Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
1870 verfasste Ada Christen das Gedicht Abendbild, ein Gedicht aus der Epoche des Realismus.
Das Gedicht beschreibt eine Abendlandschaft und die beruhigende Wirkung dieser auf das lyrische Ich. Die eintönige Landschaft am Abend weicht beim Auftreten von Wind und Nebel einer mystischen, beruhigenden Landschaft, die die Schönheit der Natur wieder spiegelt und zugleich als Sinnbild des menschlichen Lebens zu sehen ist. Die schlechten Momente und Zustände im Leben bleiben nicht für immer, sondern verschwinden im Laufe der Zeit.
In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich eine öde und einsame Landschaft. In Strophe 2 wird eine Veränderung durch einen auftauchenden Nebel beschrieben. Im Gegensatz zu Strophe 1 werden in Strophe 3 und 4 schöne Beschreibungen der Landschaft herangezogen. Wind und Nebel bringen in Strophe 3 eine beruhigende und abkühlende Wirkung mit sich. Schlussendlich wird in Strophe 4 die Landschaft erneuert beschrieben. Im Gegensatz zur ersten Strophe sind nun Geräusche vorhanden und die Landschaft wird nicht als eintönig, sondern durch das silberne Mondlicht verändert wahrgenommen.
Das Gedicht besteht aus 4 Strophen mit jeweils 4 Versen. Alle Verse des Gedichtes unterliegen einem vierhebigen-Trochäus, der aufgrund der abwechselnden Hebungen und Senkungen eine beruhigende und fallende Wirkung hat. Weiterhin zieht sich ein Kreuzreim durch das Gedicht, wobei sich jeweils nur die geraden Verse innerhalb einer Strophe reimen. Diese Verse weisen ebenfalls eine männliche Kadenz auf und werden damit stärker betont. Die übrigen Verse besitzen weibliche Kadenzen1 und reimen sich nicht, sie bleiben daher unbetont. Der Satzbau ist am Anfang des Gedichtes parataktisch und weist keine Enjambements2 auf. Strophe 2, 3 und 4 beinhalten mehrere Enjambements (vgl. V. 5-6. V. 9-10 und V. 13-14) und weisen einen hypotaktischen Satzbau auf. Der Kreuzreim, die alternierenden Kadenzen, die regelmäßige Struktur und der gleichmäßige Trochäus erzeugen einen gleichmäßigen Eindruck des Gedichtes. Trotz der Unterschiede im Satzbau wirkt das Gedicht somit einheitlich.
Die Form des Gedichtes besitzt einen wichtigen Deutungsaspekt: Die zunehmende Anzahl an Enjambements steht bildlich für die zunehmende Veränderung der Natur und des Lebens und betont damit die Vergänglichkeit und Veränderlichkeit der Natur und des Lebens. Die alternierenden Kadenzen, der Kreuzreim und der Trochäus verweisen ebenfalls auf die Dynamik in der Natur und im Leben. Der Fokus liegt hier jedoch auf den Hoch- und Tiefpunkten um zu zeigen, dass es sowohl schöne als auch schlechte Momente und Szenarien auf der Welt gibt.
In einer bildhaften Sprache vermittelt das Gedicht zunächst einen tristen Eindruck der Natur: Die Welt wird als „grau“ (V. 1) dargestellt. Die Farbmetapher3, die zudem als Anapher4 im Gedicht auftaucht (vgl. V. 1 u. 2) betont die Eintönigkeit in der Welt. Die Welt wird ohne Emotionen wahrgenommen und ist farblos. Ausgelöst wird die Farblosigkeit durch die Nacht, die langsam hereinbricht. Es wird eine hoffnungslose Atmosphäre vermittelt, erkennbar an Adjektiven wie „grau“ (V. 1), „dürre“ (V. 2) und „träge“ (V. 8). Verstärkt wird diese pessimistische Sichtweise durch das Adjektiv „weite“ (V. 2), das das scheinbar endlose Leid hervorhebt, und durch einen Parallelismus in Vers 1 und 2. Die „Leblosigkeit“ reicht bis zum Horizont, der Ort an dem sich „Himmel“ (V. 1) und „Erde“ (V. 1) treffen. Der Himmel und die Erde stehen bildlich für zwei Gegensätze: Die Erde dient als Bild der Beständigkeit und Vergänglichkeit und der Himmel als Bild der Ewigkeit und Unerreichbarkeit. Auch die Sonne als lebensnotwendiger „Erwärmer“ der Erde, wird in Vers 3 negativ dargestellt, da er die „Sträucher“ (V. 3) in der Natur durch seine Hitze verbrennt. Sträucher sind Pflanzen, die relativ niedrig wachsen. Das niedrige Wachstum steht damit metaphorisch für die geringen Hoffnungen in der Sichtweise des lyrischen Ichs. Weiterhin wird der Flug von Vögeln, eigentlich ein Symbol der Unabhängigkeit und Freiheit, in Vers 12 als erschöpfend dargestellt. Damit wird auch die Freiheit mit negativen Eigenschaften verbunden.
