Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Der Glaube an Gott ist ein Motiv das sich durch die Geschichte zieht wie kein anderes. Auch in der Literatur macht sich dies bemerkbar. Doch der Glaube an Gott hat sich stark verändert. Die Wissenschaft und Philosophie der letzten Jahrhunderte hat den Gottesglauben langsam ins Wanken gebracht. In schwierigen Situationen sucht der Mensch Halt. Im Barock fanden die Menschen diesen noch in Gott, welcher ihnen Hoffnung gab. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts sagt man „Gott ist tot“. Psychoanalyse und Evolutionstheorie haben die Glaubensdoktrin schwer geschädigt.
Andreas Gryphius, dessen Werk 1650 entstand und den Namen „Abend“ trägt beschäftigt sich mit dem Glauben an Gott und der Hoffnung auf Erlösung in der Zeit des Barock, in welcher die Pest wütete und der 30 Jährige Krieg die Menschen belastete. Das lyrische Ich möchte nicht mehr auf der Welt bleiben, welche von Unheil geprägt ist. Es sieht in Gott die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits. In Else-Lasker Schülers „Weltende“ aus dem Jahr 1903 scheint es hingegen so als ob „Gott gestorben wär“ (V.2). Sie beschreibt ein traurige Welt, in welcher das Leben und die Sehnsucht verborgen sind. Ihr lyrisches Ich spürt jedoch die Sehnsucht nach der Welt, doch muss sie diese mit dem Leben bezahlen (vgl.V.9-10). Das Gedicht welches den Anfängen des Expressionismus zuzuordnen ist, entstand in einer von politischen und sozialen Unruhen geprägten Welt, in welcher Wissenschaft die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod minimiert hat.
Beide Gedichte beziehen sich in gewisser Weise auf die Wirkung Gottes in ihrer Welt, doch inwiefern ähneln oder unterscheiden sich diese und wie ähnlich oder verschieden sind die Lebensgefühle der Menschen in den Entstehungszeiten der Gedichte?
Bei Andreas Gryphius‘ ,;Abend“ handelt es sich um ein klassisches Sonett1, welches aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht. In den Quartetten findet man einen umarmenden Reim mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen2. Die Rhythmik die durch die wechselnden Kadenzen entsteht wird durch das Metrum3 verstärkt, bei welchem es sich um einen sechshebigen Jambus handelt. Der fortschreitende, vorantreibende Rhythmus verdeutlicht das Motiv des schnell sich nahenden Todes und der unaufhörlich voranschreitenden Vergänglichkeit.
Bereits die erste Strophe beginnt direkt mit dem Gegensatzpaar, „Tag“ (V.1) und „Nacht“ (V.1), mit welche typisch für die Symbolik des Barocks für Leben und Tod stehen. „Der schnelle Tag ist hin“ (V.1) meint in dieser Deutung das schnell vergangene Leben. Nun schwingt die Nacht die Fahne (vgl.V.1) was das Kommen des Todes symbolisiert. Die Menschen verlassen die Arbeit, welche durch „Feld und Werk“ (V.3) symbolisiert wird. Die Tautologie4 „Tier und Vögel“ (V.3), welche das Feld verlassen haben, vermittelt einen Eindruck des Verlassen seins und der „Einsamkeit“ (V.4). Die Interjektion5 am Ende des vierten Verses drückt die Ansicht des lyrischen Ichs aus, die Zeit ist für es vertan (vgl.V.4). Die Zeit in welcher Menschen auf dem Feld arbeiteten und Vögel und Tiere es umgaben ist vorbei und war für das lyrische Ich „vertan“ (V.4).
Strophe zwei schließt an Strophe eins an und beschreibt weiter das Vergehen des Leben und das Nahen des Todes. „Der Port“ (V.5) nähert sich „mehr und mehr […] zu der Glieder Kahn“ (V.5), wobei der Port oder auch Hafen allegorisch für ein Ziel steht, was nach dem Tod erreicht werden kann. Dieses Symbol vermittelt einen weniger düsteren Eindruck vom nahenden Tod. Es stellt den Tod und das was danach kommt, mehr als eine Art Ziel dar. Der Kahn kommt nach Zeit auf See endlich in den ruhigen Hafen. Es ist ein Ankommen, ein zur Ruhe kommen nach einer langen Reise, welche zwar nicht genannt wird, aber das Leben darstellt. „Dies Leben“ (V.8) kommt dem lyrischen Ich wie „eine Renne-Bahn“ (V.8) vor. Alles geht schnell und hastig und kommt erst im Hafen zur Ruhe. Besonders in Vers 7 erkennt das lyrische Ich sehr deutlich die Vergänglichkeit des Lebens. Die Erkenntnis, dass alles „was man hat‘, und was man sieht hinfahren“ (V.7) wird, ist ein gutes Beispiel für das damalige Motiv des „Memento mori“, der Erkenntnis der Vergänglichkeit aller Dinge.
