10) sorgen für eine plötzlich unausweichliche Konfrontation seitens der Leserschaft gegenüber dem inhaltlichen Geschehen. Die Ausdrucksweise „Doch kommt ein Krieg. Zu lange war schon Frieden“ (V. 1) zeigt aber wiederum, dass diese Kriegsthematik gar nicht so fern zu sein scheint aufgrund der bis dato angespannten weltpolitischen Lage und der zunehmenden politischen Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit. Die gegensätzlichen Einstellungen der einzelnen Staaten stehen hier dem Dissens von „Krieg“ (V. 1) und „Frieden“ (V. 1) entgegen. Und auch in den weiteren Versen nutzt Lichtenstein die Wirkung von Gegensätzen, zum Beispiel in dem vierten Vers, in dem er schreibt: „Du frierst in Zelten. Dir ist heiß(...)“. Das Personalpronomen2 „Du“ bezieht sich dabei auf das lyrische Du, bei dem es sich vermutlich um einen Soldaten handelt. In Anbetracht der Tatsache, dass Alfred Lichtenstein selber im Kriegseinsatz kämpfen musste, jedoch erst nachdem er dieses Gedicht veröffentlicht hat, wollte er sich eventuell durch das Verfassen dieses lyrischen Werkes auf die bevorstehende Zeit vorbereiten. Mit der Personifikation3 „Trompeten kreischen(...)“ (V. 2) markiert er dabei den Beginn des Krieges, bei dem die Soldaten oftmals mit lauter Blechmusik, zu der unter anderem auch Trompeten gehören, verabschiedet wurden.
Von diesem Moment an wandelt sich das gesamte Leben, sowohl von den Soldaten selbst als auch von der einfachen Bevölkerung. Es liegen nun schlaflose Nächte (vgl. V. 3 „Und alle Nächte brennen“) und kräfteraubende Tage (vgl. V. 4 „Du hungerst“) vor ihnen. Der Klimax4 von Vers vier bis fünf fasst schließlich das Leiden vieler Personen in wenigen Worten zusammen: Sie sterben auf den Feldern (vgl. V. 5 „Äcker röcheln“) und bleiben dort in den Kriegsgebieten zurück. Selbst der Glaube an Gott kann das Leiden und den Tod nicht aufhalten (vgl. V. 6 „Kirchtürme stürzen“), wodurch es in dieser schwierigen Zeit zu einem starken Verlust des Glaubens in einigen Teilen der Bevölkerung kommt. Diese Skepsis verstärkt sich aber erst hauptsächlich im weiteren Verlauf des Krieges, da zunächst noch von den ranghohen Politikern auf die Unterstützung von Gott hingewiesen wird, „(...) der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“ (Kaiser Wilhelm II. am 01. August 1914 während der Mobilmachung des deutschen Armee). Und diese Bestätigung, während den Auseinandersetzungen nicht auf sich alleine gestellt zu sein, griffen auch zahlreiche Geistliche in ihren Predigten auf („Wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur - gegen die Unkultur. Für die deutsche Gesittung - gegen die Barbarei. Für die freie, an Gott gebundene Persönlichkeit - wider die Instinkte der ungeordneten Massen. Und Gott wird mit unseren gerechten Waffen sein.", so Oberhofprediger Ernst Dryander in einer Predigt im Berliner Dom im August 1914).
Im letzteren Teil des Gedichts arbeitet Alfred Lichtenstein mit der Wirkung von Nähe und Distanz: Durch erste, in der Ferne sichtbare Zeichen besteht vorerst eine große Distanz zwischen dem lyrischen Du und dem Kriegsgeschehen (vgl. V. 8 „Am Horizont steht der Kanonendonner“). Der Neologismus5 „Kanonendonner“ (V. 8) ist als sprachliches Mittel in seiner Form als Wortneuschöpfung ein typisches Kennzeichen expressionistischer Literatur und veranschaulicht vermutlich die gewaltigen Ausmaße der verschiedenen Kriegsgeräte, welche im Betrieb so bedrohlich wirken wie eine unbändige Naturgewalt, der die Menschen total ausgeliefert sind. Auf diese rein hörbare Bedrohung folgt nun als erstes sichtbares Zeichen ein „weißer Dampf“ (V. 9), welcher „rings aus den Hügeln steigt(...)“ (V. 9). Und schließlich befindet sich das lyrische Du mittendrin im Kriegsgefecht, da ihm „(...) zu Häupten (…) die Granaten (platzen)“ (V. 10), wodurch das Gedicht mit dem möglichen Tod des lyrischen Du endet und so alleine schon durch den letzten Vers einen sehr abschreckenden Eindruck hinterlässt.
Denn dieses Ziel wird von Lichtenstein in seinem hier vorliegendem Werk auch zunehmend fokussiert: Durch die ablehnende Haltung gegenüber einem Krieg versucht er, dessen Folgen so stark und einprägsam darzustellen, damit sich alle europäischen Nationen auf eine andere, gewaltfreie Möglichkeit einigen sollten. Denn letztendlich müssen nicht die jeweiligen Regierungen oder die Armeen alleine die Konsequenzen tragen, sondern ganze Völker.