Inhaltsangabe, Vergleich und Interpretation
Das Gedicht aus der Szene „Zwinger“ aus Johann Wolfgang von Goethes Faust thematisiert die tiefe Verzweiflung Gretchens, nachdem sie von Faust geschwängert und verlassen wurde. In ihrer Verzweiflung sucht sie Hilfe und Trost bei Vertrauten und in der Kirche, stößt jedoch überall auf Ablehnung und Ausgrenzung. Aus dieser starken Emotionalität heraus wird Gretchen später ihr neugeborenes Kind ertränken.
Im vorliegenden Textauszug befindet sich Gretchen vor einem Andachtsbild der heiligen Maria zwischen den Häusern der Stadt und der Stadtmauer. Ihre Bitte um Hilfe und Gnade in Form eines Gedichts richtet sich an Maria. Gretchen spricht sie direkt an. Beispielsweise erwähnt sie den Tod „[ihres] Sohnes“ (Vgl. V. 6) und „[ihre] Not“ (Vgl. V. 9). Gretchen vergleicht sich selbst und ihren Schmerz mit Marias Leid. Die Metapher1 „das Schwert im Herzen“ (V. 4) veranschaulicht den hyperbolisch dargestellten Schmerz (Vgl. V. 5) Marias über den Verlust ihres Sohnes, den Gretchen mit dem eigenen Kummer gleichsetzt. Sie appelliert an die heilige Maria, Verständnis für ihr Handeln aufzubringen. Um die enormen Ausmaße des tiefen Schmerzes zu illustrieren, wird dieser personifiziert (Vgl. V. 11f). Ihre rhetorische Frage, wer ihren Schmerz nachempfinden kann (Vgl. V. 10ff), beantwortet Gretchen selbst. Nur die heilige Maria, „nur [sie] allein“ (V. 15) weiß, was Gretchens „armes Herz […] verlanget“ (V. 13f). Die Personifizierung von Gretchens Herz (Vgl. V. 13f) verdeutlicht den tiefen seelischen Schmerz, der die junge Frau beherrscht. Auch die verwendeten Alliterationen2 (Vgl. V. 13ff) illustrieren die verzweifelte Atmosphäre des Gedichts. Besonders deutlich wird der starke Kummer außerdem durch die beiden Repetitio3 in Strophe 5. Gretchen spürt den Kummer deutlich in ihrer Brust und kann nahezu fühlen, wie ihr Herz in ihr zerbricht (Vgl. V. 21). Desweiteren wird die stark emotionale Grundstimmung des Gedichts durch zahlreiche Ausrufe geprägt (z. B. V. 23, V. 30). Das Gedicht setzt sich aus acht unterschiedlich langen Strophen zusammen, wobei die vierte und fünfte Strophe, in denen Gretchens seelischer Zustand am stärksten zur Geltung kommt, mit je sechs Versen am längsten sind. Auffällig ist, dass die erste Strophe des Gedichts am Ende der achten Strophe noch einmal identisch wiederholt wird. Hierdurch wird deutlich, dass Gretchen ihre letzte Hoffnung in die heilige Maria setzt. Einzig durch sie erhofft sie sich Gnade und die Rettung vor dem Tod.
Ähnlich der Länge der unterschiedlichen Strophen ist auch das Reimschema nicht einheitlich. Lediglich in Vers vier bis neun, Vers zehn bis fünfzehn und Vers sechzehn bis einundzwanzig ist das Reimschema einheitlich. Auf einen Paarreim folgt in diesen Teilen immer ein umarmender Reim. Dahingegen weist die siebte Strophe einen Kreuzreim auf, während im restlichen Gedicht nur unregelmäßig vereinzelte Reime vorkommen. Diese Unterschiede in der äußeren Form entsprechen der Unausgeglichenheit Gretchens. Sie ist alleine und kann vor Verzweiflung kaum noch klar denken.
In diesem Gedicht wird Gretchens Persönlichkeit deutlich. Sie ist nicht stark genug, um den Fortgang von Faust und die Einsamkeit nach dem Tod ihrer Mutter zu ertragen. Faust zuliebe hat sich das einst fromme, gläubige Mädchen von ihren Tugenden abgewandt und Sünde auf sich geladen. Blind vor Liebe hat sie ihre Werte aufgegeben und nicht erkannt, dass ihre starken Gefühle nicht im gleichen Maße erwidert wurden. Nun ist sie nicht in der Lage, die Verachtung, die sie als aus der Gesellschaft Ausgestoßene erfährt und die Einsamkeit ohne Freunde und Familie zu ertragen. Auch in der Kirche findet sie keine Hilfe mehr, weshalb ihr einzig und allein ihr Glaube an die Gnade der heiligen Maria bleibt.