In der dritten Strophe kommt dann erstmals das Konzept Gottes zum Ausdruck. Das lyrische Ich ruft Gott an, es „nicht auf dem Laufplatz gleiten“ (V.9) zu lassen. Der Laufplatz könnte symbolisch für das Leben stehen, von welchem es sich die Loslösung wünscht. Das lyrische Ich wendet sich somit mit dem Wunsch an Gott, vom Leben befreit zu werden, also zu sterben. Dieser Wunsch lässt auch auf die Vorstellung vom Tod in der Zeit des Barock, als etwas erlösendes schleißen. Das lyrische Ich möchte sich nicht weiter von irdischen Zwängen, wie „Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten“ (V.10) lassen, sondern die Gegenwart Gottes in Form seines „ewig-hellen Glanz[es]“ (V.11) vor und neben ihm spüren (vgl.V.10). Gott scheint damit für das lyrische Ich wie ein Erretter zu gelten.
In Strophe vier wird erstmals die Symbolik des Titels wieder aufgenommen. Gott soll das lyrische Ich aus „dem Tal der Finsternis“ (V.14) zu ihm reißen, wenn der „Tag wird mit [dem lyrischen Ich] Abend machen“ (V.13). Der Abend steht somit für den Moment in welchem „der müde Leib erschläfft“ (V.12) und die Seele wacht (vgl.V.12), womit metaphorisch der Moment des Verscheidens, des Sterbens gemeint ist. Damit ist auch die Symbolik des Titels entschlüsselt, womit man nun weiß das Gryphius in dem Gedicht den Vorgang des Sterbens beschreibt. Im Sterben hofft das lyrische Ich auf eine Errettung durch Gott, welcher es zu sich reißen soll (vgl.V.14). Die Tatsache, dass das Leben, aus welchem das lyrische Ich errettet werden soll durch das „Tal der Finsternis“ (V.14) symbolisiert ist, gibt einen Einblick in die Sicht auf das Leben, in der Zeit des Barock, welche durch Pest, den 30 Jährigen Krieg und politische Instabilität geprägt wurde.
Gryphius beschreibt die Vorstellung des lyrischen Ichs vom Leben und vom Tod mit einer lebhaften, schaurigen Symbolik und Metaphorik. Der „Abend“(siehe Titel), also das Sterben, wird als ankommen in einem Hafen beschrieben, es ist für das lyrische Ich das Erreichen eines Zieles, das zur Ruhe kommen nach einer Reise, auf welche das lyrische Ich zurückblickt und feststellt „Wie ist die Zeit vertan!“ (V.4). Es bittet Gott um die Errettung aus dem Leben und der Loslösung vom Irdischen. Dieser Wunsch und Glaube an das Erreichen des schönen Jenseits nach dem Tod, geht auf die im Barock vorherrschende Vorstellung eines Gottes und eines Lebens nach dem Tod zurück. Diese Existenz eines Jenseits veranlasst das lyrische Ich auf die Errettung aus dem finsteren Tal des Lebens (vgl.V.14) zu hoffen. Das Leben wird in diesem Gedicht generell eher negativ dargestellt. Das Motiv des „Memento mori“, welches typisch für den Barock ist, wird besonders in den ersten beiden Strophen verarbeitet, in welchen das lyrische Ich die Vergänglichkeit von allem was man hat und was man sieht erkennt (vgl.V.7). Diese Vergänglichkeit, welche vom lyrischen Ich als schlecht wahrgenommen wird steht somit gegen die Ewigkeit des Glanzes Gottes (vgl.V.11). Die Leben, welches Vergänglichkeit bedeutet ist vertane Zeit und das lyrische Ich sieht im Sterben, die Erlösung in die Ewigkeit heraus aus der Tristesse des Lebens.
Else Lasker-Schüler beschreibt in ihrem Gedicht so wie Gryphius das Leben in der Welt und die Möglichkeiten der Ausflucht. Das lyrische Ich beschreibt seine gegenwertige Umwelt sehr trist. „Es ist ein Weinen in der Welt“ (V.1). Dieser Ausdruck vermittelt die Trauer und Hilflosigkeit die das lyrische Ich um sich herum erkennt. Es gleicht dem einer Welt, in der „der liebe Gott“ (V.2) gestorben ist. Diese Abwesenheit von Gott liefert das lyrische Ich dem bleiernen Schatten aus, womit das Elend und das Schlechte allgemein beschrieben ist. Auf Gott können die Menschen nicht mehr hoffen und so suchen sie anders die Ausflucht aus dem Elend. Das lyrische Ich sucht diese in der menschlichen Nähe. Es will sich „näher verbergen“ (V.5) vor dem Schlechten in der Welt. Das Leben an sich ist nicht mehr da, die Menschen tragen es nur noch in sich, in ihrem Herzen aber tragen es nicht nach Außen, es liegt „wie in Särgen“ (V.7). Doch das lyrische Ich spürt die Sehnsucht in sich, die Sehnsucht nach der Welt und dem Leben in der Welt. Diese Sehnsucht möchte sie in tiefen Küssen verwirklichen (vgl.V.8) Doch diese Sehnsucht ist es am Ende die dem lyrischen Ich den Tod bringt.
