Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das 1913 von Alfred Lichtenstein geschriebene Gedicht „Die Dämmerung“ wirkt auf den Leser auf den ersten Blick vollkommen unverständlich und zusammenhangslos. Genau diese Verwirrung ist das Ziel des Autors, der in diesem Gedicht eine Momentaufnahme der Abenddämmerung macht. Die konventionelle Form des Gedichts mit 3 Strophen á 4 Versen bestehend aus einem 5hebigen Jambus, der einfache Kreuzreim und die alternierenden Kadenzen1 (beginnend mit männlich) steht im deutlichen Gegensatz zu dem verwirrendem, nicht geordnetem Inhalt. Der Titel „Die Dämmerung“ lässt den Leser ein romantisches Gedicht mit einem schönen Sonnenauf- bzw. untergang erwarten. „Dämmerung“ steht außerdem für den zwielichtigen Teil des Tages, ein Umbruch in eine neue Zeit, eine ungewisse Zukunft und als Scheidepunkt von Tag und Nacht.
Diese Erwartung wird sofort durch den ersten Vers zerstört, da dort beschrieben wird, wie ein „dicker Junge“ (V.1) mit einem Teich spielt. Das ganz und gar unromantische Wort „dick“ zerstört sofort alle romantischen Vorstellungen. Dieser Junge spielt auch nicht in oder an einem Teich, sondern „mit“ (V.1). Dies drückt gleichzeitig die Einsamkeit dieses Jungen aus, der nur den Teich als Spielgefährten besitzt.
Im nächsten Vers wird zusammenhangslos der Wind, ein Symbol der Freiheit und der Natur, von einem „Baum gefangen“ (V.2) genommen. Normalerweise würde sich der Wind höchstens im Baum verfangen oder widerstandslos durch diesen hindurch wehen. Hier wird also wieder die Realität verfremdet.
In den folgenden zwei Versen wird der Himmel, der wieder ein Naturbild darstellt, zu einem Wesen mit menschlichen Eigenschaften degradiert, denn er sieht „verbummelt“ (V.3) und „bleich“ (V.3) aus, aus dem Grund da ihm „die Schminke ausgegangen“ (V.4) ist. Der Himmel, welcher bei der Dämmerung eigentlich rötlich gefärbt sein müsste, sieht also krank und schwach aus. Dies war er aber schon immer, er hat es nur überschminkt. Diese Personifikation2 und Vermenschlichung des Himmels lässt nun die Natur ebenso hässlich erscheinen, wie den am Strophenanfang genannten Jungen.
In den Versen 5 und 6 wird sogleich eine unwirkliche, schwer vorstellbare Situation beschrieben. „Zwei Lahme“ (V.6) sind trotz „langer Krücken schief herabgebückt“ (V.5), was natürlich nicht funktioniert, denn nur bei zu kurzen Krücken steht man „schief herabgebückt“ (V.5). Diese zwei kriechen dann noch „auf dem Feld“ (V.6) und schwatzen dabei. Dies ist ebenso schwer vorstellbar, da man beim Kriechen meist kein Antrieb besitzt viel zu reden.
Im Vers 7 dann wird eine vollkommen unwichtige Aussage getätigt, und zwar dass „Ein blonder Dichter [...] vielleicht verrückt [wird]“ (V.7). Das „vielleicht“ drückt eine Möglichkeit aus, die jedoch genauso falsch sein kann. Das Adjektiv „blond“ besitzt ebenso keine Relevanz. Es ist bloß ein kurzer Eindruck, wie es sein könnte.
Im folgenden Vers stolpert dann ein „Pferdchen […] über eine Dame“ (V.8). Dies ist ebenso eine Verdrehung der Wirklichkeit, denn normalerweise würde höchstens eine Dame mit einem Pferd zusammenstoßen. Das „Pferdchen“ lässt die Situation ebenfalls lächerlich erscheinen durch die Verniedlichung und Verkleinerung des Pferdes. Im darauffolgenden Vers „klebt ein fetter Mann“ (V.9) an einem Fenster, d. h. er starrt aus dem Fenster hinaus. Durch die Wortwahl wird allerdings ein lächerliches Bild erzeugt. Dieser Vers ist eine Steigerung des Vers 1 in vielerlei Hinsicht: Einerseits ist nun ein korpulenterer und älterer Mann das Subjekt, andererseits wirkt die Situation deutlich grotesker. Ebenso verringert sich das Sprachniveau durch das umgangssprachliche „fett“.
