Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der vorliegende Text „Abend“ ist ein Sonett1, das von Andreas Gryphius 1650 ediert wurde und aufgrund des typischen Motivs „momento mori“ eindeutig dem Zeitalter des Barocks zuzuordnen ist. Das lyrische Ich beschreibt hier sehr eindringlich, wie schnell sich das Leben dem Ende, einem erlösenden Tod, zuneigt.
Der formale Aufbau des Gedichtes hält sich, wie beinahe alle Barockgedichte, sehr genau an das von Martin Opitz vorgegebene Regelwerk zum Dichten. Nach dem typischen Schema des Sonetts ist der Text in 2 Quartette und 2 Terzette eingeteilt. Die beiden Quartette bilden jeweils einen umarmenden Reim, der durch den Wechsel von männlichen und weiblichen Kadenzen2 noch unterstrichen wird. In den beiden Terzetten liegt ein strophenübergreifender Schweifreim vor. Durch das Metrum3 des sechhebigen Jambus, auch Alexanderiner genannt, entsteht ein gleichmäßiger Rhythmus, der unaufhörlich fortschreitet, wie die Vergänglichkeit selbst.
Das erste Quartett beginnt zugleich mit einer Synekdoche4, der Entsprechung „Tag“ und „Nacht“ (V. 1), die hier symbolisch für das Leben und den Tod eingesetzt wurden. Der „schnelle Tag“/ das Leben ist nun vorbei und die „Nacht“/ der Tod ist gekommen. Die Menschen, die mittels einer Alliteration5 als „müde“ (V. 2) bezeichnet werden, verlassen in „Scharen“ (V. 2) „Feld und Werk“ (V. 2), die hier symbolisch für Arbeit und Leben stehen. Selbst die Tiere und Vögel, die hier durch eine Tautologie6 (Doppelaussage) aufgeführt werden, sind von der Welt gegangen und nur noch die „Einsamkeit“, die durch das Verb trauern personifiziert wurde, ist geblieben (V. 4). Durch den Ausruf „Wie ist die Zeit verthan!“ (V. 4) fasst Gryphius die Hauptaussage des 1. Quartetts, die schnell fortschreitende Vergänglichkeit allen Irdischen zusammen. Durch mehrere Enjambements7 wird diese Schnelligkeit zusätzlich unterstrichen.
Das zweite Quartett widmet Gryphius nun sehr ausführlich dem erlösenden Tod, der hier übertragen mit dem sich nähernden „Port“ (Hafen) (V. 1) beschrieben wird. Die Menschen werden hier entsprechend dem „Port“ mit „glieder Kahn“ dargestellt. Der Hafen könnte hier symbolisch für die Sicherheit und die Ruhe nach dem Sturm, dem Leben, durch den das Schiff gefahren/ der Mensch gegangen ist stehen. Hiermit wird der typische Barockgedanke des Todes als etwas Positives, Paradiesisches besonders hervorgehoben. Die nächsten beiden Verse, die durch einen Enjambement verbunden sind erläutern, dass alles („Ich/ du/ und [alles] was man hat“) sich diesem Hafen/ dem Tod nähert und diesen schon binnen weniger Jahre erreichen soll. Gryphius spricht hier den Leser direkt durch das Personalpronomen8 „du“ an. Mit seiner eigenen Ansicht über die Schnelligkeit des Lebens, die hier als „reine bahn“ (V. 8) erläutert, beendet er das 2. Quartett.
Die beiden Terzette bilden nun durch den Imperativ „Laß“ einen Appell, der jedoch nicht an den Leser, sondern an Gott gerichtet ist. Vers 9 und 10 sind dabei durch eine Anapher9 („Laß“ (V9 10) verbunden. Gryphius bittet Gott, ihn nicht „auff dem Lauffplatz gleiten“ zu lassen, was symbolisch dafür stehen könnte, dass das lyrische Ich sich wünscht, endlich in den erlösenden Tod zu gehen. Er wünscht sich, nicht von „Angst, Pracht und Lust“ verleitet zu werden (V. 10) und Gottes hellen Glanz stets vor und neben ihm zu spüren (V. 11). Das zweite Terzett, das nur äußerlich von dem ersten getrennt ist, führt den Appell an Gott nahtlos fort. Durch die Antithese10 „der müde Leib entschläfft/ die Seele wachen“ (V. 12), die mit einem Paradoxon11 verbunden ist, fordert er Gott auf, nach dem Tod, wenn sein „müde[r] Leib entschläfft“ (V. 12) seinen Geist im Jenseits „wachen“ zu lassen. Vers 13 „Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen“ schafft nun erstmals eine direkte Verbindung zu dem Titel des Gedichts. Es wird deutlich, dass der „Abend“ des Gedichtes den „Lebensabend“, die letzten Tage des menschlichen Lebens symbolisiert. Der Imperativ des onomatopoetischen Wortes „reiß[en]“ (V. 14) leitet den letzten Appell des lyrischen Ichs an Gott ein. Es bittet, sobald seine Zeit, sein (Lebens-)Abend, gekommen ist, (endlich) „auß dem thal der Finsternis“ (V. 14) „gerissen“ zu werden. Durch die Metapher12 „thal der Finsternis“, die symbolisch für die Welt und das Leben steht, macht er zum Ende des Gedichtes nocheinmal die negative Haltung der Menschen gegenüber dem Leben und allem Irdischen zur Zeit des Barocks deutlich.
Gryphius beschreibt in seinem Gedicht „Abend“ sehr eindringlich die Schnelligkeit des barock-typischen „Vanitas- und memento-mori“-Gedanken die Vergänglichkeit alles Irdischen. Der „sichere Hafen“ („Port“ (V. 5)), der als Symbol für den Tod eingesetzt wurde, steht zugleich auch als Leitmotiv im Vordergrund. In der heutigen Zeit sind diese Gedanken sehr untypisch und veraltet, die Barocklyrik richtet sich dahingegen sehr eindringlich nach diesen Schlagwörtern, die durch viele metaphorische Ausdrücke immer wieder neu zur Geltung kommen, was dem Barock einen sehr eigenen Charme verleiht.