Die negative, depressive Grundhaltung des lyrischen Ichs bleibt aber nicht bestehen. Bereits in Strophe 1 werden Hinweise auf eine mögliche Veränderung deutlich. Der „[heiße] Sand“ (V. 4) wird zunächst mit einer negativen Eigenschaft der Sonne verglichen, stellt jedoch beim genaueren Betrachten ein Symbol für den Verlauf der Zeit dar. Der Horizont, der zuvor als Bild der Hoffnungslosigkeit gesehen wurde, wird vom lyrischen Ich in Strophe 2 als Bild der Hoffnung betrachtet (vgl. V. 5). Es bildet sich „Abendnebel“ (V. 6). Im Gegensatz zu den vorigen Objekten, wird dieser mit positiv konnotierten Eigenschaften wie „dünn“ (V. 6) und „leicht“ (V. 6) beschrieben. Der Nebel stellt damit einen starken Kontrast zur eigentlichen Darstellung der Welt dar. Nebel wird oft mit negativen Eigenschaften wie Orientierungslosigkeit und Verlusten assoziiert, wodurch der positiv beschriebene Abendnebel besonders betont wird. Auch in Vers 7 wird die Farbmetapher „Grau“ verwendet. In Verbindung mit dem „feuchten“ (V. 7) Nebel wird deutlich, dass die Farbe Grau nicht negativ gemeint ist. Sie stellt stattdessen die wahrgenommene Farbe des Nebels durch die Dunkelheit dar. Das Adjektiv feucht wird mit Wasser verbunden und steht damit der in Strophe 1 beschriebenen Hitze gegenüber. Damit verdeutlicht der Abendnebel die eintretende Veränderung.
In Strophe 3 und 4 wird die Veränderung in der Natur konkretisiert. Das „Lüftchen“ (V. 9) bringt Abkühlung und Entspannung mit sich. Der Wind ist ein Symbol für Veränderung und unterstreicht die durch den Nebel bereits angedeutete Umwandlung der Natur. Mittels eines Vergleiches in Vers 10 wird der Wind beschrieben: Er ist frei von negativen Eigenschaften und ist wie der „Athemzug eines schlafumfang´nen Kindes“ (V. 10). Der Wind weist keine bösen Absichten auf, sondern besitzt die Aufgabe eine schöne Veränderung zu bringen. Das erschöpfende Fliegen der „Vögel“ (V. 12) wird durch den kühlenden Wind gehemmt. Er erleichtert die schwere Tätigkeit und bringt damit Ruhe und Entspannung vorbei. Der Wind wird damit als aktiv-handelnd dargestellt und damit personifiziert. Nach dem Auftauchen des Nebels und des Windes entsteht ein „geheimes Flüstern“ (V. 14). Damit wird die in der ersten Strophe aufgezeigte Einsamkeit durchbrochen, das lyrische Ich ist nicht mehr einsam. Durch die Adjektive „still“ (V. 13), „[geheim]“ (V. 14) und „[l]eise“ (V. 15) wird eine mystische und magische Atmosphäre erschaffen. Diese ähnelt viel mehr der Beschreibung einer Märchenwelt als der Darstellung einer „schlechten“ Welt. Der zuvor „[schwarze] Sumpf“ (V. 1) wird mit Mondlicht durchflutet und wirkt damit weniger düster. Anstelle der Farbmetapher
Grau wird in der letzten Strophe die Farbmetapher Silber (vgl. 15) in Kombination mit dem Mondlicht (vgl. V. 16) verwendet. Die Umwandlung der Natur ist nun komplett: Die negativen Eigenschaften sind verschwunden und durch schöne Eigenschaften ersetzt worden. Die im letzten Vers angesprochene Spiegelung des Mondlichts (vgl. V. 16) verweist auf die Reflexion des lyrischen Ichs.
Insgesamt ist zu sagen, dass die Deutungshypothese bestätigt wurde, sich aber ergänzen lässt. Die zunächst triste Beschreibung der Natur wird am Ende des Gedichtes durch eine schöne, magische Beschreibung ersetzt. Das lyrische Ich verändert aktiv seine innere Einstellung und nimmt die Natur in derselben Situation ganz anders wahr. Abhängig ist die Wahrnehmung der Realität damit nicht von der eigentlichen Realität, sondern von der Sichtweise des Betrachters. Diesen Aspekt verdeutlicht auch der Titel „Abendbild“. Ein Bild lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten und besitzt damit verschiedene Betrachtungsweisen.
Ein weiterer Deutungsaspekt des Gedichtes ist die Vergänglichkeit des Lebens. Mit dem Sand, dem Nebel und dem Wind als Symbole der Veränderung spielt das Gedicht an die Vergänglichkeit des Lebens an. Diese Vergänglichkeit wird zudem durch die Erde als Bild der Vergänglichkeit unterstützt. Das menschliche Leben ist geprägt von Höhen und Tiefen. Es folgt ein Höhepunkt auf einen Tiefpunkt und nach einem Tiefpunkt folgt ein neuer Höhepunkt. Das menschliche Leben und die Veränderungen in der Natur sind damit veränderlich und dynamisch.
Das Gedicht ist der Epoche des Realismus zuzuordnen, die historisch im Zeitraum von 1850 bis 1900 einzuordnen ist. Typisch ist für diese Epoche, das die Dichter in ihren Werke die Wirklichkeit realistisch beschrieben haben. Dies ist auch im Gedicht „Abendbild“ der Fall. Zum Beispiel wird die Landschaft farblich beschrieben. Hierbei ist anzumerken, dass es das Ziel der Dichter war, die ungeschminkte Realität abzubilden und gleichzeitig die Welt so darzustellen, wie sie sein könnte. Sie stellten also eine mögliche Realität dar. Dieser Aspekt ist ebenfalls im Gedicht „Abendbild“ vorhanden, da die Welt nicht als eindeutig, sondern als mehrdeutig aufgezeigt wird. Die wahrgenommene Realität ist dabei von den Betrachtern und ihren Vorstellungen abhängig.