Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das offene Drama „Faust. Der Tragödie erster Teil“, verfasst von Johann Wolfang von Goethe, erschienen 1808, stellt das Lebenswerk Goethes dar, welches dieser erst nach 35 Jahren Arbeit fertiggestellt hat.
Aufgrund der langen Entstehungsgeschichte der Tragödie ist es nicht möglich, diese einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Je nach Betrachtungsweise weist das Drama allerdings Merkmale der Epochen „Sturm und Drang“, „Weimarer Klassik“ und „Romantik“ auf.
Auch lassen sich wesentliche Aspekte der Aufklärung erkennen.
Thematisch befasst sich „Faust 1“ mit der Hin- und Heugerissenheit des Universalgelehrten Heinrich Faust, der sich im Zwiespalt zwischen Geistlichkeit und Weltlichkeit befindet und nach metaphysischer, transzendentaler Erkenntnis strebt.
Darüber hinaus werden auch die Gedanken vom Schöpferkult und vom Universalgenie thematisiert, welche typisch für die Aufklärer, zu denen Goethe gehörte, waren.
Eine wichtige Rolle in dem Drama spielt das versuchte Gefühl der Begrenzung und das damit verbundene Bedürfnis der Befriedigung. Dieses sogenannte „emotio“ (Gefühl) steht jedoch dem „ratio“, dem Erkenntnisdrang Fausts, gegenüber. Diese zunächst unvereinbar scheinenden Denkens- und Handlungsgrundlagen werden in der Persönlichkeit Fausts gegenübergestellt und zu vereinen versucht.
Fausts unstillbare Wissbegierde wird in der späteren Handlung die Grundlage dafür, dass der
Gelehrte einen Pakt mit dem Teufel Mephistopheles schließt, der mit Faust wettet, dass er seine Strebsamkeit beenden kann. Faust geht auf den Pakt ein. Faust steht von vornherein als Sieger fest, was jedoch erst im zweiten Teil der Tragödie, in „Faust 2“, vollends bestätigt wird.
Die vorliegende Szene „Zwinger“ erstreckt sich von Vers 3587 bis Vers 3619 und geht somit nur über eine einzige Seite.
Vorhergehend hatte Gretchen in einem Gespräch mit Lieschen in der Szene „Am Brunnen“ (V. 3544-V.3586) ihr nahendes Schicksal erkannt. Sie deutete ihre Schwangerschaft und ihre damit verbundene soziale Ausgrenzung an. Weiterführend wird angedeutet, dass Faust Gretchen nicht zu seiner Frau nehmen wird und sie somit nicht vor ihrem Schicksal retten kann.
Die Szene „Zwinger“ dient dazu, Gretchens Schmerz zu verdeutlichen. Mit der Liebesnacht hat sie ihr eigenes Schicksal unabwendbar besiegelt. In dem Raum zwischen der inneren und äußeren Stadtmauer, dem sogenannten Zwinger, kann das junge Mädchen unbeobachtet ihre Gefühle offenbaren. Zudem findet Gretchen in dieser Szene ihren starken Bezug zur Religion wieder, der nach der Liebesnacht mit Faust ein wenig in den Hintergrund gerückt war.
Die Regieanweisungen zu Beginn der Szene beschreiben die Umgebung Gretchens als „Mauerhöhle“ und vermitteln ein Gefühl von Enge. Auch Gretchen ist inzwischen in die Enge gedrängt, da sie ihren „Tabubruch“, den sie in der Liebesnacht mit Faust begangen hatte, nicht mehr rückgängig machen kann. Infolgedessen empfindet sie starke Reue. So spricht die praktizierende Katholikin im Zwinger zu dem Andachtsbild der Mater Dolorosa (Regieanweisung). Die Mater Dolorosa fungiert im religiösen Sinne als Symbol des Schmerzes, da sie um ihren gekreuzigten Sohn Jesus Christus trauert und infolgedessen von Schmerz und Verzweiflung geprägt ist. Jene Gefühle prägen auch Gretchen angesichts ihres bevorstehenden Schicksals, über das sich das Mädchen nun im Klaren ist. Somit empfindet sie die heilige Figur als Trost. Zu Beginn der Szene wird in den Regieanweisungen beschrieben, dass Gretchen der Mater Dolorosa einen frischen Blumenstrauß hinstellt. Der anschließende Szenentext ist in der Form eines Gebetes verfasst.