Ganz gegensätzlich zu Gryphius erkennt Lasker-Schülers lyrisches Ich die Ausweglosigkeit des Gottglaubens an. Sie sucht den Ausweg aus dem Leiden in der zwischenmenschlichen Nähe. In ihrem Gedicht wird bereits im Titel das Motiv des Weltendes aufgeführt. Auf dieses scheint sich die Welt zuzubewegen. Gott ist gestorben, welcher als bisher stets als Ausweg galt. Mit „Ein[em] Weinen“ (V.1) charakterisiert die Autorin die Menschen in dieser Welt. Statt zu leben liegt das Leben in Särgen. Und selbst an der Sehnsucht nach der Welt wird das lyrische Ich nun sterben müssen. Die von Lasker-Schüler beschriebene Welt nähert sich dem Ende zu. Dieses Weltende und das Eintreten dessen wird sogar durch das Fallen eines bleiernen Schattens beschrieben. Alle Ausflüchte sind genommen oder wurden besser gesagt vom Menschen selbst genommen. Das Gedicht beschreibt auf treffende Weise die Gefühle und die Situation der Menschen im Jahr 1905. Der Tot Gottes, welcher die Verneinung des Gottglaubens meint, ist durch Wissenschaft und Technik in dieser Zeit entstanden. Entzauberung der Realität durch die Wissenschaft und insbesondere die Entschlüsselung der Psyche durch Freud, aber auch die Evolutionstheorie Darwins welche die göttliche Schöpfung widerlegt, tragen zum Verfall und zur Infragestellung eines Gottes bei. Die Welt in dieser Zeit ist durch Industrialisierung und Urbanisierung geprägt. Städte sind voller Menschen und die Umwelt wird Opfer der stetig fortschreitenden Industrie. In dieser Welt welche kurz vor dem Zusammenbruch steht setzt Else Lasker-Schüler ihr lyrisches Ich. Die einzige Mögliche Ausflucht aus der damaligen Welt ist in den Augen des lyrischen Ichs und wahrscheinlich auch in den Augen der Verfasserin, die Flucht in die Zweisamkeit.
Wenn man nun beide Gedichte vergleicht fallen einem Parallelen, aber auch deutliche Gegensätze auf. Wo sich die beiden Gedichte in dem Motiv des Elends in der Welt noch ähneln, unterscheiden sie sich massiv in der Darstellung der Gottesbeziehung. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind dabei besonders auf die Lebensgefühle der Menschen in der Zeit der Entstehung der Gedichte zurückzuführen. Wenn man sich die allgemeinen Situationen der Menschen in der Zeit von Andreas Gryphius und der von Else Lasker-Schüler anschaut, scheinen sich beide besonders in einem Punkt zu ähneln, die Wahrnehmung des Elends in der Welt. In der Zeit von Gryphius prägen politische Instabilität, aber auch die Pest, die wohl schwerste Krise dieser Zeit, die Lebenslage der Menschen. Es existiert offensichtlich eine große Menge Leid in der Bevölkerung. In der Zeit des Expressionismus in welcher „Weltende“ entstand, hatten die Menschen dagegen mit anderen Problemen zu kämpfen. Industrialisierung, extreme Armut welche mit der Urbanisierung einhergeht und die massive gesellschaftliche Segmentierung. Auch hier ist das Leben Vieler von Leid geprägt. Menschen leben auf engstem Raum, die Straßen in den Städten sind schmutzig und es existieren starke Klassenunterschiede in der Gesellschaft. Der Unterschied zwischen beiden ist besonders, dass in der Zeit Else Lasker-Schülers, besonders der Fortschritt treibende Kraft des Elends ist. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den Gedichten im Gesamten aber auch der Bevölkerung ist die Beziehung zu Gott. In der Zeit von Andreas Gryphius, der Zeit des Barocks, existiert ein starker Glaube an Gott und damit auch ein Leben nach dem Tod. Dies wird in „Abend“ besonders deutlich. Es ist auch sogleich seine Art auf das Elend seiner Zeit zu reagieren. Die Besinnung auf die Existenz Gottes ist für die Menschen damals wichtig, da es in gewisser Weise eine Hoffnung auf ein besseres Leben, wenn auch nach dem Tod bot. Diese Hoffnung und generell der Glaube an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod sind bei Lasker-Schüler nicht mehr vorhanden. Sie beschreibt sogar explizit deren scheinbare Abwesenheit in der Welt (vgl.V.2). Doch im Vergleich zueinander sind sich die Darstellungen der ursprünglichen Gottesbeziehungen der Menschen gar nicht so verschieden. Auch Else Lasker-Schüler beschreibt Gott indirekt als mögliche Hoffnung in dem sie offenbart das eben diese nicht mehr da ist. Damit wird auch erst offensichtlich in welchem Punkt der Unterschied in der Gottesbeziehung wirklich besteht. Die Hoffnung die die Menschen zurzeit von Andreas Gryphius in Gott hatten, diese hat sich der Mensch im Jahr 1905 bereits durch wissenschaftlichen Fortschritt und eine Rationalisierung der Welt selbst genommen. Damit stellt man am Ende sogar fest das der Fortschritt des Menschen am Ende zum, von Else Lasker-Schüler beschriebenen „Weltende“ führt.