Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht Die Stadt ist von Alfred Lichtenstein und stammt aus dem Jahr 1913. Es gehört in die Epoche des Expressionismus (1910-1920/25), in der die Großstadtthematik eine wichtige Rolle spielte, weil sich im Zuge der Urbanisierung immer mehr Großstädte ausbreiteten. Die Industrialisierung setzte in Deutschland verspätet aber schnell ein, wodurch den Menschen kaum Zeit blieb, sich allmählich an die neuen Lebensformen zu gewöhnen. Zu der noch ungewohnten Konzentration von Menschenmassen kamen neue technische Entwicklungen wie die Eisenbahn und das Automobil. Diese Umwälzungen um die Jahrhundertwende gaben den Menschen teilweise das Gefühl, funktionslos einem verselbständigten, verdinglichten System gegenüberzustehen und einer fremden Macht ausgeliefert zu sein, weshalb es zunächst zu kritischen Tönen in der Literatur kam. Manche versuchten sich durch die künstlerische Produktion vom Druck der Verhältnisse zu befreien. In den expressionistischen Gedichten überwog neben einer gewissen Faszination die skeptische Einstellung zur Stadt und Zivilisation und so wurden vorwiegend deren Schattenseiten hervorgehoben.
Das Gedicht Die Stadt ist in einem fünfhebigen Jambus geschrieben und besteht aus vier Strophen, in denen ein dreifach verschränktes Reimschema der Form ABC ABC verwendet wurde, was kompliziert und ungewöhnlich ist. Im Reihungsstil1 werden unterschiedliche Impressionen festgehalten. Lichtenstein verwendet mehrere Metaphern2 und personifiziert Objekte oder Elemente (Himmel, Stadt), während er die Menschen depersonifiziert, indem er sie mit dem Geräusch „quietschen“ (V. 6) in Verbindung bringt und sie als „Haufen“ bezeichnet (V. 9).
In der ersten Strophe findet sich ein Kontrast zwischen dem Himmel, der für die Natur steht und der Stadt. Der Sprecher vergleicht den Himmel metaphorisch mit einem weißen Vogel, unter dem „hart geduckt“ (V. 2) eine Stadt liegt. Der Himmel wird positiv beschrieben: Das Adjektiv ‚groß‘ lässt Assoziationen an Weite und Freiheit zu, während ein weißer Vogel allgemein mit Frieden und Reinheit in Verbindung gebracht wird. Man kann diese Metapher auch christlich deuten. Die weiße Taube steht im Christentum als Symbol für den Heiligen Geist. Religiöse Anklänge könnten den Eindruck von Trost oder Hoffnung zulassen.
Das positive Eingangsbild wird in der zweiten Zeile verworfen, in der eine Stadt „hart (…) geduckt stiert“ (V. 2). Die Wörter ‚hart‘, ‚geduckt‘ und ‚starren‘ vermitteln den Eindruck von der Enge und Kälte in der Stadt, was mit dem Bild des freien Himmels kontrastiert. Die Stadt wird personifiziert und verhält sich wie ein Mensch, indem sie sich duckt und ängstlich um sich guckt, wodurch das Verhalten der Stadt auf deren Einwohner übertragen werden könnte. Sollte der weiße Vogel als Heiliger Geist gesehen werden, wird er von den Stadtbewohnern nicht als tröstend empfunden. Das paradoxe Verhalten der Menschen spricht für ihre Verblendung: Sie scheinen die Weite und Freiheit der Natur oder die Religion in der Stadt bzw. durch die Stadt zu verkennen nicht mehr richtig wahrzunehmen.
Die Häuser werden als „halbtote alte Leute“ (V. 3) beschrieben, wodurch sich ein Gegensatz zwischen dem reinen, lebendigen Himmel und der schwachen, halbtoten Stadt ergibt. Wie in Alfred Wolfensteins Städter sind die Häuser, die eigentlich ein Heim darstellen, negativ besetzt. Hier verbindet Lichtenstein das Stadtmotiv mit dem Verfallsmotiv. Man hat den Eindruck, dass der Zustand der Häuser wie das Verhalten der Stadt den Zustand der Bewohner widerspiegelt, wodurch die erste Strophe dadurch recht trostlos wirkt.