Das Gebet des jungen Mädchens beginnt mit einer Bitte um Hilfe an die Mutter des Schmerzes, die ihm in Angesicht seiner Not helfen solle (Vgl. V. 3587). Weiterführend nutzt das Mädchen die Metapher2 „Das Schwert im Herzen“ (V. 3590) um die Trauer und der Mater Dolorosa bildhaft zu beschreiben. Das Schwert gilt allgemeine als heiliges Attribut und Symbol für die Teilung und ein scharfes Durchtrennen. Aus dieser Sichtweise kann man das Schwert auch als Symbol für die Trennung von Faust und Gretchen verstehen, da die Beziehung des Gelehrten und der Katholikin keine Zukunft hat. Faust möchte das Mädchen nicht zur Frau nehmen und Gretchen stellt ihren Glaube über ihre sexuelle Begierde, dadurch wird eine Beziehung der beiden aussichtslos. Margarete spricht die heilige Jungfrau Maria während der gesamten Szene direkt an. So beschreibt sie, dass die Mater Dolorosa „mit tausend Schmerzen“ auf den Tod ihres Sohnes blicke (Vgl. V. 3591 f.). Auch Margaretes Dasein ist in dieser Szene von Schmerzen geprägt und diese trägt sie mit der Hyperbel3 „tausend Schmerzen“ (V. 3591) nach außen. Sie durchlebt denselben Schmerz wie die Mutter Jesus’. Und genau wie die Mater Dolorosa sucht sie Hilfe und Beistand bei Gott. Jenes verdeutlicht Gretchen mit den Worten „Zum Vater blickst du,/ Und Seufzer schickt du/ Hinauf um sein’ und deine Not“ (Vgl. V. 3593 f.). Margarete fühlt sich von der heiligen Maria verstanden. Was ihr „armes Herz […] banget, [w]as es zittert [und] was [es] verlanget“ (V. 3599) weiß nur die Mutter des Schmerzes allein. Diese hat ihren Sohn verloren und Gretchen ihren Geliebten und, was für die praktizierende Katholikin noch schlimmer zu sein scheint, auch ihre Unschuld. Somit hat Gretchen gegen ihre Glaubensgrundsätze verstoßen und hat nun Angst, dass ihr Gott ihr nicht verzeiht und sie nach ihrem Tod in die Hölle kommt.
Sprach Margarete vorhergehend die Gottesmutter direkt an, beginnt sie ab Vers 3602 über ihr eigenes Leid zu sprechen. Ihre innere Not verdeutlicht sie mit der Alliteration4 und Repetitio5 „Wie weh, wie weh, wie wehe“ (V. 3603), welche gleichzeitig als Klimax6 verstanden werden kann. Dabei liegt der Schwerpunkt der Betonung auf dem Buchstaben W, der in Vers 3606 erneut aufgegriffen wird. Hier wird ebenfalls eine Repetitio der Phrase „Ich wein, ich wein, ich weine“ verwendet. Die W-Schlüsselwort fungieren hiermit als Ausdruck der schweren Verzweiflung Gretchens. Weiterführend verdeutlicht das junge Mädchen durch den Ausdruck „Das Herz zerbricht in mir“, dass die Harmonie, in der sie vor ihrem Treffen mit dem Universalgelehrten lebte, endgültig zerstört zu sein scheint. Das Herz fungiert in dieser Aussage nicht nur als Metapher für die Liebe, sondern auch als der metaphorische Platz der Harmonie, die vorhergehend Gretchens Leben prägte. Diese ist nun irreversibel zerstört, was Gretchen inzwischen erkannt hat.
Anknüpfend an diese Erkenntnis, beschreibt sie die metaphorischen Scherben, die vor ihrem Fenster liegen (Vgl. V. 3608) als Symbol für den Verlust ihrer Werte und das Zusammenbrechen ihrer Welt in Anbetracht ihres nahenden Todes. Anschließend daran wird das schon aus „Garten“ bekannte Zeichen der Unschuld, die Blume, in dieser Szene erneut aufgegriffen als Margarete der Figur der Mater Dolorosa einen Blumenstrauß hinstellt, welchen sie zuvor beweint hatte (Vgl. V. 3612). In diesem Fall fungieren die Blumen als Verbindungselement zwischen der Heiligen und der jungen Christin. Sie sucht die Verbindung zu der Gottesmutter, da sie sich von dieser verstanden fühlt und bei ihr Zuflucht finden kann. Gretchens Trauer ist so tief gehend, dass sie bereits in aller Frühe aufgrund ihrer Trauer aufwachte (Vgl. V. 3612 f.) und dabei nicht einmal die Sonne, die allgemein als Symbol für Entwicklung gilt, ihr Trost spenden kann. Eine Entwicklung zum Besseren kann sich Gretchen nicht mehr erhoffen und dessen ist sie sich bewusst.
Das gesprochene Gebet schließt Gretchen mit dem Ausruf „Hilf! Rette mich von Schmach und Tod!“ (V. 3616), welcher ihre Verzweiflung abermals prägnant akzentuiert. Sie wiederholt die Verse, mit denen sie ihr Gebet zuvor begonnen hatte (Vgl. V. 3587 f. und V. 3617 f.) und betont ihr eigenes Leid somit repetitiv.
Die Funktion des Gebetes der Christin ist die Bitte um Hilfe und Rettung vor dem Tod (Vgl. V. 3615-3619) durch die Mater Dolorosa. Die Szene Zwinger verdeutlicht, dass Margarete realisiert hat, dass sie jene Rettung von Faust nicht erwarten kann. Somit dient die Szene „Zwinger“ als ein Einblick in die Gefühlswelt der Protagonistin in Anbetracht ihres nahenden Schicksals, das in dieser Szene angedeutet wird. Die Szene verdeutlicht somit, dass es für Gretchen keine Rettung mehr geben kann und dass ihr Schicksal unabwendbar besiegelt ist.