Im darauffolgenden Vers will ein „Jüngling […] ein weiches Weib besuchen“ (V.10). Die bewusste Verjüngerung des jungen Mannes lässt ihn kindlich und unerfahren wirken, auch im sexuellen Sinn. Das „weiche Weib“ wirkt dagegen deutlich älter und erfahrener. De Bezeichnung als „weiches Weib“ wird bewusst in der Ähnlichkeit zum umgangssprachlichen „leichten Weib“, also einer Prostituierten, verwendet. Dadurch dass der Jüngling diese Frau nur „besuchen“ (V.10) möchte, wird deutlich, dass es sich höchst wahrscheinlich um einen Bordellbesuch handelt und nicht um eine dauerhafte Beziehung.
Im Vers 11 zieht dann ein „grauer Clown […] sich die Stiefel an“ (V.11). Die Farbe Grau steht im deutlichen Gegensatz zum Bild des Clowns, der immer bunt, fröhlich und jung sich darstellt. Durch die Einfarbigkeit des Erscheinungsbildes wirkt der Clown müde und alt, er zieht dennoch seine Stiefel an, um nocheinmal das Publikum zu unterhalten.
Im letzten Vers wird dann äußerst naiv beschrieben, wie ein „Kinderwagen schreit und Hunde fluchen“ (V.12). Durch die realitätsfremden Wörter wird wieder ein eigentlich normales Bild von einem schreienden Kind und bellenden Hunden verzerrt und verfremdet. Der Autor selbst erklärt, er hätte die Realität ohne Reflexion darstellen wollen, sodass er nur den schreienden Kinderwagen beschrieb. Jedoch ist diese Erklärung äußerst fragwürdig, da er ansonsten im gesamten Gedicht sehr subjektiv beschreibt und wertet, beispielsweise indem er den Jungen „dick“ und den Mann „fett“, oder den Himmel bleich beschreibt. Hier wären bei einem neutralen, nicht reflexierenden Autor neutrale Adjektive wie „weiß“ statt „bleich“ benutzt worden. Er beschreibt dennoch alles äußerst eintönig und uninteressiert, was durch sprachliche Mittel wie einer wiederkehrenden Anapher4 „Ein“ oder dem parallelen, kurzen Aufbau der Sätze deutlich wird. Sein Desinteresse wird auch durch die ständig wechselnden Bilder dargestellt.
Insgesamt ist dieses Gedicht jedoch ein Paradebeispiel für den Zeilen- und Reihenstil, in dem vollkommen unabhängige Sätze aneinander gereiht sind und sich inhaltlich deren Position verändern lässt.
Durch die groteske3 Darstellung dieser unwirklichen Situation lässt dieses Gedicht als surrealistisch jedoch noch durch die subjektive Sicht als expressionistisch beschreiben. Es war somit ein Vorbild für späteres surrealistische Künstler. Andere Interpretationen finden in dem Gedicht keine negativen Stimmungen, die aber deutlich durch negative Wörter wie „dick“, „bleich“, „Lahme“, „verrückt“, „fett“, „grau“, „schreien“ und „fluchen“ ausgedrückt werden. Ebenso werden expressionistische Themen angeschnitten, wenn auch nicht als Hauptinhalt verwendet. Die unwirkliche und häßliche Darstellung der Menschen, die Zivilisationskritik und der Weltuntergang werden durch die Wörter „dick“, „fett“ und „grau“, dem Bordellbesuch des „Jünglings“, der sich damit seine Unerfahrenheit rauben lässt und dem Zeitpunkt Dämmerung (wobei hier Sonnenuntergang gemeint ist) ausgedrückt.
Wenn man vom historischen Kontext aus versucht zu interpretieren kann man sich schnell in eine bedrohliche Vorkriegssituation hineindenken und versucht vieles darauf hinzubiegen, zum Beispiel wird aus dem Clown ein Offizier in Uniform5, der seine Stiefel für den Kampf anzieht oder aus dem Stolpern des Pferdchens wird eine Assoziation eines Schachspiels, dem Kriegsspiel überhaupt. Allerdings lässt sich nicht jeder Vers auf dieses Muster hinbiegen und durch die Selbstinterpretation des Autors lässt sich diese These kaum halten. Es empfiehlt sich also von einer Momentaufnahme auszugehen.