Zu Beginn der zweiten Strophe wendet sich das lyrische Ich einem „dünne[n] Droschkenschimmel“ zu, der „[g]riesgrämig glotzt“ (V. 4), wodurch erneut das Motiv des Starrens aus der ersten Strophe aufkommt. Die beiden Alliterationen3 betonen die negativen Eindrücke, indem sie den Textfluss leicht ins Stocken bringen. Auch hier klingt das Verfallsmotiv durch und das Pferd wirkt genauso schwach wie die Stadt. Das untätige Nutztier und die Droschke stehen für veraltete Fortbewegungsmittel, die während der Modernisierung und Technisierung überflüssig werden. Am körperlich verwahrlosten Zustand des Tieres kann man erkennen, dass sich die Menschen nicht mehr darum kümmern, sobald sie keinen Nutzen mehr daraus ziehen können, was für ihre Grausamkeit spricht. Der Schimmel steht zum einen für die Vergangenheit, er könnte jedoch auch die ausgeschlossene Natur symbolisieren oder allgemein alles aus der Gesellschaft Ausgeschlossene darstellen. Expressionisten fühlten sich teilweise selbst nicht als integrierte Mitglieder ihrer Gesellschaft und wendeten sich in ihren Texten häufiger den Außenseitern zu, wie Wahnsinnigen, Selbstmördern und Andersartigen.
Die zweite und dritte Zeile beschreiben „Winde, magre Hunde“ (V. 5), die „matt“ (V. 5) rennen und deren Häute an „scharfen Ecken“ (V. 6) quietschen. Die Winde stehen metaphorisch für die Menschen. Während man den Wind allgemein mit Dynamik und Leben assoziiert, wird er hier durch die Begriffe ‚matt‘ und ‚mager‘ ebenfalls mit Schwäche in Verbindung gebracht, wodurch die Schnelllebigkeit in der Stadt kritisiert werden könnte, weil die Stadtbewohner vom gehetzten Stadtleben erschöpft wirken und ihm nicht mehr richtig folgen können. Die Städter werden paradox beschrieben: Zunächst vergleicht der Sprecher sie mit Winden und Hunden. In der nächsten Zeile quietschen jedoch ihre Häute und man denkt an Maschinen, wodurch die erst personifizierten Winde verdinglicht werden. Der Sprecher scheint zu kritisieren, dass die Menschen schon wie ihre technischen Erfindungen geworden sind. Die Wendung „scharfe Ecken“ (V. 6) beschreibt die Stadt erneut negativ.
Während die ersten beiden Strophen den Gegensatz von der Stadt und der Natur verdeutlichen, geht es in den letzten beiden Strophen um das zwischenmenschliche Verhalten der Städter, wodurch man eine inhaltliche Zäsur1 ausmachen kann. „In einer Straße“ (V. 7) leidet ein „Irrer“, der nach seiner Geliebten sucht. Er zeichnet sich im Gegensatz zu den anderen Menschen, die gefühlskalt ein unbrauchbares Pferd hungern lassen, durch Gefühle aus. Doch genau diese Eigenschaft scheint ihn in dieser leblosen, kalten Stadt zum Irren zu machen, weil die anderen ihn nur voll Spott bestaunen. Gefühle scheinen ihnen völlig fremd zu sein und werden unter dem abwertenden Begriff ‚Irrer‘ ausgeschlossen, wodurch dem gefühlvollen Menschen kein Mitleid begegnet, sondern Spott. Die Sehnsucht nach Nähe und Liebe macht diesen Menschen zum Außenseiter der modernen Gesellschaft. Der Irre scheint hier genau die Eigenschaften darzustellen, die in der Großstadt verloren gehen, weshalb er unter der Einsamkeit und Gefühllosigkeit leidet. Das kalte und nutzorientierte Verhalten gegenüber den Tieren spiegelt sich im Umgang mit Außenseitern. Lichtenstein kritisiert die Gesellschaft durch ihr grausames Verhalten und indem er sie abwertend als „Haufen“ bezeichnet (V. 9). Diese Wendung verdeutlicht, dass sich die Städter zu einem uniformen Stadthaufen fügen, in dem Individualität verloren geht, weil sich durch den Drang nach Uniformität alle der Mehrheit anzupassen haben. Lichtenstein könnte an dieser Stelle das wilhelminische Bürgertum kritisieren, was in mehreren expressionistischen Texten der Fall war. Das deutsche Bürgertum war während des 19. Jahrhunderts nach Vietta zu einer staatskonformen Klasse geworden, die sich mit Unterwürfigkeit am Kaiser und an der Aristokratie orientierte, was auch in anderen zeitgeschichtlichen Strömungen kritisiert wurde.
