Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Konservative Werte und politische Verhältnisse einerseits, tiefgreifende Veränderungen aufgrund des technischen Fortschritts andererseits – Dieser Gegensatz prägte die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und resultierte vor allem aus der Industrialisierung. Denn aufgrund neuer technischer Möglichkeiten wurden viele großen Fabriken eröffnet und so die Arbeitsplätze von der Landwirtschaft in die Industrie verlagert. Da diese Fabriken meist in Städten zu finden waren, entschlossen sich viele Menschen zur Landflucht und zogen in die immer größer werdenden Städte. Dort herrschten aber ganz andere ungewohnte Lebensverhältnisse, was die Gesellschaft in eine tiefe Orientierungslosigkeit stürzte. Diese Orientierungslosigkeit verbunden mit der Großstadtproblematik ist häufig Thema expressionistischer Literatur. So wird dieses Problem auch in Alfred Liechtensteins Gedicht „Die Stadt“ beleuchtet.
Alfred Liechtenstein stellt in seinem Gedicht „Die Stadt“ aus dem Jahr 1913 die Lebensfeindlichkeit der Stadt und die dadurch entstehenden Probleme der Menschen dar.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit je drei Versen. Das Versmaß ist fast durchgehend ein fünfhebiger Jambus und das Reimschema ist ein verschränkter Reim (abc abc). Die Kadenzen1 treten ebenfalls gleichmäßig auf. Durch diese Regelmäßigkeit wirkt das Gedicht eher ruhig und verdeutlicht so die Resignation des Sprechers gegenüber dem Leben in der Großstadt. Außerdem wird schon bei der Betrachtung der äußeren Form die auch inhaltliche Zäsur2 zwischen der zweiten und dritten Strophe deutlich. Denn jeweils die ersten und letzten beiden Strophen sind aufgrund des Reimschemas miteinander verbunden und auch das Auftreten der Kadenzen verändert sich hier.
Im ersten Vers wird der Himmel über der Stadt dargestellt und somit auf die Natur eingegangen. Durch die Bezeichnung des Himmels als „groß“ (V. 1) wird dessen Weite verdeutlicht und die Natur ästhetisiert. Diese positive Betrachtung wird verstärkt durch den Vergleich des Himmels mit einem „weiße[n] Vogel“ (V. 1). „Weiß“ steht hier für Reinheit und der Vogel, der zusätzlich den Bezug zur Natur verstärkt, für die Freiheit. Außerdem kann mit dem „weiße[n] Vogel“ (V. 1) eine Taube gemeint sein, ein Symbol für den Frieden. So wird im ersten Vers eine ziemlich positive Stimmung erzeugt, die jedoch schon im nächsten Vers zerstört wird. Denn ab dem zweiten Vers wird auf die Großstadt eingegangen, die im Gegensatz zum Himmel und der Natur ziemlich pessimistisch dargestellt wird. Das wird gleich zu Beginn des Verses deutlich, denn schon das erste Wort, „hart“ (V. 2) setzt sich von der Stimmung im ersten Vers ab. Der Himmel und die Stadt werden durch die Worte „unter ihn geduckt“ (V. 2) direkt miteinander in Verbindung gebracht und zeigen, dass die Stadt im Kontrast zum Himmel gedrängt ist. Weiterhin wird hier die Stadt personifiziert dargestellt. Denn die Stadt ist unter dem Himmel „geduckt“ (V. 2) und „stiert“ (V. 2) vor sich hin. Außerdem werden die Gebäude mit „halbtote[n] alte[n] Leute[n]“ (V. 3) verglichen. Die Bewohner der Stadt werden somit nicht direkt erwähnt, die Stadt existiert und „lebt“ für sich allein. Das zeigt, dass sie ein lebensfeindlicher und für Menschen ungeeigneter Ort ist. Jeder Vers in der Strophe stellt einen einzelnen Satz dar. Diese Aneinanderreihung von Sätzen wird als Reihungsstil3 bezeichnet, was ein typisches Mittel im Expressionismus ist. Dadurch wirkt die Strophe relativ unpersönlich und distanziert, was die Betrachtung der Stadt aus der Ferne unterstützt.
Während die erste Strophe die Stadt somit von außen beschreibt, werden in der zweiten Strophe die Lebensbedingungen der Tiere darin dargestellt. Die Situation des „Droschkenschimmels“ (V. 4) und der „Hunde“ (V. 5) wird mit Hilfe vieler negativer Adjektive als schlecht charakterisiert. Dem Pferd geht es so schlecht, dass es „griesgrämig glotzt“ (V. 4), was durch die hier auftretende Alliteration4 verstärkt wird. Sowohl der Schimmel als auch die Hunde haben anscheinend wenig zu Essen, denn sie sind „dünn“ (V. 4) und „mager“ (V. 5). Die Lage der Hunde wird nochmals verdeutlicht durch die Gegenüberstellung der Begriffe „rennen“ (V. 5) und „matt“ (V. 5). Obwohl sie keine Kraft haben, müssen sie sich bewegen und immer weiter machen. Durch die Verwendung des Wortes „quietschen“ (V. 6), was zunächst unpassend erscheint, werden sie eher als Maschine als als Lebewesen dargestellt. Auch wenn hier ebenfalls die Menschen nicht direkt genannt werden, kann man auf das Verhältnis zwischen den Tieren und den Menschen eingehen. Denn bei dem Pferd handelt es sich um einen „Droschkenschimmel“ (V. 4), es muss also für die Menschen hart arbeiten. Trotzdem wird es von ihnen vernachlässigt, denn sie geben ihm nicht genug Nahrung. Da sich die Menschen nicht gut um die Tiere kümmern und es wahrscheinlich auch gar nicht können, wird bereits hier auf die aussichtslose Lage der Menschen angespielt. Auffällig ist außerdem, dass die Tiere vor den Menschen betrachtet werden. Das zeigt, dass die Menschen ebenso wie die Tiere von der Großstadt „gefangen“ sind, sodass kaum ein Unterschied zwischen ihnen besteht.