In der gewählten Form des Gedichts sowie in zahlreichen rhetorischen Figuren lassen sich Gretchens starke Emotionen besonders gut veranschaulichen. Desweiteren gelingt es Gretchen, ihre Emotionen durch ein Gedicht in Form eines Liedes besser zu verarbeiten. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass der Klang der eigenen Stimme Gretchen beruhigt und sie von der Einsamkeit, in der sie sich befindet, ablenkt.
Goethes Gedicht „Vor Gericht“ handelt von einer Frau, die sich in einer ähnlichen Situation wie Gretchen befindet. Sie trägt ebenfalls ein uneheliches Kind in sich. Im Gegensatz zu Gretchen ist sie sich jedoch keiner Schuld bewusst. Sie bezeichnet sich sogar selbst als „ehrlich Weib“ (V. 4). Desweiteren unterscheidet sich das Verhältnis zu ihrem Kindsvater stark von dem zwischen Gretchen und Faust. Sie ist sich der Liebe und Unterstützung des Geliebten sicher und bewusst, während Gretchen von Faust verlassen wurde und in tiefer Einsamkeit versinkt. Gretchen weiß, dass sie auf sich allein gestellt ist und dass Faust sie nicht unterstützen wird. Desweiteren ist das lyrische Ich in Goethes Gedicht „Vor Gericht“ dazu bereit und stark genug, die Verachtung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft in Kauf zu nehmen und zu ertragen. Dies ist bei Gretchen nicht der Fall. Sie erträgt es nicht, dass alle Welt weiß, dass sie sich von jeglichen Tugenden abgewandt und gesündigt hat. Diese Schande ist für Gretchen nahezu unerträglich, während sich das lyrische Ich im zweiten Gedicht auch vor Gott (Vgl. V. 14) nicht als Sünderin betrachtet. Es möchte von gesellschaftlichen oder kirchlichen Werten nichts wissen. Für dieses lyrische Ich zählt nur die Liebe. Desweiteren ist es fest entschlossen, sein Kind auszutragen und es zu beschützen. Dahingegen haben gesellschaftliche und kirchliche Normen für Gretchen den höchsten Stellenwert. Die öffentliche Verachtung und das Bewusstsein der Sünde treiben Gretchen dazu, ihr eigenes neugeborenes Kind zu ertränken. Sie schafft es nicht, dem Druck der Öffentlichkeit und ihrem eigenen Gewissen standzuhalten. Im Gegensatz zu Gretchen ist das lyrische Ich in Goethes Gedicht „Vor Gericht“ sehr selbstbewusst. Es lebt nach seinen eigenen Vorstellungen und interessiert sich nicht für die Meinung anderer beziehungsweise für die der Mehrheit. Es glaubt an sich und an die Liebe und ist bereit, sein uneheliches Kind auszutragen und großzuziehen. Gretchen ist es dahingegen nicht möglich, diese selbstsichere und optimistische Einstellung zu teilen. Sie wurde ihr ganzes Leben lang streng christlich erzogen. Religiöse Werte und ein tugendhaftes Leben wurden demnach schon seit der Kindheit in Gretchen verankert und haben daher den höchsten Stellenwert für sie. Desweiteren ist die junge Frau streng gläubig und sehr fromm. Gott bedeutet für sie die oberste Macht, weshalb ein gottgewolltes Leben von enormer Bedeutung für sie ist. Indem sie sich auf Faust einlässt, verstößt Gretchen jedoch gegen alle erdenklichen christlichen und gesellschaftlichen Normen und lädt somit, nach ihrem Werteverständnis, große Schuld auf sich. Außerdem beinhaltet ihr religiöses Verständnis das Jüngste Gericht und die Bestrafung von Sündern im Fegefeuer. Gretchen ist sich ihrer enormen Schuld also durchaus bewusst und fürchtet somit die zu erwartenden Konsequenzen. Folglich kann sie die optimistische Einstellung des lyrischen Ichs aus Goethes Gedicht „Vor Gericht“, für das christliche oder gesellschaftliche Normen keine große Rolle spielen, keineswegs teilen.