Nach einem flüchtigen Lesen hat man den Eindruck, dass in der letzten Strophe Kinder „Blindekuh“ (V. 10) spielen, wobei sie als „kleine Menschen“ (V. 10) bezeichnet werden, was den Leser aufhorchen lässt. Diese Wendung könnte einerseits dafür stehen, dass sich Kinder in der Großstadt nicht wie Kinder ausleben können, sondern sich nur wie kleine Erwachsene verhalten dürfen. Naheliegender scheint jedoch die Annahme, dass sich die Wendung auf die Städter bezieht, was ihre Beschränktheit abwertend betonen würde. Wenn man das Wort Blindekuh wörtlich nimmt, klingt eine weitere Kritik an den Städtern durch, die blind für ihr falsches Verhalten sind und sich statt Einsicht zu zeigen lieber mit Banalitäten beschäftigen. Sie scheinen den Blick für das Wesentliche in der Stadt verloren zu haben.
Das Gedicht klingt mit einem trostlosen Bild aus, was öfter im Expressionismus der Fall war. Der Nachmittag wird mit einem „sanft verweinte[n] Gott“ (V. 12) verglichen, der auf alles seine „grauen Puderhände“ (V. 11) legt. Die Menschen haben sich in der Stadt schon so sehr sich selbst entfremdet, dass dem Gott nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Stadt in Form des Nachmittags mit seinen grauen Puderhänden abzudecken, die für Wolken oder Industriestaub stehen könnten. Mit dem Gott könnte Lichtenstein wieder am Bild des Heiligen Geists anknüpfen, womit Anfang und Ende verbunden werden. Zugleich wird eine Verbindung zum Irren hergestellt, weil beide den Mangel an Nähe und die Kälte in der Stadt beklagen. Lichtenstein stellt also drei Außenseiter dar: den überflüssig gewordenen Droschkenschimmel, den Irren und den sanften Gott. Alle drei äußern ihr Leid in gesteigerter Form: Der Schimmel durch das grimmige Glotzen, der Irre über sein hoffnungsloses Stöhnen und der sanfte Gott über seine Tränen. In religiöser Hinsicht wird kritisiert, dass die Menschen im Industriezeitalter sich selbst entfremdet haben und es unter ihnen keine Nächstenliebe mehr gibt. Die Einwohner werden äußerst kritisch und düster beschrieben und zeichnen sich durch Grausamkeit, Anonymität, Anpassungszwang und Gefühlskälte aus, worunter Individuen leiden, während sich die konforme Menschenmasse nur um sich selbst kümmert. Darüber hinaus scheinen die Städter derart von ihren neuen technischen Errungenschaften überzeugt zu sein, dass sie mit ihren quietschenden Häuten schon selbst wie Maschinen wirken, worin kritisch der Fortschrittsdrang verdeutlicht werden könnte sowie die Tatsache, dass sie sich zunehmend der Natur entfremdet haben. All das wollen sie verkennen, spielen lieber „Blindekuh“ und verschließen damit metaphorisch die Augen vor ihrer falschen Lebensweise. Die Städter sind also verblendet, genau wie in Der Gott der Stadt von Georg Heym, wo sie einem Götzen huldigen.
Die einzelnen Verse wirken beim erstmaligen Lesen wie eine lose Aneinanderreihung spontaner Sinneseindrücke, lassen sich jedoch bei genauerem Hinschauen formal durch das Reimschema und inhaltlich durch die drei Außenseiterfiguren und die Kritik an den Städtern verknüpfen. Die gesamte Atmosphäre wirkt bedrückend und hoffnungslos. Alfred Lichtensteins kritisches Stadtbild ist typisch expressionistisch. Man findet es auch in Städter von Alfred Wolfenstein, der auch die negativen Veränderungen betont, die den Stadtmenschen betreffen und ein ähnlich düsteres Bild aufzeigt wie Lichtenstein, der die verderblichen Auswirkungen der Stadt auch in Punkt darstellt.