Verdeutlicht wird die Situation der Menschen in den letzten zwei Strophen, die sich so vom Anfang des Gedichts abgrenzen, denn vorher werden sie nicht direkt erwähnt. Die erste Person, die im Gedicht genannt wird, ist ein „Irrer“ (V. 7) der mit den Problemen in der Großstadt nicht mehr zurückkommt. Er „stöhnt“ (V. 7) nur noch und sucht nach seiner „Geliebte[n]“ (V. 8). Da er es als unwahrscheinlich ansieht, diese zu finden, verwendet er den Konjunktiv. Das stellt die Situation nochmals hoffnungsloser dar und betont die Einsamkeit in der Stadt. Außerdem wird in dem siebten Vers das einzige Mal ein sechshebiger Jambus verwendet, was die Verwirrung des Mannes unterstützt. Durch die Verwendung von direkter Rede wird diese Verzweiflung nochmals lebendiger. Die genannte Einsamkeit und Anonymität entsteht aufgrund des mangelnden Interesses der Bewohner an ihren Mitmenschen. Sie sind bei Problemen nicht für andere da und lassen sie damit alleine. Das wird aus dem Verhalten der anderen Menschen gegenüber dem Irren deutlich, denn sie stehen nur um ihn herum und helfen ihm nicht. Im Gegenteil, sie machen sich sogar über ihn lustig, was gleich durch zwei Wörter, „grinst“ (V. 9) und „Spott“ (V. 9) deutlich gemacht wird. Die Anonymität wird nochmals deutlich durch die Bezeichnung der umstehenden Menschen als „Haufen“ (V. 9). Es sind keine Einzelpersonen, sondern nur eine Masse beliebiger Menschen. Trotzdem erscheint der Irre als menschlich, denn er zeigt seine Gefühle, was durch die Ausrufe „Du“ (V. 7) und „o Geliebte“ (V. 8) gezeigt wird. Dennoch nehmen ihn die Menschen nicht ernst und belustigen sich an der Zurschaustellung seiner Gefühle.
In der letzten Strophe spielen einige Kinder „Blindekuh“ (V. 10). Dieses Spiel, bei dem eine Person mit verbundenen Augen die anderen suchen muss, kann als Symbol für die Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft angesehen werden. Denn so wie die blinde Person herumirrt, sind auch die Menschen in der Umgebung der Großstadt verloren. Das Leben ist dort so gedrängt und die Bewohner sind mit einer solchen Reizüberflutung konfrontiert, dass sie nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen. Gleichzeitig wird die Person mit verbunden Augen, ähnlich wie der Irre in der vorgehenden Strophe, bei der Suche allein gelassen und werden häufig sogar von den anderen ausgelacht. Das zeigt nochmals die Einsamkeit und Anonymität, die das Leben der Menschen bestimmte. Verbunden damit ist die Bezeichnung der spielenden Kinder als „kleine Menschen“ (V. 10). Indem nicht wirklich zwischen Kindern und Erwachsenen unterschieden wird, werden alle Menschen gleichgesetzt und zählen nicht mehr als Individuen. Im vorletzten Vers wird durch die „grauen Puderhände“ (V. 11) auf die Industrialisierung angespielt. Denn der Staub der Fabriken könnte für diesen „grauen Puder“ (V. 11) stehen. Da dieser Staub allgegenwärtig ist und sich „auf alles“ (V. 11) legt, ist auch die Industrialisierung im ganzen Leben der Städter präsent und verantwortlich für viele Probleme. Denn die neuen Fabriken sind gerade der Grund, weshalb die Menschen in die Stadt ziehen, da sie neue Arbeitsplätze schaffen. Dass dies am Nachmittag geschieht, zeigt, dass etwas zu Ende geht und es vielleicht sogar zu einem neuen Aufbruch kommt, wie er von vielen Expressionisten herbeigesehnt wird. Dieses bevorstehende Ende wird durch die Stellung im Gedicht verstärkt, denn es steht im letzten Vers und somit ebenfalls am Ende.
Außerdem wird im letzten Vers auf die Rolle Gottes eingegangen. Er ist „verweint“ (V. 12), was darauf hindeutet, dass selbst Gott über die Lebensbedingungen in der Stadt traurig ist und nicht mehr weiter weiß. Mit „Gott“ (V. 12) endet das Gedicht, was zeigt, dass Gott immer noch „das letzte Wort“ hat und somit Einfluss auf die Menschen. Trotzdem ist der Einfluss der Religion gesunken, denn im ganzen restlichen Gedicht wird nicht auf Gott und den Glauben angespielt.